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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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wirkt, der thut eine größere That, als wer die Wissenschaft an einem fern
liegenden Punkte fördert, ohne jede Rückwirkung auf das Gesamtwohl, nur
dem Interesse weniger dienend, mag auch des erstern geistige Arbeit an sich
hinter der des andern zurückstehen. Die glänzende Stellung der Naturwissen¬
schaften rührt nicht daher, daß sie uns die Erkenntnis der Dinge um uns
aufschließen, sondern weil sie dein Menschen die Mittel an die Hand geben,
sich dieser Erkenntnis zu seinem Heile zu bedienen, sei es durch Ertötung des
finstern und unserm Zusammenleben schädlich entgegenwirkenden Aberglaubens,
sei es durch die wirtschaftliche Ausnutzung der im Weltall verborgenen Kräfte.
Die jüngsten medizinischen Großthaten unsers Jahrhunderts erscheinen uicht
deshalb so phänomenal, weil sie uns über die nähere Beschaffenheit der
schlimmsten und unheilvollsten Mächte, die unserm Organismus Gefahr drohen,
aufklären, fondern weil sie dadurch die Hoffnung erwecken, diese wirksam be¬
kämpfen zu können. Die Kriegswissenschaft nimmt in unserm Reiche eine so hohe
Stelle ein, weil die ganze Sicherheit der Nation auf unsrer Kriegsmacht beruht.
So sollte auch die klassische Philologie bei ihrer Arbeit sich dessen bewußt
sein, daß sie der Mitwelt ein Gesamtbild der antiken Kultur oder eines Teiles
derselben vermitteln soll zu deren geistigem Nutzen und Gewinn. Hierzu sind
freilich viele Kräfte erforderlich, und eine Arbeitsteilung erweist sich als un¬
umgänglich, nur hat diese seit einiger Zeit so gewaltige Ausdehnung ange¬
nommen, daß der Einzelne häufig gar nicht mehr überlegt, ob seine Leistung
eigentlich für deu Gesamtbau von Nutzen sei. Wenn einer Bausteine irgend¬
wohin karren wollte, wo gar nicht gebaut werden soll, würde man sein Thun
mit Recht als unsinnig bezeichnen, aber in der Philologie werden die gleich-
giltigsten Dinge untersucht, und je unwichtiger die Sache ist, für um so
bedeutender wird sie oft gehalten. Das zeigen uns fo manche mit ungenügenden
Mitteln unternommene oder auf unwesentliche Dinge sich erstreckende Quellen-
untersuchungen -- um auf diesem Gebiete wirklich bedeutungsvolle Ergebnisse
zu erzielen, dazu gehören bedeutende Gesichtspunkte und ein umfassender
Blick --, die massenhaften Beiträge zum Sprachgebrauch der Schriftsteller,
auch wenn es sich nur um eine Präposition handelt, und andre Erscheinungen.
Ein eignes Vergnügen gewährte es uns jüngst, von einem "hervorragenden
Forscher auf dem ut-Gebiet" zu lesen -- gedruckt, schwarz auf weiß. Ein
andrer Übelstand, der sich äußerst fühlbar macht, ist der, daß die Kritik der
dichterischen Texte, eine Hauptaufgabe der philologischen Wissenschaft, nicht
einmal immer von Forschern ausgeübt wird, die genügendes poetisches Ver¬
ständnis haben. Daher ist eine Masse dahin gehender Arbeiten von vornherein
Makulatur. Dies gilt von dem nicht geringsten Teile der Forschungen über
die Entstehung der Homerischen Gedichte, von vielem, was über Horaz und
andre geschrieben worden ist. Ein großer Teil der hierauf verwandten Zeit
wäre besser mit Straßenkehren oder Schneefegen ausgefüllt worden. Trotzdem


wirkt, der thut eine größere That, als wer die Wissenschaft an einem fern
liegenden Punkte fördert, ohne jede Rückwirkung auf das Gesamtwohl, nur
dem Interesse weniger dienend, mag auch des erstern geistige Arbeit an sich
hinter der des andern zurückstehen. Die glänzende Stellung der Naturwissen¬
schaften rührt nicht daher, daß sie uns die Erkenntnis der Dinge um uns
aufschließen, sondern weil sie dein Menschen die Mittel an die Hand geben,
sich dieser Erkenntnis zu seinem Heile zu bedienen, sei es durch Ertötung des
finstern und unserm Zusammenleben schädlich entgegenwirkenden Aberglaubens,
sei es durch die wirtschaftliche Ausnutzung der im Weltall verborgenen Kräfte.
Die jüngsten medizinischen Großthaten unsers Jahrhunderts erscheinen uicht
deshalb so phänomenal, weil sie uns über die nähere Beschaffenheit der
schlimmsten und unheilvollsten Mächte, die unserm Organismus Gefahr drohen,
aufklären, fondern weil sie dadurch die Hoffnung erwecken, diese wirksam be¬
kämpfen zu können. Die Kriegswissenschaft nimmt in unserm Reiche eine so hohe
Stelle ein, weil die ganze Sicherheit der Nation auf unsrer Kriegsmacht beruht.
So sollte auch die klassische Philologie bei ihrer Arbeit sich dessen bewußt
sein, daß sie der Mitwelt ein Gesamtbild der antiken Kultur oder eines Teiles
derselben vermitteln soll zu deren geistigem Nutzen und Gewinn. Hierzu sind
freilich viele Kräfte erforderlich, und eine Arbeitsteilung erweist sich als un¬
umgänglich, nur hat diese seit einiger Zeit so gewaltige Ausdehnung ange¬
nommen, daß der Einzelne häufig gar nicht mehr überlegt, ob seine Leistung
eigentlich für deu Gesamtbau von Nutzen sei. Wenn einer Bausteine irgend¬
wohin karren wollte, wo gar nicht gebaut werden soll, würde man sein Thun
mit Recht als unsinnig bezeichnen, aber in der Philologie werden die gleich-
giltigsten Dinge untersucht, und je unwichtiger die Sache ist, für um so
bedeutender wird sie oft gehalten. Das zeigen uns fo manche mit ungenügenden
Mitteln unternommene oder auf unwesentliche Dinge sich erstreckende Quellen-
untersuchungen — um auf diesem Gebiete wirklich bedeutungsvolle Ergebnisse
zu erzielen, dazu gehören bedeutende Gesichtspunkte und ein umfassender
Blick —, die massenhaften Beiträge zum Sprachgebrauch der Schriftsteller,
auch wenn es sich nur um eine Präposition handelt, und andre Erscheinungen.
Ein eignes Vergnügen gewährte es uns jüngst, von einem „hervorragenden
Forscher auf dem ut-Gebiet" zu lesen — gedruckt, schwarz auf weiß. Ein
andrer Übelstand, der sich äußerst fühlbar macht, ist der, daß die Kritik der
dichterischen Texte, eine Hauptaufgabe der philologischen Wissenschaft, nicht
einmal immer von Forschern ausgeübt wird, die genügendes poetisches Ver¬
ständnis haben. Daher ist eine Masse dahin gehender Arbeiten von vornherein
Makulatur. Dies gilt von dem nicht geringsten Teile der Forschungen über
die Entstehung der Homerischen Gedichte, von vielem, was über Horaz und
andre geschrieben worden ist. Ein großer Teil der hierauf verwandten Zeit
wäre besser mit Straßenkehren oder Schneefegen ausgefüllt worden. Trotzdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/180>, abgerufen am 23.07.2024.