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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Bedeutung der alten Klassiker für die Schule mit großem Nachdruck verkündet
wird, für übertrieben, so z. V. den Satz, daß man sich mit ihnen beschäftigen
müsse, um die "Kulturbedeutuug" der Alten kennen zu lernen, oder nur sich eine
"edle menschliche Bildung" anzueignen, und ähnliches. Von der wirklichen Wich¬
tigkeit der Antike für die gesamte Kultur der gebildeten Welt erfährt der
Primaner nicht allzuviel, jedenfalls uicht so viel, daß ihm dies nicht in kürzerer
Zeit beigebracht werden könnte, als es jetzt geschieht, geschweige denn so viel,
als sich der Philologe im Laufe der Jahre angeeignet hat, der dann, weil er
es selbst weiß, zu glauben Pflegt, der Gymnasiast wisse es auch. Auch die
Bildung zu edlem Menschentum, die Erweckung von Edelsinn und allen männ¬
lichen Tugenden ist uicht in dem Grade von der Kenntnis der griechischen
und römischen Schriftsteller abhängig, als uns mancher begeisterte Philologe
glauben machen möchte. Um Tapferkeit und Vaterlandsliebe zu erwecken,
brauchen wir Marathon und Salamis nicht, wir haben unsre eignen Freiheits¬
kriege. Ja wer an die vielgerühmten Helden der hellenischen Vorzeit den
kritischen Maßstab anlegen wollte, fände vielleicht an manchen der edelsten etwas
auszusetzen, das uus hindern könnte, sie der Jugend als Muster vorzuführen.
Man denke an den "edeln Dulder" Odysseus, der im elften Buch der Ilias
-- es rührt freilich nicht von dem "göttlichen" Homer selbst her -- uns als
Urheber einer hinterlistig ins Werk gesetzten Greuelszene entgegentritt, und dessen
erstes Beginnen bei seinem Erwachen in Ithaka darin besteht, daß er die mit¬
gebrachten Schätze zählt, ob ihm auch keine gestohlen worden seien, kein sehr
heroenhafter und wenigstens der Mehrzahl unter uns kein sympathischer Zug.
Auch mit der edeln menschlichen Bildung, die man sich allein durch die Griechen
und Römer erwerben soll, steht es nicht so ganz sicher. Man müßte dann
doch annehmen, daß die Philologen, die sich ja am meisten mit den Alten
beschäftigen, auch den meisten Gewinn aus ihnen zögen, daß es also auf der
ganze" Erde keine Humaueren, gerechteren, bescheidneren, uneigennützigeren, kurz
menschlich edler gebildeten Männer gebe als die klassischen Philologen. Gewiß
trifft das auf viele von ihnen zu, aber daß mau es gerade von ihnen im
allgemeinen gegenüber andern Verufskreiseu uicht sagen kann, das beweist unter
anderm schon der so häufig ganz ohne Grund geräuschvolle und gehässige Ton
ihrer Polemik, wie er namentlich in den Schriften der Jüngern zu herrschen
pflegt. Man mag das "Frische und Lebendigkeit der Darstellung," "Schärfe
in der Beweisführung" oder wie man sonst will, nennen, im Sinne eines
Platon ist solcher Stil wahrlich nicht, und menschlich edel ist er auch uicht.
Es ist ja berechtigt, wein: sich ein hämisch angegriffner seiner Haut wehrt.
Dann sind sogar nach echter deutscher Art Keulenschläge bisweilen an ihrem
Platze. Aber die selbstgefällige Überhebung, die der soliden Arbeit Andrer
verschiedner Meinung oder kleiner Versehen halber den Rang aberkennen
will, das aufdringliche Poltern nicht nur gegen die Mittelmäßigkeit, sondern


Bedeutung der alten Klassiker für die Schule mit großem Nachdruck verkündet
wird, für übertrieben, so z. V. den Satz, daß man sich mit ihnen beschäftigen
müsse, um die „Kulturbedeutuug" der Alten kennen zu lernen, oder nur sich eine
„edle menschliche Bildung" anzueignen, und ähnliches. Von der wirklichen Wich¬
tigkeit der Antike für die gesamte Kultur der gebildeten Welt erfährt der
Primaner nicht allzuviel, jedenfalls uicht so viel, daß ihm dies nicht in kürzerer
Zeit beigebracht werden könnte, als es jetzt geschieht, geschweige denn so viel,
als sich der Philologe im Laufe der Jahre angeeignet hat, der dann, weil er
es selbst weiß, zu glauben Pflegt, der Gymnasiast wisse es auch. Auch die
Bildung zu edlem Menschentum, die Erweckung von Edelsinn und allen männ¬
lichen Tugenden ist uicht in dem Grade von der Kenntnis der griechischen
und römischen Schriftsteller abhängig, als uns mancher begeisterte Philologe
glauben machen möchte. Um Tapferkeit und Vaterlandsliebe zu erwecken,
brauchen wir Marathon und Salamis nicht, wir haben unsre eignen Freiheits¬
kriege. Ja wer an die vielgerühmten Helden der hellenischen Vorzeit den
kritischen Maßstab anlegen wollte, fände vielleicht an manchen der edelsten etwas
auszusetzen, das uus hindern könnte, sie der Jugend als Muster vorzuführen.
Man denke an den „edeln Dulder" Odysseus, der im elften Buch der Ilias
— es rührt freilich nicht von dem „göttlichen" Homer selbst her — uns als
Urheber einer hinterlistig ins Werk gesetzten Greuelszene entgegentritt, und dessen
erstes Beginnen bei seinem Erwachen in Ithaka darin besteht, daß er die mit¬
gebrachten Schätze zählt, ob ihm auch keine gestohlen worden seien, kein sehr
heroenhafter und wenigstens der Mehrzahl unter uns kein sympathischer Zug.
Auch mit der edeln menschlichen Bildung, die man sich allein durch die Griechen
und Römer erwerben soll, steht es nicht so ganz sicher. Man müßte dann
doch annehmen, daß die Philologen, die sich ja am meisten mit den Alten
beschäftigen, auch den meisten Gewinn aus ihnen zögen, daß es also auf der
ganze» Erde keine Humaueren, gerechteren, bescheidneren, uneigennützigeren, kurz
menschlich edler gebildeten Männer gebe als die klassischen Philologen. Gewiß
trifft das auf viele von ihnen zu, aber daß mau es gerade von ihnen im
allgemeinen gegenüber andern Verufskreiseu uicht sagen kann, das beweist unter
anderm schon der so häufig ganz ohne Grund geräuschvolle und gehässige Ton
ihrer Polemik, wie er namentlich in den Schriften der Jüngern zu herrschen
pflegt. Man mag das „Frische und Lebendigkeit der Darstellung," „Schärfe
in der Beweisführung" oder wie man sonst will, nennen, im Sinne eines
Platon ist solcher Stil wahrlich nicht, und menschlich edel ist er auch uicht.
Es ist ja berechtigt, wein: sich ein hämisch angegriffner seiner Haut wehrt.
Dann sind sogar nach echter deutscher Art Keulenschläge bisweilen an ihrem
Platze. Aber die selbstgefällige Überhebung, die der soliden Arbeit Andrer
verschiedner Meinung oder kleiner Versehen halber den Rang aberkennen
will, das aufdringliche Poltern nicht nur gegen die Mittelmäßigkeit, sondern


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[0182] Bedeutung der alten Klassiker für die Schule mit großem Nachdruck verkündet wird, für übertrieben, so z. V. den Satz, daß man sich mit ihnen beschäftigen müsse, um die „Kulturbedeutuug" der Alten kennen zu lernen, oder nur sich eine „edle menschliche Bildung" anzueignen, und ähnliches. Von der wirklichen Wich¬ tigkeit der Antike für die gesamte Kultur der gebildeten Welt erfährt der Primaner nicht allzuviel, jedenfalls uicht so viel, daß ihm dies nicht in kürzerer Zeit beigebracht werden könnte, als es jetzt geschieht, geschweige denn so viel, als sich der Philologe im Laufe der Jahre angeeignet hat, der dann, weil er es selbst weiß, zu glauben Pflegt, der Gymnasiast wisse es auch. Auch die Bildung zu edlem Menschentum, die Erweckung von Edelsinn und allen männ¬ lichen Tugenden ist uicht in dem Grade von der Kenntnis der griechischen und römischen Schriftsteller abhängig, als uns mancher begeisterte Philologe glauben machen möchte. Um Tapferkeit und Vaterlandsliebe zu erwecken, brauchen wir Marathon und Salamis nicht, wir haben unsre eignen Freiheits¬ kriege. Ja wer an die vielgerühmten Helden der hellenischen Vorzeit den kritischen Maßstab anlegen wollte, fände vielleicht an manchen der edelsten etwas auszusetzen, das uus hindern könnte, sie der Jugend als Muster vorzuführen. Man denke an den „edeln Dulder" Odysseus, der im elften Buch der Ilias — es rührt freilich nicht von dem „göttlichen" Homer selbst her — uns als Urheber einer hinterlistig ins Werk gesetzten Greuelszene entgegentritt, und dessen erstes Beginnen bei seinem Erwachen in Ithaka darin besteht, daß er die mit¬ gebrachten Schätze zählt, ob ihm auch keine gestohlen worden seien, kein sehr heroenhafter und wenigstens der Mehrzahl unter uns kein sympathischer Zug. Auch mit der edeln menschlichen Bildung, die man sich allein durch die Griechen und Römer erwerben soll, steht es nicht so ganz sicher. Man müßte dann doch annehmen, daß die Philologen, die sich ja am meisten mit den Alten beschäftigen, auch den meisten Gewinn aus ihnen zögen, daß es also auf der ganze» Erde keine Humaueren, gerechteren, bescheidneren, uneigennützigeren, kurz menschlich edler gebildeten Männer gebe als die klassischen Philologen. Gewiß trifft das auf viele von ihnen zu, aber daß mau es gerade von ihnen im allgemeinen gegenüber andern Verufskreiseu uicht sagen kann, das beweist unter anderm schon der so häufig ganz ohne Grund geräuschvolle und gehässige Ton ihrer Polemik, wie er namentlich in den Schriften der Jüngern zu herrschen pflegt. Man mag das „Frische und Lebendigkeit der Darstellung," „Schärfe in der Beweisführung" oder wie man sonst will, nennen, im Sinne eines Platon ist solcher Stil wahrlich nicht, und menschlich edel ist er auch uicht. Es ist ja berechtigt, wein: sich ein hämisch angegriffner seiner Haut wehrt. Dann sind sogar nach echter deutscher Art Keulenschläge bisweilen an ihrem Platze. Aber die selbstgefällige Überhebung, die der soliden Arbeit Andrer verschiedner Meinung oder kleiner Versehen halber den Rang aberkennen will, das aufdringliche Poltern nicht nur gegen die Mittelmäßigkeit, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/182>, abgerufen am 23.07.2024.