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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die rote Fcchne

halten konnte. In dem unter dem 20. Brumaire II (10. November 1793)
gegen ihn ausgefertigten Todesurteile wird von der roten Fahne mit großem
Ingrimm gesprochen. Auch wurde durch das Todesurteil eigens bestimmt,
daß eine rote Fahne an dem Henkerskarren, der Bailly zu dem auf dem
Marsfelde aufgerichteten Schafott bringen würde, befestigt und durch den
Henker öffentlich verbrannt werden sollte. Nach einigen Darstellungen be¬
gleiteten den Karren rote Fahnen in den Händen der zusammengeströmten
johlenden Volksmenge.

Selbst im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts sprach die rote Fahne
noch keine andre Sprache als in der Zeit Lafayettes und Baillys. Wenigstens
gedenkt ihrer der Dichter Chateaubriand im Opilio an vKriLtmiÜLms (1802)
ganz im Sinne der Konstituante.

Die deutsche Geschichtsforschung hat nachgewiesen, daß in der ersten
französischen Revolution die politische Bewegung von Anfang an von einer
sozialistischen Unterströmung begleitet war. Jakobinismus und Anarchis¬
mus waren schließlich eins, das gemeinsame Abzeichen war die rote Mütze. Es
wird sich sogleich zeigen, daß diese, das alte Sinnbild des Schreckens, in die
Geschichte der roten Fahne wirkungsvoll hineinspielt.

Als erster sozial-revolutionärer Aufstand modernen Charakters verdient
die Arbeitererhebung zu Lyon Ende November 1831 auch im Sinne unsers
Gegenstandes besondre Beachtuug. Keine der sonst kampflustigen Parteien,
weder Republikaner, noch Bonapartisten, noch Legitimisten, hatte dabei die
Hand mit im Spiele. Infolge der elenden Lohnverhältnisse der Arbeiter, die
übrigens durch Anhänger Samt-Simons und Fouriers mit den neuen sozia¬
listischen Systemen bekannt gemacht worden waren, war es zu einer typisch
neuen Form des Aufruhrs, zum bewaffneten Lohnkampf, gekommen. Neu ist
das ganze Ereignis in seiner Art, neu ist aber auch das Feldzeichen, das zum
Vorschein kommt: eine schwarze Fahne ist es, um die die Arbeiter geschart
sind, und zwar eine schwarze Fahne, die die Aufschrift trägt: Vivre en
tiÄvailWrit. on mourir en o0inbg.t.wull! Die rote Fahne hat also als Fahne
des arbeitenden Proletariats, wie sich ihre Anhänger selbst zu bezeichnen be¬
lieben, nicht die Priorität. Als sich im Frühjahr 1834 die Kämpfe von 1831
in Lyon blutiger und weiter um sich greifend wiederholen, war es wieder die
schwarze Fahne, die der Trikolore der Bourgeoisie gegenüberstand. Am
10. April dieses Jahres wehte sie, kurze Zeit sieghaft, von der Irrenanstalt,
dem Kloster der Cordeliers und der Kirche des heiligen Polycarp auf die
Barrikaden der Straßen herab. Es ist das um so beachtenswerter, als inzwischen
wieder die rote Fahne, zum erstenmale seit 1791, in Paris eine bedeutsame
Rolle gespielt hatte.

Hier hatte nämlich am 5. und 6. Juni 1832 ein erbitterter Straßenkampf
stattgefunden. Die Gelegenheitsursache war das Leichenbegängnis eines


Grenzl'oder I 1891 21
Die rote Fcchne

halten konnte. In dem unter dem 20. Brumaire II (10. November 1793)
gegen ihn ausgefertigten Todesurteile wird von der roten Fahne mit großem
Ingrimm gesprochen. Auch wurde durch das Todesurteil eigens bestimmt,
daß eine rote Fahne an dem Henkerskarren, der Bailly zu dem auf dem
Marsfelde aufgerichteten Schafott bringen würde, befestigt und durch den
Henker öffentlich verbrannt werden sollte. Nach einigen Darstellungen be¬
gleiteten den Karren rote Fahnen in den Händen der zusammengeströmten
johlenden Volksmenge.

Selbst im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts sprach die rote Fahne
noch keine andre Sprache als in der Zeit Lafayettes und Baillys. Wenigstens
gedenkt ihrer der Dichter Chateaubriand im Opilio an vKriLtmiÜLms (1802)
ganz im Sinne der Konstituante.

Die deutsche Geschichtsforschung hat nachgewiesen, daß in der ersten
französischen Revolution die politische Bewegung von Anfang an von einer
sozialistischen Unterströmung begleitet war. Jakobinismus und Anarchis¬
mus waren schließlich eins, das gemeinsame Abzeichen war die rote Mütze. Es
wird sich sogleich zeigen, daß diese, das alte Sinnbild des Schreckens, in die
Geschichte der roten Fahne wirkungsvoll hineinspielt.

Als erster sozial-revolutionärer Aufstand modernen Charakters verdient
die Arbeitererhebung zu Lyon Ende November 1831 auch im Sinne unsers
Gegenstandes besondre Beachtuug. Keine der sonst kampflustigen Parteien,
weder Republikaner, noch Bonapartisten, noch Legitimisten, hatte dabei die
Hand mit im Spiele. Infolge der elenden Lohnverhältnisse der Arbeiter, die
übrigens durch Anhänger Samt-Simons und Fouriers mit den neuen sozia¬
listischen Systemen bekannt gemacht worden waren, war es zu einer typisch
neuen Form des Aufruhrs, zum bewaffneten Lohnkampf, gekommen. Neu ist
das ganze Ereignis in seiner Art, neu ist aber auch das Feldzeichen, das zum
Vorschein kommt: eine schwarze Fahne ist es, um die die Arbeiter geschart
sind, und zwar eine schwarze Fahne, die die Aufschrift trägt: Vivre en
tiÄvailWrit. on mourir en o0inbg.t.wull! Die rote Fahne hat also als Fahne
des arbeitenden Proletariats, wie sich ihre Anhänger selbst zu bezeichnen be¬
lieben, nicht die Priorität. Als sich im Frühjahr 1834 die Kämpfe von 1831
in Lyon blutiger und weiter um sich greifend wiederholen, war es wieder die
schwarze Fahne, die der Trikolore der Bourgeoisie gegenüberstand. Am
10. April dieses Jahres wehte sie, kurze Zeit sieghaft, von der Irrenanstalt,
dem Kloster der Cordeliers und der Kirche des heiligen Polycarp auf die
Barrikaden der Straßen herab. Es ist das um so beachtenswerter, als inzwischen
wieder die rote Fahne, zum erstenmale seit 1791, in Paris eine bedeutsame
Rolle gespielt hatte.

Hier hatte nämlich am 5. und 6. Juni 1832 ein erbitterter Straßenkampf
stattgefunden. Die Gelegenheitsursache war das Leichenbegängnis eines


Grenzl'oder I 1891 21
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[0169] Die rote Fcchne halten konnte. In dem unter dem 20. Brumaire II (10. November 1793) gegen ihn ausgefertigten Todesurteile wird von der roten Fahne mit großem Ingrimm gesprochen. Auch wurde durch das Todesurteil eigens bestimmt, daß eine rote Fahne an dem Henkerskarren, der Bailly zu dem auf dem Marsfelde aufgerichteten Schafott bringen würde, befestigt und durch den Henker öffentlich verbrannt werden sollte. Nach einigen Darstellungen be¬ gleiteten den Karren rote Fahnen in den Händen der zusammengeströmten johlenden Volksmenge. Selbst im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts sprach die rote Fahne noch keine andre Sprache als in der Zeit Lafayettes und Baillys. Wenigstens gedenkt ihrer der Dichter Chateaubriand im Opilio an vKriLtmiÜLms (1802) ganz im Sinne der Konstituante. Die deutsche Geschichtsforschung hat nachgewiesen, daß in der ersten französischen Revolution die politische Bewegung von Anfang an von einer sozialistischen Unterströmung begleitet war. Jakobinismus und Anarchis¬ mus waren schließlich eins, das gemeinsame Abzeichen war die rote Mütze. Es wird sich sogleich zeigen, daß diese, das alte Sinnbild des Schreckens, in die Geschichte der roten Fahne wirkungsvoll hineinspielt. Als erster sozial-revolutionärer Aufstand modernen Charakters verdient die Arbeitererhebung zu Lyon Ende November 1831 auch im Sinne unsers Gegenstandes besondre Beachtuug. Keine der sonst kampflustigen Parteien, weder Republikaner, noch Bonapartisten, noch Legitimisten, hatte dabei die Hand mit im Spiele. Infolge der elenden Lohnverhältnisse der Arbeiter, die übrigens durch Anhänger Samt-Simons und Fouriers mit den neuen sozia¬ listischen Systemen bekannt gemacht worden waren, war es zu einer typisch neuen Form des Aufruhrs, zum bewaffneten Lohnkampf, gekommen. Neu ist das ganze Ereignis in seiner Art, neu ist aber auch das Feldzeichen, das zum Vorschein kommt: eine schwarze Fahne ist es, um die die Arbeiter geschart sind, und zwar eine schwarze Fahne, die die Aufschrift trägt: Vivre en tiÄvailWrit. on mourir en o0inbg.t.wull! Die rote Fahne hat also als Fahne des arbeitenden Proletariats, wie sich ihre Anhänger selbst zu bezeichnen be¬ lieben, nicht die Priorität. Als sich im Frühjahr 1834 die Kämpfe von 1831 in Lyon blutiger und weiter um sich greifend wiederholen, war es wieder die schwarze Fahne, die der Trikolore der Bourgeoisie gegenüberstand. Am 10. April dieses Jahres wehte sie, kurze Zeit sieghaft, von der Irrenanstalt, dem Kloster der Cordeliers und der Kirche des heiligen Polycarp auf die Barrikaden der Straßen herab. Es ist das um so beachtenswerter, als inzwischen wieder die rote Fahne, zum erstenmale seit 1791, in Paris eine bedeutsame Rolle gespielt hatte. Hier hatte nämlich am 5. und 6. Juni 1832 ein erbitterter Straßenkampf stattgefunden. Die Gelegenheitsursache war das Leichenbegängnis eines Grenzl'oder I 1891 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/169>, abgerufen am 23.07.2024.