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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die rote Fahne

Gegners des Julikönigtums, des Generals Lamarque. Es sollte zu einer
Demonstration gegen die Regierung benutzt werden. So strömten denn am
Morgen des 5. Juni politische Gesellschaften und Vereine in großer Menge
zusammen, um sich an dem Trauerzuge zu beteiligen, alle natürlich mit ihren
Fahnen. Selbst viele Ausländer, versprengte Revolutionäre aus allen Ländern,
fanden sich ein, indem sie sich sogar durch ihre Fahnen, polnische, italie¬
nische, deutsche, spanische, als solche bezeichneten. Auch die rote Fahne fehlte nicht.
Mochte sie auch, wie nach der ganzen Sachlage anzunehmen ist, als ein Sinn¬
bild des Kampfes mitgebracht wurden sein -- sie fand keinerlei Beachtung.
Ihr Träger, ein damals in Paris allgemein bekannter Revolutionär von 1830,
durfte sich damit trösten, daß es der ruhmbedeckten Trikolore, als sie zum
zweitenmale an die Stelle des Weißen Banners der Vonrbvnen trat, im erste"
Augenblicke ihres Wiederauftretens auch nicht besser ergangen war.

Aber wenn die rote Fahne bei der Menge in Vergessenheit geraten war,
so war dies mit der roten Mütze keineswegs der Fall. Das schier endlose
Trauergefvlgc hatte in leidlicher Ordnung, wenigstens nach Pariser Begriffen,
eiuen großen Teil der Stadt durchzogen und sestorduungsgemäß in der Nähe
des Pont d'Austerlitz Halt gemacht, als die ohnehin erregte Volksmenge
plötzlich einen Reiter auf sich zukommen sah, dessen ganze Erscheinung die leb¬
hafteste Bewegung hervorrief. Schwarz gekleidet und mit einer roten Schärpe
umgürtet, schwenkte er, in phantastischer Haltung sich seinen Weg durch die
herbeigeströmten Zuschauer bahnend, in der Rechten eine von der roten Mütze
gekrönte rote Fahne mit der Aufschrift: I^g. libvrt." o" 1^ mort! und rief:
Nieder mit den Königen, es lebe die Republik!

Die Erhebung lag in der Luft. Sie kommt jetzt zum leidenschaftlichsten
Ausbruch. Der älteste Sohn der Freiheit, wie er sich so gern nennen hörte,
der greise Lafahette, vermag bei dem Anblick der roten Fahne seine Verwirrung
nicht zu bemeistern. Eilig sucht er sich zu entfernen. Seine Aufregung teilt
ein andrer geschichtlich nicht unbekannter Mann, der General Excelmnns, wie
Lamarque ein Veteran des Kaiserreiches. "Wir wollen keine rote Fahne,"
ruft er dem unheimlichen Trnucrgast entgegen, "wir wollen nur die Trikolore,
die Fahne des Ruhmes und der Freiheit!" Mittlerweile versucht ein Polizist
den Reiter zu verhaften, aber da stürzen Studenten zu seinem Schutze herbei.
Es kommt zum Handgemenge, und der Straßenkampf ans dem Stegreif ist er¬
öffnet. Es werden Barrikaden erbaut, auf denen teils die dreifarbige Fahne,
teils die rote weht. Und gerade da, wo der Kampf am heißesten entbrennt,
am Kloster Senne-Merry, schmückt die rote Fahne die zäh verteidigte Ver¬
schanzung. Erst am Abend des zweiten Tages, um 6. Juni, wird der Auf¬
stand von den Negierungstruppen völlig zu Boden geschlagen. Als aber, noch
während der Kampf andauert, die Führer der Opposition sich versammeln, da
wird bereits der Wunsch nachdrücklich geäußert, auch die Opposition möge ihre


Die rote Fahne

Gegners des Julikönigtums, des Generals Lamarque. Es sollte zu einer
Demonstration gegen die Regierung benutzt werden. So strömten denn am
Morgen des 5. Juni politische Gesellschaften und Vereine in großer Menge
zusammen, um sich an dem Trauerzuge zu beteiligen, alle natürlich mit ihren
Fahnen. Selbst viele Ausländer, versprengte Revolutionäre aus allen Ländern,
fanden sich ein, indem sie sich sogar durch ihre Fahnen, polnische, italie¬
nische, deutsche, spanische, als solche bezeichneten. Auch die rote Fahne fehlte nicht.
Mochte sie auch, wie nach der ganzen Sachlage anzunehmen ist, als ein Sinn¬
bild des Kampfes mitgebracht wurden sein — sie fand keinerlei Beachtung.
Ihr Träger, ein damals in Paris allgemein bekannter Revolutionär von 1830,
durfte sich damit trösten, daß es der ruhmbedeckten Trikolore, als sie zum
zweitenmale an die Stelle des Weißen Banners der Vonrbvnen trat, im erste»
Augenblicke ihres Wiederauftretens auch nicht besser ergangen war.

Aber wenn die rote Fahne bei der Menge in Vergessenheit geraten war,
so war dies mit der roten Mütze keineswegs der Fall. Das schier endlose
Trauergefvlgc hatte in leidlicher Ordnung, wenigstens nach Pariser Begriffen,
eiuen großen Teil der Stadt durchzogen und sestorduungsgemäß in der Nähe
des Pont d'Austerlitz Halt gemacht, als die ohnehin erregte Volksmenge
plötzlich einen Reiter auf sich zukommen sah, dessen ganze Erscheinung die leb¬
hafteste Bewegung hervorrief. Schwarz gekleidet und mit einer roten Schärpe
umgürtet, schwenkte er, in phantastischer Haltung sich seinen Weg durch die
herbeigeströmten Zuschauer bahnend, in der Rechten eine von der roten Mütze
gekrönte rote Fahne mit der Aufschrift: I^g. libvrt.« o» 1^ mort! und rief:
Nieder mit den Königen, es lebe die Republik!

Die Erhebung lag in der Luft. Sie kommt jetzt zum leidenschaftlichsten
Ausbruch. Der älteste Sohn der Freiheit, wie er sich so gern nennen hörte,
der greise Lafahette, vermag bei dem Anblick der roten Fahne seine Verwirrung
nicht zu bemeistern. Eilig sucht er sich zu entfernen. Seine Aufregung teilt
ein andrer geschichtlich nicht unbekannter Mann, der General Excelmnns, wie
Lamarque ein Veteran des Kaiserreiches. „Wir wollen keine rote Fahne,"
ruft er dem unheimlichen Trnucrgast entgegen, „wir wollen nur die Trikolore,
die Fahne des Ruhmes und der Freiheit!" Mittlerweile versucht ein Polizist
den Reiter zu verhaften, aber da stürzen Studenten zu seinem Schutze herbei.
Es kommt zum Handgemenge, und der Straßenkampf ans dem Stegreif ist er¬
öffnet. Es werden Barrikaden erbaut, auf denen teils die dreifarbige Fahne,
teils die rote weht. Und gerade da, wo der Kampf am heißesten entbrennt,
am Kloster Senne-Merry, schmückt die rote Fahne die zäh verteidigte Ver¬
schanzung. Erst am Abend des zweiten Tages, um 6. Juni, wird der Auf¬
stand von den Negierungstruppen völlig zu Boden geschlagen. Als aber, noch
während der Kampf andauert, die Führer der Opposition sich versammeln, da
wird bereits der Wunsch nachdrücklich geäußert, auch die Opposition möge ihre


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[0170] Die rote Fahne Gegners des Julikönigtums, des Generals Lamarque. Es sollte zu einer Demonstration gegen die Regierung benutzt werden. So strömten denn am Morgen des 5. Juni politische Gesellschaften und Vereine in großer Menge zusammen, um sich an dem Trauerzuge zu beteiligen, alle natürlich mit ihren Fahnen. Selbst viele Ausländer, versprengte Revolutionäre aus allen Ländern, fanden sich ein, indem sie sich sogar durch ihre Fahnen, polnische, italie¬ nische, deutsche, spanische, als solche bezeichneten. Auch die rote Fahne fehlte nicht. Mochte sie auch, wie nach der ganzen Sachlage anzunehmen ist, als ein Sinn¬ bild des Kampfes mitgebracht wurden sein — sie fand keinerlei Beachtung. Ihr Träger, ein damals in Paris allgemein bekannter Revolutionär von 1830, durfte sich damit trösten, daß es der ruhmbedeckten Trikolore, als sie zum zweitenmale an die Stelle des Weißen Banners der Vonrbvnen trat, im erste» Augenblicke ihres Wiederauftretens auch nicht besser ergangen war. Aber wenn die rote Fahne bei der Menge in Vergessenheit geraten war, so war dies mit der roten Mütze keineswegs der Fall. Das schier endlose Trauergefvlgc hatte in leidlicher Ordnung, wenigstens nach Pariser Begriffen, eiuen großen Teil der Stadt durchzogen und sestorduungsgemäß in der Nähe des Pont d'Austerlitz Halt gemacht, als die ohnehin erregte Volksmenge plötzlich einen Reiter auf sich zukommen sah, dessen ganze Erscheinung die leb¬ hafteste Bewegung hervorrief. Schwarz gekleidet und mit einer roten Schärpe umgürtet, schwenkte er, in phantastischer Haltung sich seinen Weg durch die herbeigeströmten Zuschauer bahnend, in der Rechten eine von der roten Mütze gekrönte rote Fahne mit der Aufschrift: I^g. libvrt.« o» 1^ mort! und rief: Nieder mit den Königen, es lebe die Republik! Die Erhebung lag in der Luft. Sie kommt jetzt zum leidenschaftlichsten Ausbruch. Der älteste Sohn der Freiheit, wie er sich so gern nennen hörte, der greise Lafahette, vermag bei dem Anblick der roten Fahne seine Verwirrung nicht zu bemeistern. Eilig sucht er sich zu entfernen. Seine Aufregung teilt ein andrer geschichtlich nicht unbekannter Mann, der General Excelmnns, wie Lamarque ein Veteran des Kaiserreiches. „Wir wollen keine rote Fahne," ruft er dem unheimlichen Trnucrgast entgegen, „wir wollen nur die Trikolore, die Fahne des Ruhmes und der Freiheit!" Mittlerweile versucht ein Polizist den Reiter zu verhaften, aber da stürzen Studenten zu seinem Schutze herbei. Es kommt zum Handgemenge, und der Straßenkampf ans dem Stegreif ist er¬ öffnet. Es werden Barrikaden erbaut, auf denen teils die dreifarbige Fahne, teils die rote weht. Und gerade da, wo der Kampf am heißesten entbrennt, am Kloster Senne-Merry, schmückt die rote Fahne die zäh verteidigte Ver¬ schanzung. Erst am Abend des zweiten Tages, um 6. Juni, wird der Auf¬ stand von den Negierungstruppen völlig zu Boden geschlagen. Als aber, noch während der Kampf andauert, die Führer der Opposition sich versammeln, da wird bereits der Wunsch nachdrücklich geäußert, auch die Opposition möge ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/170>, abgerufen am 23.07.2024.