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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Diese allgemeinsten Anforderungen werden min durch die besondre Art
des Kultus und durch die Stellung, die die menschliche Gesellschaft der Gott¬
heit und der Priesterschaft gegenüber einnimmt, für jeden einzelnen Fall be¬
sonders gestaltet. Bei den Ägyptern bildet die Priesterschaft die höchste Staffel
der menschlichen Gesellschaft, die sich in streng gesonderte Stufen gliedert und
in diesen sich rnngabwärts immer weiter von jenem Höhepunkt entfernt. Dem¬
gemäß findet die Aufstellung der Gemeinde vor dem Altar statt. Die Gott¬
heit entzieht sich dem Anblick der Lnienwelt, sie thront einsam in engem
Raniue, den niemand mit ihr teilt. Vor ihm bewahrt und bedient die Priester¬
schaft den Altar, um den sie sich versammelt. Daran schließen sich, in immer
weiterer Entfernung sich erstreckend, die Kasten, sodaß die vornehmste zunächst¬
steht, die andern ihrem Range gemäß folgen. Mit dieser Entfernung in die
Länge geht eine Ausdehnung in die Breite Hand in Hand: je geringer im
Range die Klasse wird, umso mehr Teilnehmer hat sie, um so breitere Schichten
der Bevölkerung umfaßt sie. Soll die Entfernung vom Altar nicht zu groß
werden, so muß die Masse sich immer mehr in die Breite ausdehnen. Wird
nun zum Schutze gegen das heiße Klima die so geordnete Gemeinde mit
einer Decke überspannt, so ergiebt sich für jeden besondern Teil der Gemeinde
ein besondrer Raum, der mit der zunehmenden Entfernung vom Altar in der
Tiefe, besonders aber in der Breite zunimmt und der größern Menschenzahl
wegen zur Beschaffung der nötigen Luftmenge anch i" der Höhe zunehmen
muß. So erwachsen die eigentümlichen Formen des ägyptischen Tempels aus
der Befriedigung des infolge der eigenartigen Gliederung des Volkes und des
Charakters des Kultus entstandenen Bedürfnisses: der enge Wohnraum der
Gottheit, die sich daran schließende Tiefe, Breite und Höhe nach außen
zu wachsender Räume, deren letzter der Vorhof ist mit den weit in die
Ferne den heiligen Ort und seinen Eingang verkündenden Portaltürmen.

In Griechenland war die Lage der Gemeinde durchaus anders; weder
hatte die Priesterschnft eine so allbeherrschende Stellung wie die ägyptische,
noch war die Gesellschaft in so streng gesonderte .Kasten gegliedert wie in
Ägypten. So tritt einerseits die Priesterschaft nicht ebenso trennend zwischen
Gottheit und Menschheit, anderseits steht die Gemeinde der Gottheit im wesent¬
lichen als Einheit gegenüber. Doch erhält anch hier die Gottheit ihr Hans;
da es für sie allein und nicht auch für die Aufnahme der Gemeinde bestimmt
ist, so bleibt es verhältnismäßig klein. Das Gottesbild ist in ihm aber nicht
abgeschlossen; durch die Thüre wird es der zum Opfer versammelten Gemeinde
sichtbar, zumal bei dem Frühdienst, da die Thüre nach Osten zu lag, das helle
Licht in den düstern Raum eindrang und das Bild leuchtend heraustreten ließ.
Die Gemeinde stand vor dein Tempel und in dessen Anschauung zugleich mit
dem Rücken nach der Sonne gekehrt, sodaß sie Schutz vor ihr fand und doch
ihre belebende WirlUug im Tempel genoß. Die zwischen Gottheit und Ge-


Diese allgemeinsten Anforderungen werden min durch die besondre Art
des Kultus und durch die Stellung, die die menschliche Gesellschaft der Gott¬
heit und der Priesterschaft gegenüber einnimmt, für jeden einzelnen Fall be¬
sonders gestaltet. Bei den Ägyptern bildet die Priesterschaft die höchste Staffel
der menschlichen Gesellschaft, die sich in streng gesonderte Stufen gliedert und
in diesen sich rnngabwärts immer weiter von jenem Höhepunkt entfernt. Dem¬
gemäß findet die Aufstellung der Gemeinde vor dem Altar statt. Die Gott¬
heit entzieht sich dem Anblick der Lnienwelt, sie thront einsam in engem
Raniue, den niemand mit ihr teilt. Vor ihm bewahrt und bedient die Priester¬
schaft den Altar, um den sie sich versammelt. Daran schließen sich, in immer
weiterer Entfernung sich erstreckend, die Kasten, sodaß die vornehmste zunächst¬
steht, die andern ihrem Range gemäß folgen. Mit dieser Entfernung in die
Länge geht eine Ausdehnung in die Breite Hand in Hand: je geringer im
Range die Klasse wird, umso mehr Teilnehmer hat sie, um so breitere Schichten
der Bevölkerung umfaßt sie. Soll die Entfernung vom Altar nicht zu groß
werden, so muß die Masse sich immer mehr in die Breite ausdehnen. Wird
nun zum Schutze gegen das heiße Klima die so geordnete Gemeinde mit
einer Decke überspannt, so ergiebt sich für jeden besondern Teil der Gemeinde
ein besondrer Raum, der mit der zunehmenden Entfernung vom Altar in der
Tiefe, besonders aber in der Breite zunimmt und der größern Menschenzahl
wegen zur Beschaffung der nötigen Luftmenge anch i» der Höhe zunehmen
muß. So erwachsen die eigentümlichen Formen des ägyptischen Tempels aus
der Befriedigung des infolge der eigenartigen Gliederung des Volkes und des
Charakters des Kultus entstandenen Bedürfnisses: der enge Wohnraum der
Gottheit, die sich daran schließende Tiefe, Breite und Höhe nach außen
zu wachsender Räume, deren letzter der Vorhof ist mit den weit in die
Ferne den heiligen Ort und seinen Eingang verkündenden Portaltürmen.

In Griechenland war die Lage der Gemeinde durchaus anders; weder
hatte die Priesterschnft eine so allbeherrschende Stellung wie die ägyptische,
noch war die Gesellschaft in so streng gesonderte .Kasten gegliedert wie in
Ägypten. So tritt einerseits die Priesterschaft nicht ebenso trennend zwischen
Gottheit und Menschheit, anderseits steht die Gemeinde der Gottheit im wesent¬
lichen als Einheit gegenüber. Doch erhält anch hier die Gottheit ihr Hans;
da es für sie allein und nicht auch für die Aufnahme der Gemeinde bestimmt
ist, so bleibt es verhältnismäßig klein. Das Gottesbild ist in ihm aber nicht
abgeschlossen; durch die Thüre wird es der zum Opfer versammelten Gemeinde
sichtbar, zumal bei dem Frühdienst, da die Thüre nach Osten zu lag, das helle
Licht in den düstern Raum eindrang und das Bild leuchtend heraustreten ließ.
Die Gemeinde stand vor dein Tempel und in dessen Anschauung zugleich mit
dem Rücken nach der Sonne gekehrt, sodaß sie Schutz vor ihr fand und doch
ihre belebende WirlUug im Tempel genoß. Die zwischen Gottheit und Ge-


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[0079] Diese allgemeinsten Anforderungen werden min durch die besondre Art des Kultus und durch die Stellung, die die menschliche Gesellschaft der Gott¬ heit und der Priesterschaft gegenüber einnimmt, für jeden einzelnen Fall be¬ sonders gestaltet. Bei den Ägyptern bildet die Priesterschaft die höchste Staffel der menschlichen Gesellschaft, die sich in streng gesonderte Stufen gliedert und in diesen sich rnngabwärts immer weiter von jenem Höhepunkt entfernt. Dem¬ gemäß findet die Aufstellung der Gemeinde vor dem Altar statt. Die Gott¬ heit entzieht sich dem Anblick der Lnienwelt, sie thront einsam in engem Raniue, den niemand mit ihr teilt. Vor ihm bewahrt und bedient die Priester¬ schaft den Altar, um den sie sich versammelt. Daran schließen sich, in immer weiterer Entfernung sich erstreckend, die Kasten, sodaß die vornehmste zunächst¬ steht, die andern ihrem Range gemäß folgen. Mit dieser Entfernung in die Länge geht eine Ausdehnung in die Breite Hand in Hand: je geringer im Range die Klasse wird, umso mehr Teilnehmer hat sie, um so breitere Schichten der Bevölkerung umfaßt sie. Soll die Entfernung vom Altar nicht zu groß werden, so muß die Masse sich immer mehr in die Breite ausdehnen. Wird nun zum Schutze gegen das heiße Klima die so geordnete Gemeinde mit einer Decke überspannt, so ergiebt sich für jeden besondern Teil der Gemeinde ein besondrer Raum, der mit der zunehmenden Entfernung vom Altar in der Tiefe, besonders aber in der Breite zunimmt und der größern Menschenzahl wegen zur Beschaffung der nötigen Luftmenge anch i» der Höhe zunehmen muß. So erwachsen die eigentümlichen Formen des ägyptischen Tempels aus der Befriedigung des infolge der eigenartigen Gliederung des Volkes und des Charakters des Kultus entstandenen Bedürfnisses: der enge Wohnraum der Gottheit, die sich daran schließende Tiefe, Breite und Höhe nach außen zu wachsender Räume, deren letzter der Vorhof ist mit den weit in die Ferne den heiligen Ort und seinen Eingang verkündenden Portaltürmen. In Griechenland war die Lage der Gemeinde durchaus anders; weder hatte die Priesterschnft eine so allbeherrschende Stellung wie die ägyptische, noch war die Gesellschaft in so streng gesonderte .Kasten gegliedert wie in Ägypten. So tritt einerseits die Priesterschaft nicht ebenso trennend zwischen Gottheit und Menschheit, anderseits steht die Gemeinde der Gottheit im wesent¬ lichen als Einheit gegenüber. Doch erhält anch hier die Gottheit ihr Hans; da es für sie allein und nicht auch für die Aufnahme der Gemeinde bestimmt ist, so bleibt es verhältnismäßig klein. Das Gottesbild ist in ihm aber nicht abgeschlossen; durch die Thüre wird es der zum Opfer versammelten Gemeinde sichtbar, zumal bei dem Frühdienst, da die Thüre nach Osten zu lag, das helle Licht in den düstern Raum eindrang und das Bild leuchtend heraustreten ließ. Die Gemeinde stand vor dein Tempel und in dessen Anschauung zugleich mit dem Rücken nach der Sonne gekehrt, sodaß sie Schutz vor ihr fand und doch ihre belebende WirlUug im Tempel genoß. Die zwischen Gottheit und Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/79>, abgerufen am 25.08.2024.