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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

irdische Wohlfahrt zu geben; da muß auch das gegenteilige Schicksal umso
tiefer ergreifen. Diese Götter und Heroen treten aber unter die gewöhnlichen
Menschen, sprechen und handeln unter ihnen und mit ihnen. So kommt auch
hier das nebenpersönliche Element herein, und anch hier gewinnt es allmählich
immer höheres Interesse und verselbständigt sich schließlich, sodaß die Menschen
selbst mit ihren kleinen Geschicken an Stelle der Heroen treten und das gigan¬
tische Schicksal beiseite schieben.

Auch bei den Griechen geschieht der entscheidende Schritt, der das Drama
schafft, im Kultus und zur Unterstützung des Kultus: es wird uns ausdrücklich
berichtet, daß das Drama aus dem Dithyrambus entstanden sei. Aber bei
den Griechen geschieht noch mehr. In einem Zustande der Entwicklung, wo
das griechische Drama schon vollständig als Kunstschöpfung auftritt, sich vom
Kultus schon gänzlich getrennt und verselbständigt zu haben scheint, steht es
doch noch so weit im Dienste des Kultus, daß es nur zur Feier der hohe"
Feste aufgeführt wird, daß der Altar als Mittelpunkt noch beibehalten bleibt,
daß der Chorgesang noch den Hauptteil bildet, die Handlung aber als Epeis-
odion, als Zwischenglied, in den Gesang hineintritt. In dem Maße jedoch,
wie allmählich der Kunstcharakter vorwiegt, wendet sich eine immer größere
Teilnahme der Handlung zu, der Chor tritt zurück, wird Nebensache und fällt
endlich, weil er das, was zur Hauptsache geworden ist, stört, vollständig weg,
und die von dem Kultus abgelöste Dichtung ist fertig.

Wenn nun aber hier die eigentümliche Erscheinung vorliegt, daß das
Drama auch als Kunstschöpfung noch seinen Charakter als Kultushaudlung
nicht aufgiebt, vielmehr seine ästhetische Gestaltung unmittelbar dem Kultus¬
gebrauch entnimmt und ihm möglichst anpaßt, so wird auch die Folgerung
berechtigt sein, daß das griechische Theater seine äußere Gestaltung gleichfalls
im Anschluß an die Anforderungen des Kultus gefunden habe, daß somit das
griechische Theater nichts andres sei, als der zum öffentlichen Kultus der Ge¬
meinde bestimmte Teil des griechischen Tempels. Und in der That lassen sich
die Eigentümlichkeiten des griechischen Theaters aus dieser Thatsache allein
vollständig verstehen.

Kein Bauwerk verdankt seine ursprüngliche Entstehung und somit auch
seine ursprüngliche Form einem ästhetischen Bedürfnis; es ist vielmehr Ge¬
brauchsgegenstand und genügt somit einem praktischen Bedürfnis. Aus der
Befriedigung dieses praktischen Bedürfnisses erwächst die Grundform des Bau¬
werkes. Der Tempel nun hat zunächst nur dem Bedürfnis zu genügen, daß
er der Gottheit und ihren: Bilde einen Wohnraum schafft. Aber nun will
auch die Gemeinde zu der Gottheit in Beziehung treten. Zwischen ihr und
der Gottheit steht die Priesterschaft, die diesen Verkehr vermittelt. Somit be¬
darf die Priesterschaft eines Raumes, der zwischeu dein Allerheiligsten und der
Gemeinde erscheint. Dort befindet sich der Altar, der für die allgemeine Ver¬
ehrung bestimmt ist.


Tempel und Theater

irdische Wohlfahrt zu geben; da muß auch das gegenteilige Schicksal umso
tiefer ergreifen. Diese Götter und Heroen treten aber unter die gewöhnlichen
Menschen, sprechen und handeln unter ihnen und mit ihnen. So kommt auch
hier das nebenpersönliche Element herein, und anch hier gewinnt es allmählich
immer höheres Interesse und verselbständigt sich schließlich, sodaß die Menschen
selbst mit ihren kleinen Geschicken an Stelle der Heroen treten und das gigan¬
tische Schicksal beiseite schieben.

Auch bei den Griechen geschieht der entscheidende Schritt, der das Drama
schafft, im Kultus und zur Unterstützung des Kultus: es wird uns ausdrücklich
berichtet, daß das Drama aus dem Dithyrambus entstanden sei. Aber bei
den Griechen geschieht noch mehr. In einem Zustande der Entwicklung, wo
das griechische Drama schon vollständig als Kunstschöpfung auftritt, sich vom
Kultus schon gänzlich getrennt und verselbständigt zu haben scheint, steht es
doch noch so weit im Dienste des Kultus, daß es nur zur Feier der hohe»
Feste aufgeführt wird, daß der Altar als Mittelpunkt noch beibehalten bleibt,
daß der Chorgesang noch den Hauptteil bildet, die Handlung aber als Epeis-
odion, als Zwischenglied, in den Gesang hineintritt. In dem Maße jedoch,
wie allmählich der Kunstcharakter vorwiegt, wendet sich eine immer größere
Teilnahme der Handlung zu, der Chor tritt zurück, wird Nebensache und fällt
endlich, weil er das, was zur Hauptsache geworden ist, stört, vollständig weg,
und die von dem Kultus abgelöste Dichtung ist fertig.

Wenn nun aber hier die eigentümliche Erscheinung vorliegt, daß das
Drama auch als Kunstschöpfung noch seinen Charakter als Kultushaudlung
nicht aufgiebt, vielmehr seine ästhetische Gestaltung unmittelbar dem Kultus¬
gebrauch entnimmt und ihm möglichst anpaßt, so wird auch die Folgerung
berechtigt sein, daß das griechische Theater seine äußere Gestaltung gleichfalls
im Anschluß an die Anforderungen des Kultus gefunden habe, daß somit das
griechische Theater nichts andres sei, als der zum öffentlichen Kultus der Ge¬
meinde bestimmte Teil des griechischen Tempels. Und in der That lassen sich
die Eigentümlichkeiten des griechischen Theaters aus dieser Thatsache allein
vollständig verstehen.

Kein Bauwerk verdankt seine ursprüngliche Entstehung und somit auch
seine ursprüngliche Form einem ästhetischen Bedürfnis; es ist vielmehr Ge¬
brauchsgegenstand und genügt somit einem praktischen Bedürfnis. Aus der
Befriedigung dieses praktischen Bedürfnisses erwächst die Grundform des Bau¬
werkes. Der Tempel nun hat zunächst nur dem Bedürfnis zu genügen, daß
er der Gottheit und ihren: Bilde einen Wohnraum schafft. Aber nun will
auch die Gemeinde zu der Gottheit in Beziehung treten. Zwischen ihr und
der Gottheit steht die Priesterschaft, die diesen Verkehr vermittelt. Somit be¬
darf die Priesterschaft eines Raumes, der zwischeu dein Allerheiligsten und der
Gemeinde erscheint. Dort befindet sich der Altar, der für die allgemeine Ver¬
ehrung bestimmt ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/78>, abgerufen am 25.08.2024.