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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

meinte vermittelnde Priesterschaft nahm als besondern Raum die Vorhalle ein,
die hierfür notwendig war. Sie entsteht so, daß die vordere Querwand in
die beiden Laugwände nach dein Altar zu zurückgeschoben wird; erst später
wird der Antentempel der größern Freiheit des Um- und Einblickes zuliebe
aufgegeben, und die Borhalle wird nur von Säulen getragen. Sie gehört aber
auch dann noch zum Tempelhaus; das Giebeldach schließt sie init dem Tempel¬
räume zu eiuer Einheit zusammen. Vor der Vorhalle stand der Nltar, auf dem.
geopfert wurde, um ihn der Priesterchor, der die heilige Handlung mit Gesang
und Tanz begleitete. Um diese Gruppe stand die Gemeinde, naturgemäß im
Halbkreis an den Altar- und Tanzraum sich anschließend. Über dem Altar
aber, im Giebelfelde des Tempels, erschien die Gottheit selbst in ruhiger
Majestät, und zwar nicht einsam wie im Innern des Tempels, sondern so, daß
ihr Wirke" und Walten in der Welt und ihr Verkehr mit den Menschen
sichtbar wurde, daß ihr helfendes Eingreifen für jeden unmittelbar zum Be¬
wußtsein kommen mußte. Der griechische Tempel verhält sich hiernach zum
ägyptischen in der Weise, daß das griechische Tempelhaus dem Raume ent¬
spricht, wo bei den Ägyptern die Gottheit thront, die griechische Vorhalle und
der Altarraum dagegen dem Raume vor diesem Allerheiligsten, daß aber, da
die Gemeinde bei den Griechen einheitlich war und unter freiem Himmel stand,
eine Veranlassung zu den sich dort weiter anschließenden Räumen sich über¬
haupt nicht ergab.

Wenn uun auch in Griechenland der Kultus jeglicher Gottheit an das
Bild gebunden war, wenigstens soweit er die ganze Gemeinde betraf, so war
doch nicht in jedem Kultus die treibende Kraft vorhanden, die darauf hin¬
wirkte, daß die Gottheit lebendig unter die Gläubigen trat. Es ist vielmehr
ein ganz bestimmter Kultus, an den sich die Entstehung des Dramas angeknüpft
hat und vielleicht auch allem anknüpfe" konnte: der Kultus des Dionysos.
Dieser Gott, zu den Hauptgottheiten gehörig, ist aber halbmenschlicher Abkunft,
und menschenähnliches, kämpf- und leidensvolles Schicksal ist es, das ihn noch
vor seiner Geburt ergreift, ihn durch widrige Lebenswege führt, ihn seine An¬
erkennung als Gottheit erst nach schweren Kämpfen erringen, ihn selbst in den
Orkus hinabsteige" und endlich siegreich in den Olymp eingehen läßt. Dabei
ist er der Spender des Lebens in der Natur, ja er ist sie selbst, wie sie zum
Lebe" erwacht, sproßt und blüht, wie sie mit reichen Händen ihre Gaben
spendet, wie sie dann abwelkt, stirbt und endlich nach langem Todesschlafe
wieder neu zum Leben erwacht. So ruft sein Leben wie sein Wesen alle Em-
pfindungen des mitempfindenden Mensche" wach: er freut sich mit ihm, er
sorgt sich für ihn, er jubelt und jauchzt ihm dankerfüllt zu, er klagt und
jammert um ihn. So bot die Geschichte seines Lebens und Waltens deu
reichste" Stoff für die Einbildungskraft und die wirkungsvollste Anregung, der
Empfindung, die jeder Schritt seines Schicksals erweckte, lebendigsten Ausdruck


Tempel und Theater

meinte vermittelnde Priesterschaft nahm als besondern Raum die Vorhalle ein,
die hierfür notwendig war. Sie entsteht so, daß die vordere Querwand in
die beiden Laugwände nach dein Altar zu zurückgeschoben wird; erst später
wird der Antentempel der größern Freiheit des Um- und Einblickes zuliebe
aufgegeben, und die Borhalle wird nur von Säulen getragen. Sie gehört aber
auch dann noch zum Tempelhaus; das Giebeldach schließt sie init dem Tempel¬
räume zu eiuer Einheit zusammen. Vor der Vorhalle stand der Nltar, auf dem.
geopfert wurde, um ihn der Priesterchor, der die heilige Handlung mit Gesang
und Tanz begleitete. Um diese Gruppe stand die Gemeinde, naturgemäß im
Halbkreis an den Altar- und Tanzraum sich anschließend. Über dem Altar
aber, im Giebelfelde des Tempels, erschien die Gottheit selbst in ruhiger
Majestät, und zwar nicht einsam wie im Innern des Tempels, sondern so, daß
ihr Wirke» und Walten in der Welt und ihr Verkehr mit den Menschen
sichtbar wurde, daß ihr helfendes Eingreifen für jeden unmittelbar zum Be¬
wußtsein kommen mußte. Der griechische Tempel verhält sich hiernach zum
ägyptischen in der Weise, daß das griechische Tempelhaus dem Raume ent¬
spricht, wo bei den Ägyptern die Gottheit thront, die griechische Vorhalle und
der Altarraum dagegen dem Raume vor diesem Allerheiligsten, daß aber, da
die Gemeinde bei den Griechen einheitlich war und unter freiem Himmel stand,
eine Veranlassung zu den sich dort weiter anschließenden Räumen sich über¬
haupt nicht ergab.

Wenn uun auch in Griechenland der Kultus jeglicher Gottheit an das
Bild gebunden war, wenigstens soweit er die ganze Gemeinde betraf, so war
doch nicht in jedem Kultus die treibende Kraft vorhanden, die darauf hin¬
wirkte, daß die Gottheit lebendig unter die Gläubigen trat. Es ist vielmehr
ein ganz bestimmter Kultus, an den sich die Entstehung des Dramas angeknüpft
hat und vielleicht auch allem anknüpfe» konnte: der Kultus des Dionysos.
Dieser Gott, zu den Hauptgottheiten gehörig, ist aber halbmenschlicher Abkunft,
und menschenähnliches, kämpf- und leidensvolles Schicksal ist es, das ihn noch
vor seiner Geburt ergreift, ihn durch widrige Lebenswege führt, ihn seine An¬
erkennung als Gottheit erst nach schweren Kämpfen erringen, ihn selbst in den
Orkus hinabsteige» und endlich siegreich in den Olymp eingehen läßt. Dabei
ist er der Spender des Lebens in der Natur, ja er ist sie selbst, wie sie zum
Lebe» erwacht, sproßt und blüht, wie sie mit reichen Händen ihre Gaben
spendet, wie sie dann abwelkt, stirbt und endlich nach langem Todesschlafe
wieder neu zum Leben erwacht. So ruft sein Leben wie sein Wesen alle Em-
pfindungen des mitempfindenden Mensche» wach: er freut sich mit ihm, er
sorgt sich für ihn, er jubelt und jauchzt ihm dankerfüllt zu, er klagt und
jammert um ihn. So bot die Geschichte seines Lebens und Waltens deu
reichste» Stoff für die Einbildungskraft und die wirkungsvollste Anregung, der
Empfindung, die jeder Schritt seines Schicksals erweckte, lebendigsten Ausdruck


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[0080] Tempel und Theater meinte vermittelnde Priesterschaft nahm als besondern Raum die Vorhalle ein, die hierfür notwendig war. Sie entsteht so, daß die vordere Querwand in die beiden Laugwände nach dein Altar zu zurückgeschoben wird; erst später wird der Antentempel der größern Freiheit des Um- und Einblickes zuliebe aufgegeben, und die Borhalle wird nur von Säulen getragen. Sie gehört aber auch dann noch zum Tempelhaus; das Giebeldach schließt sie init dem Tempel¬ räume zu eiuer Einheit zusammen. Vor der Vorhalle stand der Nltar, auf dem. geopfert wurde, um ihn der Priesterchor, der die heilige Handlung mit Gesang und Tanz begleitete. Um diese Gruppe stand die Gemeinde, naturgemäß im Halbkreis an den Altar- und Tanzraum sich anschließend. Über dem Altar aber, im Giebelfelde des Tempels, erschien die Gottheit selbst in ruhiger Majestät, und zwar nicht einsam wie im Innern des Tempels, sondern so, daß ihr Wirke» und Walten in der Welt und ihr Verkehr mit den Menschen sichtbar wurde, daß ihr helfendes Eingreifen für jeden unmittelbar zum Be¬ wußtsein kommen mußte. Der griechische Tempel verhält sich hiernach zum ägyptischen in der Weise, daß das griechische Tempelhaus dem Raume ent¬ spricht, wo bei den Ägyptern die Gottheit thront, die griechische Vorhalle und der Altarraum dagegen dem Raume vor diesem Allerheiligsten, daß aber, da die Gemeinde bei den Griechen einheitlich war und unter freiem Himmel stand, eine Veranlassung zu den sich dort weiter anschließenden Räumen sich über¬ haupt nicht ergab. Wenn uun auch in Griechenland der Kultus jeglicher Gottheit an das Bild gebunden war, wenigstens soweit er die ganze Gemeinde betraf, so war doch nicht in jedem Kultus die treibende Kraft vorhanden, die darauf hin¬ wirkte, daß die Gottheit lebendig unter die Gläubigen trat. Es ist vielmehr ein ganz bestimmter Kultus, an den sich die Entstehung des Dramas angeknüpft hat und vielleicht auch allem anknüpfe» konnte: der Kultus des Dionysos. Dieser Gott, zu den Hauptgottheiten gehörig, ist aber halbmenschlicher Abkunft, und menschenähnliches, kämpf- und leidensvolles Schicksal ist es, das ihn noch vor seiner Geburt ergreift, ihn durch widrige Lebenswege führt, ihn seine An¬ erkennung als Gottheit erst nach schweren Kämpfen erringen, ihn selbst in den Orkus hinabsteige» und endlich siegreich in den Olymp eingehen läßt. Dabei ist er der Spender des Lebens in der Natur, ja er ist sie selbst, wie sie zum Lebe» erwacht, sproßt und blüht, wie sie mit reichen Händen ihre Gaben spendet, wie sie dann abwelkt, stirbt und endlich nach langem Todesschlafe wieder neu zum Leben erwacht. So ruft sein Leben wie sein Wesen alle Em- pfindungen des mitempfindenden Mensche» wach: er freut sich mit ihm, er sorgt sich für ihn, er jubelt und jauchzt ihm dankerfüllt zu, er klagt und jammert um ihn. So bot die Geschichte seines Lebens und Waltens deu reichste» Stoff für die Einbildungskraft und die wirkungsvollste Anregung, der Empfindung, die jeder Schritt seines Schicksals erweckte, lebendigsten Ausdruck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/80>, abgerufen am 23.07.2024.