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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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und Geisteswissenschaft in ihren innersten Beziehungen zur Sprache: die Kraft¬
begriffe der reinen Physik, der Kontinuitätsbegriff der Äcathematik und ihr
System der Fiinktivnen, Materie, namentlich eine sehr geistreiche Zergliederung
der Dcscendenztheorie nach ihren sich widerstreitenden Voraussetzungen und eine
systematische Erörterung der Frage "ach den Gesetzen geistiger Entwicklung.
Hieran knüpft der vierte Abschnitt die letzten Voraussetzungen über Natur,
Seele, Gott. Die Idee des Unendlichen in Raum und Zeit, der Einzelseele,
des geistigen Gesamtbegriffes (inwllecws inümw", Weltgeist, Weltseele, Welt¬
wille) , der individuellen und der universellen Einheitsidee werden hier mit
strenger Sachlichkeit und gerechter historischer Würdigung der philosophischen
Staudpunkte, doch nicht ohne Wärme und edle ideale Begeisterung der
allgemeinsten Fassungskraft nahegebracht. Dieser Abschnitt wendet sich nament¬
lich an die gebildete Gesamtheit in ihrer weitesten Beziehung ohne gelehrte
Ansprüche, ohne Rücksicht des Bekenntnisses und der Partei. Hier wandelt
sich die unsterbliche Seele in den Grund immerwährender Thätigkeit, die
geistige Einheitsidee in das sittliche Ideal der Menschheit um, das "an sich
kein absolut, sondern nur ein relativ unendliches ist, weil es vermöge der
Naturbedingungen menschlichen Wirkens stets in gewisse Grenzen gebannt bleibt."
"Hiernach besteht die Gottesidee in der Forderung eines Grundes, zu dem
als letzte Folge aller menschlichen Entwicklung vorausgesetzten Menschheitsideal
und in der Erweiterung der blos; relativen Unendlichkeit jener Folge in dieser
ihrer Rückbeziehnng auf den Grund zu einer absoluten Unendlichkeit. In
diesem Sinne behält der Ausspruch Kants seine Geltung, der einzig mögliche
Beweis für das Dasein Gottes sei der moralische. Nur ist der Ausdruck
Beweis hier nicht zulässig." Denn die Vernnnftideen sind überhaupt nicht
beweisbar, wenn sie sich nicht selbst beweisen.

Ans diesem soliden Untergrunde errichtet nun Wundt in den beiden letzten
größten Abschnitte" sein System der Nntnr- und Geistesphilvsophie, das sich
bescheiden ans "Hauptpunkte" und "Grundzüge" zu beschränken vorgiebt. Es
kommt hierbei alles zu gediegener Erörterung und möglichster .Klärung, was
ohne völliges Eingehen aus Litteratur und jeweiliges Material der Einzel-
fragen beansprucht werden kann. Das Problem der Materie, des physikalischen
Substanzbegrisfes, die Lehre von quantitativen Verhältnissen der Elemente
oder beharrlichen Grundqualitäten, der Gegensatz zwischen Kontinuitätshypvthesc
und Atomistik, ihre Forme" als Theorie geometrischer Atome (absolut
starrer oder absolut elastischer Körper) und dynamischer Atome (Krnftpuutte) --
lind ihre Schwierigkeiten, dieser Kreis von Fragen bildet den ersten Haupt¬
punkt der Naturphilosophie. Daran schließt sich eine ausgeführte Prinzipienlehre
der Mechanik mit dem Gesetze der Erhaltung der Kraft als Abschluß, sowie eine
ins Einzelne der Naturwissenschaft sich erstreckende Erörterung der gegenwärtig
im Meinnngsstreit so ans die Spitze getriebenen kosmologischen und biologischen


Ivuüdts Lysti'in der ^>>ii>os^'l?w

und Geisteswissenschaft in ihren innersten Beziehungen zur Sprache: die Kraft¬
begriffe der reinen Physik, der Kontinuitätsbegriff der Äcathematik und ihr
System der Fiinktivnen, Materie, namentlich eine sehr geistreiche Zergliederung
der Dcscendenztheorie nach ihren sich widerstreitenden Voraussetzungen und eine
systematische Erörterung der Frage »ach den Gesetzen geistiger Entwicklung.
Hieran knüpft der vierte Abschnitt die letzten Voraussetzungen über Natur,
Seele, Gott. Die Idee des Unendlichen in Raum und Zeit, der Einzelseele,
des geistigen Gesamtbegriffes (inwllecws inümw«, Weltgeist, Weltseele, Welt¬
wille) , der individuellen und der universellen Einheitsidee werden hier mit
strenger Sachlichkeit und gerechter historischer Würdigung der philosophischen
Staudpunkte, doch nicht ohne Wärme und edle ideale Begeisterung der
allgemeinsten Fassungskraft nahegebracht. Dieser Abschnitt wendet sich nament¬
lich an die gebildete Gesamtheit in ihrer weitesten Beziehung ohne gelehrte
Ansprüche, ohne Rücksicht des Bekenntnisses und der Partei. Hier wandelt
sich die unsterbliche Seele in den Grund immerwährender Thätigkeit, die
geistige Einheitsidee in das sittliche Ideal der Menschheit um, das „an sich
kein absolut, sondern nur ein relativ unendliches ist, weil es vermöge der
Naturbedingungen menschlichen Wirkens stets in gewisse Grenzen gebannt bleibt."
„Hiernach besteht die Gottesidee in der Forderung eines Grundes, zu dem
als letzte Folge aller menschlichen Entwicklung vorausgesetzten Menschheitsideal
und in der Erweiterung der blos; relativen Unendlichkeit jener Folge in dieser
ihrer Rückbeziehnng auf den Grund zu einer absoluten Unendlichkeit. In
diesem Sinne behält der Ausspruch Kants seine Geltung, der einzig mögliche
Beweis für das Dasein Gottes sei der moralische. Nur ist der Ausdruck
Beweis hier nicht zulässig." Denn die Vernnnftideen sind überhaupt nicht
beweisbar, wenn sie sich nicht selbst beweisen.

Ans diesem soliden Untergrunde errichtet nun Wundt in den beiden letzten
größten Abschnitte» sein System der Nntnr- und Geistesphilvsophie, das sich
bescheiden ans „Hauptpunkte" und „Grundzüge" zu beschränken vorgiebt. Es
kommt hierbei alles zu gediegener Erörterung und möglichster .Klärung, was
ohne völliges Eingehen aus Litteratur und jeweiliges Material der Einzel-
fragen beansprucht werden kann. Das Problem der Materie, des physikalischen
Substanzbegrisfes, die Lehre von quantitativen Verhältnissen der Elemente
oder beharrlichen Grundqualitäten, der Gegensatz zwischen Kontinuitätshypvthesc
und Atomistik, ihre Forme» als Theorie geometrischer Atome (absolut
starrer oder absolut elastischer Körper) und dynamischer Atome (Krnftpuutte) —
lind ihre Schwierigkeiten, dieser Kreis von Fragen bildet den ersten Haupt¬
punkt der Naturphilosophie. Daran schließt sich eine ausgeführte Prinzipienlehre
der Mechanik mit dem Gesetze der Erhaltung der Kraft als Abschluß, sowie eine
ins Einzelne der Naturwissenschaft sich erstreckende Erörterung der gegenwärtig
im Meinnngsstreit so ans die Spitze getriebenen kosmologischen und biologischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/607>, abgerufen am 23.07.2024.