Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mmiols System der Philosophie

Probleme, Stabilität oder Entwicklung, Teleologie oder Hylozoismus, orga¬
nische Variabilität, Differenzirung, Vererbung, Allein das Ziel der natur¬
wissenschaftlichen Auffassung des Lebeus, die Mechanisirnng des Lebe"svvrga"ges
(als Selbstregnlirung im entwickelten Organismus) ist so wenig das letzte Wort
der Wissenschaft, daß es erst den Ausgangspunkt bildet für die philosophische
Erfassung des (Geistes, als des Lebensprinzips, Denn jeder durch Übung
inechanisirte Lebeiisvvrgang ist ursprünglich willkürlicher Akt gewesen und ruft
schließlich die Frage nach seine", psychologischen tlrgrnnde hervor. Die Natur
erscheint so mis Vorstufe des Geiste?, sie ist in ihrem eignen Sein Selbstent-
wicklilng de5 Geistes, So findet das Problem des Geistes seine logisch gerecht¬
fertigte, metaphysische Los""g. Ein kurzer, aber kviizentrirter Abriß der
Psychologie führt unmittelbar zur Anwendung ihrer Ergebnisse auf die prak¬
tischen Probleme der geistigen Welt, die sozialen, historischen, religiösen, ästhe¬
tischen. Diese Reihenfolge hält Wundt ein. Die ästhetische Anschanung
scheint ihm als lebendige Vermittlung zwischen theoretischem Erkennen
und praktischem Handeln eine abschließende Stellung in der Philosophie
des Geistes einzunehmen. Die Überzeugung von dein objektiven Werte
aller geistigen Lebensinhalte, die Überzeugung, daß jeder dieser Lebens¬
inhalte einen in. ihm selbst begründeten, nur nach seiner eignen Bedeutung zu
schätzenden Wert, eine nie endende, unvergänglich fortwirkende Bedeutung habe,
diese Überzeugung ist zugleich die Quelle des sittlichen Urteils und der letzte
Ursprung der religiösen Ideen. "Aber wahrend die philosophische Form der
sittlichen und religiösen Ideen diese Überzeugung erst uns dem Wege mannichfacher
Gedankcnvermittlungen gewinnt, enthüllt die ästhetische Betrachtung dieselbe
mit der unwiderstehlichen Gewalt lebendiger Anschauung."

Wir haben unter Verzicht ans kritische Hervorhebung einzelner Punkte
und prinzipielle Erörterungen hiermit den Inhalt des Werkes bei aller
Kürze möglichst ausreichend und getreu, soweit es anging, unter Beibehaltung
von des Verfassers eignen, Ausdruck dargestellt. Jeder Leser, der zur Philo¬
sophie und zur Methvdeulehre in einem nähern Verhältnisse steht, wird
hoffentlich daraus entnehmen können, was er hier findet. Aber auch
die Fernerstehenden, die Praktiker auf alle" Gebieten, die Spezialisten, Empiriker
aus Neigung, Bequemlichkeit oder Scheu vor aller Philosophie, selbst der
weiter ausschauende Politiker, der gebildete Künstler mag auf das Werk als
Handbuch in allen Prinzipienfragen, die ihnen zu schaffe" macheu können,
hiermit el"- für allemal verwiesen sein. Wir wüßten gegenwärtig und wohl
"och für geraume Zeit kei" Buch, das das Wissen und den Stand der Er¬
kenntnis zur Zeit so umfassend und so klar zum Ausdruck brächte, und das
man wohl von jedem der Standpunkte aus, an denen die Zeit so reich ist,
mit so gutem Gewissen empfehlen konnte. Wer freilich Sensation, Aufregung,
Pitantene und Paradvrie mit Verzicht ans wirkliches Wissen und Vorurteil-


Mmiols System der Philosophie

Probleme, Stabilität oder Entwicklung, Teleologie oder Hylozoismus, orga¬
nische Variabilität, Differenzirung, Vererbung, Allein das Ziel der natur¬
wissenschaftlichen Auffassung des Lebeus, die Mechanisirnng des Lebe»svvrga»ges
(als Selbstregnlirung im entwickelten Organismus) ist so wenig das letzte Wort
der Wissenschaft, daß es erst den Ausgangspunkt bildet für die philosophische
Erfassung des (Geistes, als des Lebensprinzips, Denn jeder durch Übung
inechanisirte Lebeiisvvrgang ist ursprünglich willkürlicher Akt gewesen und ruft
schließlich die Frage nach seine», psychologischen tlrgrnnde hervor. Die Natur
erscheint so mis Vorstufe des Geiste?, sie ist in ihrem eignen Sein Selbstent-
wicklilng de5 Geistes, So findet das Problem des Geistes seine logisch gerecht¬
fertigte, metaphysische Los»»g. Ein kurzer, aber kviizentrirter Abriß der
Psychologie führt unmittelbar zur Anwendung ihrer Ergebnisse auf die prak¬
tischen Probleme der geistigen Welt, die sozialen, historischen, religiösen, ästhe¬
tischen. Diese Reihenfolge hält Wundt ein. Die ästhetische Anschanung
scheint ihm als lebendige Vermittlung zwischen theoretischem Erkennen
und praktischem Handeln eine abschließende Stellung in der Philosophie
des Geistes einzunehmen. Die Überzeugung von dein objektiven Werte
aller geistigen Lebensinhalte, die Überzeugung, daß jeder dieser Lebens¬
inhalte einen in. ihm selbst begründeten, nur nach seiner eignen Bedeutung zu
schätzenden Wert, eine nie endende, unvergänglich fortwirkende Bedeutung habe,
diese Überzeugung ist zugleich die Quelle des sittlichen Urteils und der letzte
Ursprung der religiösen Ideen. „Aber wahrend die philosophische Form der
sittlichen und religiösen Ideen diese Überzeugung erst uns dem Wege mannichfacher
Gedankcnvermittlungen gewinnt, enthüllt die ästhetische Betrachtung dieselbe
mit der unwiderstehlichen Gewalt lebendiger Anschauung."

Wir haben unter Verzicht ans kritische Hervorhebung einzelner Punkte
und prinzipielle Erörterungen hiermit den Inhalt des Werkes bei aller
Kürze möglichst ausreichend und getreu, soweit es anging, unter Beibehaltung
von des Verfassers eignen, Ausdruck dargestellt. Jeder Leser, der zur Philo¬
sophie und zur Methvdeulehre in einem nähern Verhältnisse steht, wird
hoffentlich daraus entnehmen können, was er hier findet. Aber auch
die Fernerstehenden, die Praktiker auf alle» Gebieten, die Spezialisten, Empiriker
aus Neigung, Bequemlichkeit oder Scheu vor aller Philosophie, selbst der
weiter ausschauende Politiker, der gebildete Künstler mag auf das Werk als
Handbuch in allen Prinzipienfragen, die ihnen zu schaffe» macheu können,
hiermit el»- für allemal verwiesen sein. Wir wüßten gegenwärtig und wohl
»och für geraume Zeit kei» Buch, das das Wissen und den Stand der Er¬
kenntnis zur Zeit so umfassend und so klar zum Ausdruck brächte, und das
man wohl von jedem der Standpunkte aus, an denen die Zeit so reich ist,
mit so gutem Gewissen empfehlen konnte. Wer freilich Sensation, Aufregung,
Pitantene und Paradvrie mit Verzicht ans wirkliches Wissen und Vorurteil-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0608" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209187"/>
          <fw type="header" place="top"> Mmiols System der Philosophie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1803" prev="#ID_1802"> Probleme, Stabilität oder Entwicklung, Teleologie oder Hylozoismus, orga¬<lb/>
nische Variabilität, Differenzirung, Vererbung, Allein das Ziel der natur¬<lb/>
wissenschaftlichen Auffassung des Lebeus, die Mechanisirnng des Lebe»svvrga»ges<lb/>
(als Selbstregnlirung im entwickelten Organismus) ist so wenig das letzte Wort<lb/>
der Wissenschaft, daß es erst den Ausgangspunkt bildet für die philosophische<lb/>
Erfassung des (Geistes, als des Lebensprinzips, Denn jeder durch Übung<lb/>
inechanisirte Lebeiisvvrgang ist ursprünglich willkürlicher Akt gewesen und ruft<lb/>
schließlich die Frage nach seine», psychologischen tlrgrnnde hervor. Die Natur<lb/>
erscheint so mis Vorstufe des Geiste?, sie ist in ihrem eignen Sein Selbstent-<lb/>
wicklilng de5 Geistes, So findet das Problem des Geistes seine logisch gerecht¬<lb/>
fertigte, metaphysische Los»»g. Ein kurzer, aber kviizentrirter Abriß der<lb/>
Psychologie führt unmittelbar zur Anwendung ihrer Ergebnisse auf die prak¬<lb/>
tischen Probleme der geistigen Welt, die sozialen, historischen, religiösen, ästhe¬<lb/>
tischen. Diese Reihenfolge hält Wundt ein. Die ästhetische Anschanung<lb/>
scheint ihm als lebendige Vermittlung zwischen theoretischem Erkennen<lb/>
und praktischem Handeln eine abschließende Stellung in der Philosophie<lb/>
des Geistes einzunehmen. Die Überzeugung von dein objektiven Werte<lb/>
aller geistigen Lebensinhalte, die Überzeugung, daß jeder dieser Lebens¬<lb/>
inhalte einen in. ihm selbst begründeten, nur nach seiner eignen Bedeutung zu<lb/>
schätzenden Wert, eine nie endende, unvergänglich fortwirkende Bedeutung habe,<lb/>
diese Überzeugung ist zugleich die Quelle des sittlichen Urteils und der letzte<lb/>
Ursprung der religiösen Ideen. &#x201E;Aber wahrend die philosophische Form der<lb/>
sittlichen und religiösen Ideen diese Überzeugung erst uns dem Wege mannichfacher<lb/>
Gedankcnvermittlungen gewinnt, enthüllt die ästhetische Betrachtung dieselbe<lb/>
mit der unwiderstehlichen Gewalt lebendiger Anschauung."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1804" next="#ID_1805"> Wir haben unter Verzicht ans kritische Hervorhebung einzelner Punkte<lb/>
und prinzipielle Erörterungen hiermit den Inhalt des Werkes bei aller<lb/>
Kürze möglichst ausreichend und getreu, soweit es anging, unter Beibehaltung<lb/>
von des Verfassers eignen, Ausdruck dargestellt. Jeder Leser, der zur Philo¬<lb/>
sophie und zur Methvdeulehre in einem nähern Verhältnisse steht, wird<lb/>
hoffentlich daraus entnehmen können, was er hier findet. Aber auch<lb/>
die Fernerstehenden, die Praktiker auf alle» Gebieten, die Spezialisten, Empiriker<lb/>
aus Neigung, Bequemlichkeit oder Scheu vor aller Philosophie, selbst der<lb/>
weiter ausschauende Politiker, der gebildete Künstler mag auf das Werk als<lb/>
Handbuch in allen Prinzipienfragen, die ihnen zu schaffe» macheu können,<lb/>
hiermit el»- für allemal verwiesen sein. Wir wüßten gegenwärtig und wohl<lb/>
»och für geraume Zeit kei» Buch, das das Wissen und den Stand der Er¬<lb/>
kenntnis zur Zeit so umfassend und so klar zum Ausdruck brächte, und das<lb/>
man wohl von jedem der Standpunkte aus, an denen die Zeit so reich ist,<lb/>
mit so gutem Gewissen empfehlen konnte. Wer freilich Sensation, Aufregung,<lb/>
Pitantene und Paradvrie mit Verzicht ans wirkliches Wissen und Vorurteil-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0608] Mmiols System der Philosophie Probleme, Stabilität oder Entwicklung, Teleologie oder Hylozoismus, orga¬ nische Variabilität, Differenzirung, Vererbung, Allein das Ziel der natur¬ wissenschaftlichen Auffassung des Lebeus, die Mechanisirnng des Lebe»svvrga»ges (als Selbstregnlirung im entwickelten Organismus) ist so wenig das letzte Wort der Wissenschaft, daß es erst den Ausgangspunkt bildet für die philosophische Erfassung des (Geistes, als des Lebensprinzips, Denn jeder durch Übung inechanisirte Lebeiisvvrgang ist ursprünglich willkürlicher Akt gewesen und ruft schließlich die Frage nach seine», psychologischen tlrgrnnde hervor. Die Natur erscheint so mis Vorstufe des Geiste?, sie ist in ihrem eignen Sein Selbstent- wicklilng de5 Geistes, So findet das Problem des Geistes seine logisch gerecht¬ fertigte, metaphysische Los»»g. Ein kurzer, aber kviizentrirter Abriß der Psychologie führt unmittelbar zur Anwendung ihrer Ergebnisse auf die prak¬ tischen Probleme der geistigen Welt, die sozialen, historischen, religiösen, ästhe¬ tischen. Diese Reihenfolge hält Wundt ein. Die ästhetische Anschanung scheint ihm als lebendige Vermittlung zwischen theoretischem Erkennen und praktischem Handeln eine abschließende Stellung in der Philosophie des Geistes einzunehmen. Die Überzeugung von dein objektiven Werte aller geistigen Lebensinhalte, die Überzeugung, daß jeder dieser Lebens¬ inhalte einen in. ihm selbst begründeten, nur nach seiner eignen Bedeutung zu schätzenden Wert, eine nie endende, unvergänglich fortwirkende Bedeutung habe, diese Überzeugung ist zugleich die Quelle des sittlichen Urteils und der letzte Ursprung der religiösen Ideen. „Aber wahrend die philosophische Form der sittlichen und religiösen Ideen diese Überzeugung erst uns dem Wege mannichfacher Gedankcnvermittlungen gewinnt, enthüllt die ästhetische Betrachtung dieselbe mit der unwiderstehlichen Gewalt lebendiger Anschauung." Wir haben unter Verzicht ans kritische Hervorhebung einzelner Punkte und prinzipielle Erörterungen hiermit den Inhalt des Werkes bei aller Kürze möglichst ausreichend und getreu, soweit es anging, unter Beibehaltung von des Verfassers eignen, Ausdruck dargestellt. Jeder Leser, der zur Philo¬ sophie und zur Methvdeulehre in einem nähern Verhältnisse steht, wird hoffentlich daraus entnehmen können, was er hier findet. Aber auch die Fernerstehenden, die Praktiker auf alle» Gebieten, die Spezialisten, Empiriker aus Neigung, Bequemlichkeit oder Scheu vor aller Philosophie, selbst der weiter ausschauende Politiker, der gebildete Künstler mag auf das Werk als Handbuch in allen Prinzipienfragen, die ihnen zu schaffe» macheu können, hiermit el»- für allemal verwiesen sein. Wir wüßten gegenwärtig und wohl »och für geraume Zeit kei» Buch, das das Wissen und den Stand der Er¬ kenntnis zur Zeit so umfassend und so klar zum Ausdruck brächte, und das man wohl von jedem der Standpunkte aus, an denen die Zeit so reich ist, mit so gutem Gewissen empfehlen konnte. Wer freilich Sensation, Aufregung, Pitantene und Paradvrie mit Verzicht ans wirkliches Wissen und Vorurteil-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/608
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/608>, abgerufen am 23.07.2024.