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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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^vnndts System der Philosophie

die Porrede äußert, daß der Verfasser den radikalen Philosophieverueineru
gegeniiber die Zukunft der Philosophie stets in die Fühlung mit deu Einzel¬
wissenschaften gesetzt habe und ihre Berechtigung in die positiven Dienste, die
sie ihnen leistet, so hat er sich in dieser Zukunft nicht getäuscht und liefert in
seinem System eine stattliche vorläufige Bilanz dieser Dienstleistungen, An
den Jahren, wo man von der Philosophie als "Begriffsdichtnng" aphoristischer
Konstruktion u, s, w, mit dem Achselzucken sprach, das sich uicht der zu über>
windende, souderu der überwundene Standpunkt gefallen lassen mich, aHute man
nicht, das; das naturwissenschaftliche Jahrhundert, die Geschlechter des umttor
>>t dree, die "unphilosophische Zeit," wie sie sich wohl mit schlecht angebrachten
Geusenstvlz selbst gelegentlich nannte, an der Neige wieder an das Zeitalter
der verhaßten "Ideologie" anknüpfen würde, die im Grunde genommen doch
auch manchem Nützliche und Praktische hatte. Aber Not lehrt nicht bloß beten,
sondern anch philosophiren,,

Diese philosophische Not empfindet mit der Gesamtlage gegenwärtig
anch die Gesamtwissenschaft oder vielmehr das Heer der sie ersetzenden (oder
sie ersetzen "vollenden) bis ins einzelnste zersplitterten Einzelwissenschasten, Ein
derartiger philosophischer Katechismus, der das Ganze und die Einzelnen ins
Gebet nimmt und im einzelnen ausführt, wo eS fehlt, ist daher nach jeder
Richtung hin ersprießlich, wenn er auch die Eigenschaft des Katechismus teilen
sollte, leichter auswendig gelernt als beachtet und verstanden zu werden.

Nun meine man aber nicht, daß sich hier unter dem AuShäugeschilde des
Systems eigentlich eine Encyklopädie verberge! Auch nicht eine Philosophische
Encyklopädie im Sinne Hegels, als Kanon der Wissenschaften unter einer
leitenden spekulativen Idee, Form und Organisation des Wnndtschen Werkes
halten sich streng an die Architektonik der "reinen Vernunft," wie sie Kant zu¬
erst als theoretisches Bedürfnis des Erkenntnisvermögens an sich festgestellt
nud entworfen hat. Weder metaphysische Spekulation, die sich hoch über dem
Roben der Erfahrung selbst vernichtet, noch empirisches schematisiren und
Klassisiziren, das sich selbst erzeugt und ohne methodische Grundlage halt- und
ziellos im Ungewissen schwankt, sonder" kritische Durchdringung des Einzelnen
in der Gesamtheit der Erfahrung dnrch rationale Prinzipien soll hier zur
Geltung gelangen. Das System macht sich daher in der Einleitung an eine
kritische Bestimmung seines Zweckes im allgemeinen, seines Verhältnisses zur
Religion, die sich ethisch und praktisch dieselbe Aufgabe stellt, wie die Philo¬
sophie scientifisch und theoretisch, des Verhältnisses zu den Einzelwissenschasten
und wie bereits hervorgehoben wurde, bei Wunde im engsten Anschluß
daran ^ an die Bestimmung der Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie.
Diese erscheint demnach als die "allgemeine Wissenschaft, welche die durch die
Einzelwissenschasten vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchs¬
losen System zu vereinigen hat,"


^vnndts System der Philosophie

die Porrede äußert, daß der Verfasser den radikalen Philosophieverueineru
gegeniiber die Zukunft der Philosophie stets in die Fühlung mit deu Einzel¬
wissenschaften gesetzt habe und ihre Berechtigung in die positiven Dienste, die
sie ihnen leistet, so hat er sich in dieser Zukunft nicht getäuscht und liefert in
seinem System eine stattliche vorläufige Bilanz dieser Dienstleistungen, An
den Jahren, wo man von der Philosophie als „Begriffsdichtnng" aphoristischer
Konstruktion u, s, w, mit dem Achselzucken sprach, das sich uicht der zu über>
windende, souderu der überwundene Standpunkt gefallen lassen mich, aHute man
nicht, das; das naturwissenschaftliche Jahrhundert, die Geschlechter des umttor
>>t dree, die „unphilosophische Zeit," wie sie sich wohl mit schlecht angebrachten
Geusenstvlz selbst gelegentlich nannte, an der Neige wieder an das Zeitalter
der verhaßten „Ideologie" anknüpfen würde, die im Grunde genommen doch
auch manchem Nützliche und Praktische hatte. Aber Not lehrt nicht bloß beten,
sondern anch philosophiren,,

Diese philosophische Not empfindet mit der Gesamtlage gegenwärtig
anch die Gesamtwissenschaft oder vielmehr das Heer der sie ersetzenden (oder
sie ersetzen »vollenden) bis ins einzelnste zersplitterten Einzelwissenschasten, Ein
derartiger philosophischer Katechismus, der das Ganze und die Einzelnen ins
Gebet nimmt und im einzelnen ausführt, wo eS fehlt, ist daher nach jeder
Richtung hin ersprießlich, wenn er auch die Eigenschaft des Katechismus teilen
sollte, leichter auswendig gelernt als beachtet und verstanden zu werden.

Nun meine man aber nicht, daß sich hier unter dem AuShäugeschilde des
Systems eigentlich eine Encyklopädie verberge! Auch nicht eine Philosophische
Encyklopädie im Sinne Hegels, als Kanon der Wissenschaften unter einer
leitenden spekulativen Idee, Form und Organisation des Wnndtschen Werkes
halten sich streng an die Architektonik der „reinen Vernunft," wie sie Kant zu¬
erst als theoretisches Bedürfnis des Erkenntnisvermögens an sich festgestellt
nud entworfen hat. Weder metaphysische Spekulation, die sich hoch über dem
Roben der Erfahrung selbst vernichtet, noch empirisches schematisiren und
Klassisiziren, das sich selbst erzeugt und ohne methodische Grundlage halt- und
ziellos im Ungewissen schwankt, sonder» kritische Durchdringung des Einzelnen
in der Gesamtheit der Erfahrung dnrch rationale Prinzipien soll hier zur
Geltung gelangen. Das System macht sich daher in der Einleitung an eine
kritische Bestimmung seines Zweckes im allgemeinen, seines Verhältnisses zur
Religion, die sich ethisch und praktisch dieselbe Aufgabe stellt, wie die Philo¬
sophie scientifisch und theoretisch, des Verhältnisses zu den Einzelwissenschasten
und wie bereits hervorgehoben wurde, bei Wunde im engsten Anschluß
daran ^ an die Bestimmung der Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie.
Diese erscheint demnach als die „allgemeine Wissenschaft, welche die durch die
Einzelwissenschasten vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchs¬
losen System zu vereinigen hat,"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/603>, abgerufen am 25.08.2024.