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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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UMndts System der Philosophie

Nach einer Gliederung der Einzelwissenschaften nicht nach den äußerlichen
"Fächern," sondern von theoretischem Gesichtspunkte wendet sich die Unter¬
suchung zunächst dem wissenschaftlichen Instrument, dem Denken, zu. Im
Denkprozesse selbst liegt schon die Erkenntnis, das Ziel der Wissenschaft vor¬
gebildet, Zweifel am Denken macht jede Möglichkeit der Erkenntnis zu nichte.
Und was ist Denken? Es ist subjektive Thätigkeit im allgemeinsten, es ist
-- genauer nach den Merkmale" bestimmt, die uus innere Erfahrung giebt --
selbstbewußte Thätigkeit nach der Willensseite des Bewußtseins, beziehende
Thätigkeit nach der Seite der Vorstellungen, die seinen Inhalt ausmachen.
Die Formen des Denkens sind Urteile und Begriffe, die Grundformen der
ersteren, erzählende und beschreibende Urteile, erzeugen in und durch sich die
Klassen der letzteren: Gegenstands-, Zustands-, Eigeuschaftsbegriffe, Die zweite
Stufe des Urteils bringt nur noch Gegeustandsbegriffe, deren Verhältnisse sie
auseinanderlegt. Dem Urteil, seinen Bildungen und Berbiudungeu gegenüber
steht -- negativ und positiv - Verneinung und Schluß, die Grundgesetze des
Denkens (Identität und Widerspruch, Satz des Grundes) bestimmend.

Der zweite Abschnitt tritt nun an das Ziel des wissenschaftlichen Denkens,
die Erkenntnis selbst, heran. Das Denken ist voraussetzungslos. "Ob die
Vorstellungen Objekte" entsprechen, und ob in den Gedankenverbindungen
Wechselbeziehungen der Objekte sich wiederfinden, bleibt für das Denken anßer
Frage." Diese Frage nach der Realität solcher Objekte und objektiver Ver¬
bindungen ist Erkenntnisprozeß, die daraus gewonnene Überzeugung Erkenntnis.
Allein der Denkprozeß ist wohl die Bedingung, aber keineswegs der ursprüng¬
liche Schöpfer der Erkenntnis, der "in der zeitlichen Entwicklung unbedingt
frühere" Akt. "So verbreitet diese Ansicht ist, so falsch ist sie." Denken
und Erkennen sind ursprünglich eines, sie repräsentiren die Einheit des Denkens
und Seins. Es giebt eine naive und eine reflektirende Stufe der Erkenntnis.
Jene zeigt die erste naive Form der ungestörten Einheit von Deuten und Er¬
kennen, die "den Unterschied zwischen Vorstellung und Objekt noch nicht kennt."
Alles Erkennen geht aber notwendig zur zweiten Stufe über, auf der man sich
dieses Unterschiedes bewußt wird sreflektirende Erkenntnis), aber nun gewöhnlich
den Fehler begeht, die Brücke zu der erste" Stufe ganz hinter sich abzubrechen.
Daher der Riß zwischen Denken und Erkennen. Denken und Sein. An diesen
ersten schließt sich unvermeidlich ein zweiter folgenschwerer Irrtum, der Zweifel
an der gegenseitigen wirklichen Entsprechung von Vorstellung und Objekt, die
Erdichtung eines von der Vorstellung völlig verschiedenen Dinges an sich, und
die aus diese"? Zweifel hervorgehende radikale Verneinung des Objekts, die
Proklamirung der absoluten Subjektivität der Vorstellung durch deu empirischen
Idealisnnis (Berkeley, Fichte). Eine Rettung aus dieser Verwirrung giebt es
nur, wenn man sich der Motive zu der vorgenommenen Scheidung von Vor-
stellung und Objekt stets bewußt bleibt. Diese Motive der Unterscheidung


UMndts System der Philosophie

Nach einer Gliederung der Einzelwissenschaften nicht nach den äußerlichen
„Fächern," sondern von theoretischem Gesichtspunkte wendet sich die Unter¬
suchung zunächst dem wissenschaftlichen Instrument, dem Denken, zu. Im
Denkprozesse selbst liegt schon die Erkenntnis, das Ziel der Wissenschaft vor¬
gebildet, Zweifel am Denken macht jede Möglichkeit der Erkenntnis zu nichte.
Und was ist Denken? Es ist subjektive Thätigkeit im allgemeinsten, es ist
— genauer nach den Merkmale» bestimmt, die uus innere Erfahrung giebt —
selbstbewußte Thätigkeit nach der Willensseite des Bewußtseins, beziehende
Thätigkeit nach der Seite der Vorstellungen, die seinen Inhalt ausmachen.
Die Formen des Denkens sind Urteile und Begriffe, die Grundformen der
ersteren, erzählende und beschreibende Urteile, erzeugen in und durch sich die
Klassen der letzteren: Gegenstands-, Zustands-, Eigeuschaftsbegriffe, Die zweite
Stufe des Urteils bringt nur noch Gegeustandsbegriffe, deren Verhältnisse sie
auseinanderlegt. Dem Urteil, seinen Bildungen und Berbiudungeu gegenüber
steht — negativ und positiv - Verneinung und Schluß, die Grundgesetze des
Denkens (Identität und Widerspruch, Satz des Grundes) bestimmend.

Der zweite Abschnitt tritt nun an das Ziel des wissenschaftlichen Denkens,
die Erkenntnis selbst, heran. Das Denken ist voraussetzungslos. „Ob die
Vorstellungen Objekte» entsprechen, und ob in den Gedankenverbindungen
Wechselbeziehungen der Objekte sich wiederfinden, bleibt für das Denken anßer
Frage." Diese Frage nach der Realität solcher Objekte und objektiver Ver¬
bindungen ist Erkenntnisprozeß, die daraus gewonnene Überzeugung Erkenntnis.
Allein der Denkprozeß ist wohl die Bedingung, aber keineswegs der ursprüng¬
liche Schöpfer der Erkenntnis, der „in der zeitlichen Entwicklung unbedingt
frühere" Akt. „So verbreitet diese Ansicht ist, so falsch ist sie." Denken
und Erkennen sind ursprünglich eines, sie repräsentiren die Einheit des Denkens
und Seins. Es giebt eine naive und eine reflektirende Stufe der Erkenntnis.
Jene zeigt die erste naive Form der ungestörten Einheit von Deuten und Er¬
kennen, die „den Unterschied zwischen Vorstellung und Objekt noch nicht kennt."
Alles Erkennen geht aber notwendig zur zweiten Stufe über, auf der man sich
dieses Unterschiedes bewußt wird sreflektirende Erkenntnis), aber nun gewöhnlich
den Fehler begeht, die Brücke zu der erste» Stufe ganz hinter sich abzubrechen.
Daher der Riß zwischen Denken und Erkennen. Denken und Sein. An diesen
ersten schließt sich unvermeidlich ein zweiter folgenschwerer Irrtum, der Zweifel
an der gegenseitigen wirklichen Entsprechung von Vorstellung und Objekt, die
Erdichtung eines von der Vorstellung völlig verschiedenen Dinges an sich, und
die aus diese»? Zweifel hervorgehende radikale Verneinung des Objekts, die
Proklamirung der absoluten Subjektivität der Vorstellung durch deu empirischen
Idealisnnis (Berkeley, Fichte). Eine Rettung aus dieser Verwirrung giebt es
nur, wenn man sich der Motive zu der vorgenommenen Scheidung von Vor-
stellung und Objekt stets bewußt bleibt. Diese Motive der Unterscheidung


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[0604] UMndts System der Philosophie Nach einer Gliederung der Einzelwissenschaften nicht nach den äußerlichen „Fächern," sondern von theoretischem Gesichtspunkte wendet sich die Unter¬ suchung zunächst dem wissenschaftlichen Instrument, dem Denken, zu. Im Denkprozesse selbst liegt schon die Erkenntnis, das Ziel der Wissenschaft vor¬ gebildet, Zweifel am Denken macht jede Möglichkeit der Erkenntnis zu nichte. Und was ist Denken? Es ist subjektive Thätigkeit im allgemeinsten, es ist — genauer nach den Merkmale» bestimmt, die uus innere Erfahrung giebt — selbstbewußte Thätigkeit nach der Willensseite des Bewußtseins, beziehende Thätigkeit nach der Seite der Vorstellungen, die seinen Inhalt ausmachen. Die Formen des Denkens sind Urteile und Begriffe, die Grundformen der ersteren, erzählende und beschreibende Urteile, erzeugen in und durch sich die Klassen der letzteren: Gegenstands-, Zustands-, Eigeuschaftsbegriffe, Die zweite Stufe des Urteils bringt nur noch Gegeustandsbegriffe, deren Verhältnisse sie auseinanderlegt. Dem Urteil, seinen Bildungen und Berbiudungeu gegenüber steht — negativ und positiv - Verneinung und Schluß, die Grundgesetze des Denkens (Identität und Widerspruch, Satz des Grundes) bestimmend. Der zweite Abschnitt tritt nun an das Ziel des wissenschaftlichen Denkens, die Erkenntnis selbst, heran. Das Denken ist voraussetzungslos. „Ob die Vorstellungen Objekte» entsprechen, und ob in den Gedankenverbindungen Wechselbeziehungen der Objekte sich wiederfinden, bleibt für das Denken anßer Frage." Diese Frage nach der Realität solcher Objekte und objektiver Ver¬ bindungen ist Erkenntnisprozeß, die daraus gewonnene Überzeugung Erkenntnis. Allein der Denkprozeß ist wohl die Bedingung, aber keineswegs der ursprüng¬ liche Schöpfer der Erkenntnis, der „in der zeitlichen Entwicklung unbedingt frühere" Akt. „So verbreitet diese Ansicht ist, so falsch ist sie." Denken und Erkennen sind ursprünglich eines, sie repräsentiren die Einheit des Denkens und Seins. Es giebt eine naive und eine reflektirende Stufe der Erkenntnis. Jene zeigt die erste naive Form der ungestörten Einheit von Deuten und Er¬ kennen, die „den Unterschied zwischen Vorstellung und Objekt noch nicht kennt." Alles Erkennen geht aber notwendig zur zweiten Stufe über, auf der man sich dieses Unterschiedes bewußt wird sreflektirende Erkenntnis), aber nun gewöhnlich den Fehler begeht, die Brücke zu der erste» Stufe ganz hinter sich abzubrechen. Daher der Riß zwischen Denken und Erkennen. Denken und Sein. An diesen ersten schließt sich unvermeidlich ein zweiter folgenschwerer Irrtum, der Zweifel an der gegenseitigen wirklichen Entsprechung von Vorstellung und Objekt, die Erdichtung eines von der Vorstellung völlig verschiedenen Dinges an sich, und die aus diese»? Zweifel hervorgehende radikale Verneinung des Objekts, die Proklamirung der absoluten Subjektivität der Vorstellung durch deu empirischen Idealisnnis (Berkeley, Fichte). Eine Rettung aus dieser Verwirrung giebt es nur, wenn man sich der Motive zu der vorgenommenen Scheidung von Vor- stellung und Objekt stets bewußt bleibt. Diese Motive der Unterscheidung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/604>, abgerufen am 25.08.2024.