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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

frühere überragenden, sittlich-geistigen Erhebung schließen. Es ist der Grund¬
irrtum des Sozialismus, die wirtschaftliche Entwicklung als einen naturgeschicht¬
lichen Vorgang, abgesondert von allen sittlichen und seelischen Machten des
menschlichen Lebens, anzusehen. Die Unsittlichkeit und der Unverstand, das
Böse und die Sünde bestehen an sich ebenso fest auf Erden wie Krankheit und
Tod. Die Lösung des Problems, wie man alle Menschen gleich glücklich,
gleich reich, gleich gesund, gleich klug und (wie Haseuclever wollte) gleich ver¬
nünftig machen kann, erscheint nicht anders als wie die Aufgabe, die Quadratur
des Zirkels, das Perpetuum mobile, den Homunkulus, den Stein der Weisen
zu finden. Den ungeheuern Fortschritt auf naturwissenschaftlich-technischem
Gebiete sans taeM auf das geistige Leben der Menschheit zu übertragen, ist
eine Chimäre. Die Zahl der Verbrechen und tausend andre Dinge beweisen,
daß die Menschen seelisch immer ziemlich dieselben geblieben sind, oder daß
wenigstens der sittliche Fortschritt laugsam hinter dem andern hinterdreinhinkt,
abgesehen davon, daß er periodenweise anch wieder in Stillstand oder Rück¬
gang umschlagen kann. Utopien werden stets Utopien bleiben, aber daß sie
gegenwärtig so viel Beachtung finden, daß Platos Staat und Morus Jusel
das Thema von so und so viel Vorträgen liefern, ist charakteristisch, ist tin et"z
sievls. In welche seltsamen Widersprüche verwickelt sich daher die Sozial¬
demokratie; einerseits giebt sie zu: "So wenig eine Gesellschaft von heute auf
morgen entstanden ist, so wenig läßt sie sich auch von heute auf morgen aus
der Welt schaffen," anderseits hofft sie (Berliner Volksblatt, 25. November):
"Möge dies Jahrhundert das letzte sein, welches mit dem "Fluch der Armut"
belastet ist!"

Nach dem Zukunftsstaate will die Sozialdemokratie nicht gefragt sein:
Hände weg! In der Debatte darüber entfiel dem offiziellen Preßorgan ein
Wort, das wir als Gegenstück zu einem von der Tribüne des preußischen
Abgeordnetenhauses gesprochenen Worte hervorheben wollen: "Der Unzufriedene
pfeift auf den Zukunftsstaat" (31. Oktober). Das bedeutet alio: die Weigerung,
das verheißene Paradies zu schildern, schadet den sozialistischen Hetzern nicht,
so lange ein schier unerschöpflicher Fonds von Unzufriedenheit im deutscheu
Reiche vorhanden ist, der jede freiwerdende Lücke in den Reihen der Genossen¬
schaft immer wieder füllt. Die Macht des Stimmzettels, der zugleich ein
Wunschzettel ist, kommt hier in Betracht; die Zu- und Abnahme der sozial-
demokratischen Stimmen ist wie das Fallen und Steigen des Quecksilbers im
Thermometer, ein Gradmesser der Unzufriedenheit über bestehende Mißstände.
Die Sozialdemokratie weiß felbst sehr wohl, daß viele von denen, die für sie
stimmen, in ihr nur den besten Anwalt ihrer jeweiligen Interessen erblicken,
wie wenn die Bauern eines Dorfes in "orxors sozial wählen, weil sie vom
Wildschaden geplagt werden. Ein Doktor Eisenbart hat deshalb den Vorschlag
einer Radikalkur nach eigner Art gemacht, das allgemeine gleiche Wahlrecht


Grenzboten IV 1890 t>8
Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

frühere überragenden, sittlich-geistigen Erhebung schließen. Es ist der Grund¬
irrtum des Sozialismus, die wirtschaftliche Entwicklung als einen naturgeschicht¬
lichen Vorgang, abgesondert von allen sittlichen und seelischen Machten des
menschlichen Lebens, anzusehen. Die Unsittlichkeit und der Unverstand, das
Böse und die Sünde bestehen an sich ebenso fest auf Erden wie Krankheit und
Tod. Die Lösung des Problems, wie man alle Menschen gleich glücklich,
gleich reich, gleich gesund, gleich klug und (wie Haseuclever wollte) gleich ver¬
nünftig machen kann, erscheint nicht anders als wie die Aufgabe, die Quadratur
des Zirkels, das Perpetuum mobile, den Homunkulus, den Stein der Weisen
zu finden. Den ungeheuern Fortschritt auf naturwissenschaftlich-technischem
Gebiete sans taeM auf das geistige Leben der Menschheit zu übertragen, ist
eine Chimäre. Die Zahl der Verbrechen und tausend andre Dinge beweisen,
daß die Menschen seelisch immer ziemlich dieselben geblieben sind, oder daß
wenigstens der sittliche Fortschritt laugsam hinter dem andern hinterdreinhinkt,
abgesehen davon, daß er periodenweise anch wieder in Stillstand oder Rück¬
gang umschlagen kann. Utopien werden stets Utopien bleiben, aber daß sie
gegenwärtig so viel Beachtung finden, daß Platos Staat und Morus Jusel
das Thema von so und so viel Vorträgen liefern, ist charakteristisch, ist tin et«z
sievls. In welche seltsamen Widersprüche verwickelt sich daher die Sozial¬
demokratie; einerseits giebt sie zu: „So wenig eine Gesellschaft von heute auf
morgen entstanden ist, so wenig läßt sie sich auch von heute auf morgen aus
der Welt schaffen," anderseits hofft sie (Berliner Volksblatt, 25. November):
„Möge dies Jahrhundert das letzte sein, welches mit dem »Fluch der Armut«
belastet ist!"

Nach dem Zukunftsstaate will die Sozialdemokratie nicht gefragt sein:
Hände weg! In der Debatte darüber entfiel dem offiziellen Preßorgan ein
Wort, das wir als Gegenstück zu einem von der Tribüne des preußischen
Abgeordnetenhauses gesprochenen Worte hervorheben wollen: „Der Unzufriedene
pfeift auf den Zukunftsstaat" (31. Oktober). Das bedeutet alio: die Weigerung,
das verheißene Paradies zu schildern, schadet den sozialistischen Hetzern nicht,
so lange ein schier unerschöpflicher Fonds von Unzufriedenheit im deutscheu
Reiche vorhanden ist, der jede freiwerdende Lücke in den Reihen der Genossen¬
schaft immer wieder füllt. Die Macht des Stimmzettels, der zugleich ein
Wunschzettel ist, kommt hier in Betracht; die Zu- und Abnahme der sozial-
demokratischen Stimmen ist wie das Fallen und Steigen des Quecksilbers im
Thermometer, ein Gradmesser der Unzufriedenheit über bestehende Mißstände.
Die Sozialdemokratie weiß felbst sehr wohl, daß viele von denen, die für sie
stimmen, in ihr nur den besten Anwalt ihrer jeweiligen Interessen erblicken,
wie wenn die Bauern eines Dorfes in «orxors sozial wählen, weil sie vom
Wildschaden geplagt werden. Ein Doktor Eisenbart hat deshalb den Vorschlag
einer Radikalkur nach eigner Art gemacht, das allgemeine gleiche Wahlrecht


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[0505] Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie frühere überragenden, sittlich-geistigen Erhebung schließen. Es ist der Grund¬ irrtum des Sozialismus, die wirtschaftliche Entwicklung als einen naturgeschicht¬ lichen Vorgang, abgesondert von allen sittlichen und seelischen Machten des menschlichen Lebens, anzusehen. Die Unsittlichkeit und der Unverstand, das Böse und die Sünde bestehen an sich ebenso fest auf Erden wie Krankheit und Tod. Die Lösung des Problems, wie man alle Menschen gleich glücklich, gleich reich, gleich gesund, gleich klug und (wie Haseuclever wollte) gleich ver¬ nünftig machen kann, erscheint nicht anders als wie die Aufgabe, die Quadratur des Zirkels, das Perpetuum mobile, den Homunkulus, den Stein der Weisen zu finden. Den ungeheuern Fortschritt auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiete sans taeM auf das geistige Leben der Menschheit zu übertragen, ist eine Chimäre. Die Zahl der Verbrechen und tausend andre Dinge beweisen, daß die Menschen seelisch immer ziemlich dieselben geblieben sind, oder daß wenigstens der sittliche Fortschritt laugsam hinter dem andern hinterdreinhinkt, abgesehen davon, daß er periodenweise anch wieder in Stillstand oder Rück¬ gang umschlagen kann. Utopien werden stets Utopien bleiben, aber daß sie gegenwärtig so viel Beachtung finden, daß Platos Staat und Morus Jusel das Thema von so und so viel Vorträgen liefern, ist charakteristisch, ist tin et«z sievls. In welche seltsamen Widersprüche verwickelt sich daher die Sozial¬ demokratie; einerseits giebt sie zu: „So wenig eine Gesellschaft von heute auf morgen entstanden ist, so wenig läßt sie sich auch von heute auf morgen aus der Welt schaffen," anderseits hofft sie (Berliner Volksblatt, 25. November): „Möge dies Jahrhundert das letzte sein, welches mit dem »Fluch der Armut« belastet ist!" Nach dem Zukunftsstaate will die Sozialdemokratie nicht gefragt sein: Hände weg! In der Debatte darüber entfiel dem offiziellen Preßorgan ein Wort, das wir als Gegenstück zu einem von der Tribüne des preußischen Abgeordnetenhauses gesprochenen Worte hervorheben wollen: „Der Unzufriedene pfeift auf den Zukunftsstaat" (31. Oktober). Das bedeutet alio: die Weigerung, das verheißene Paradies zu schildern, schadet den sozialistischen Hetzern nicht, so lange ein schier unerschöpflicher Fonds von Unzufriedenheit im deutscheu Reiche vorhanden ist, der jede freiwerdende Lücke in den Reihen der Genossen¬ schaft immer wieder füllt. Die Macht des Stimmzettels, der zugleich ein Wunschzettel ist, kommt hier in Betracht; die Zu- und Abnahme der sozial- demokratischen Stimmen ist wie das Fallen und Steigen des Quecksilbers im Thermometer, ein Gradmesser der Unzufriedenheit über bestehende Mißstände. Die Sozialdemokratie weiß felbst sehr wohl, daß viele von denen, die für sie stimmen, in ihr nur den besten Anwalt ihrer jeweiligen Interessen erblicken, wie wenn die Bauern eines Dorfes in «orxors sozial wählen, weil sie vom Wildschaden geplagt werden. Ein Doktor Eisenbart hat deshalb den Vorschlag einer Radikalkur nach eigner Art gemacht, das allgemeine gleiche Wahlrecht Grenzboten IV 1890 t>8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/505>, abgerufen am 22.07.2024.