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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

sondern eine gute Frage. Mein kann das Unglück nicht aus der Welt schaffen;
die Erde ist kein Eden mehr. Aber man könnte, wenn man nur wollte, viel
mehr glückliche und zufriedene Menschen auf Erden haben, wenn mehr Leute
ihre Pflicht thäten und ihren Nächsten lieb hätten." (Stöcker, Christlich-
Sozial, zweite Auflage, 1890, S. 162.) Wie lange wird es aber dauern, bis
die Nächstenliebe die Mehrheit der Herzen, Handlungen und Stimmen hat?
Der gesunde Menschenverstand muß an der Durchführbarkeit der sozialistischen
Ideen in ihrem weitern Umfange, an die Möglichkeit eines Zukunftsstaates
ohne zutreffendes Analogon in aller Vergangenheit Zweifel hegen, die nicht
zu beseitigen sind. Für die Sozialdemokratie ist jedoch die Verquickung von
Idealen, die auch ihre besonnenern Gegner an sich, als Ideale, nach denen
die Menschheit ewig ringt, ohne jemals in ihren Besitz zu gelangen, nicht
verleugnen, mit ihren besondern Zielen als Vertreterin der Arbeiterinteressen
eine unversiegliche Quelle, aus der sie Material entnimmt, die Massen an sich
zu fesseln und auf sie einzuwirken.

Die großartige Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, die
Schnelligkeit, womit die Eisenbahnen und andre Erfindungen ihren Triumphzug
über die bewohnte Erde halten, der Weltverkehr, die riesenhafte Zunahme der
Produktion haben den Wahn hervorgerufen, daß dem Menschengeiste nichts
unmöglich sei. Sie haben eine nervöse Hast des Strebens, eine fieberhafte
Unternehmungslust hervorgerufen, ähnlich wie sie nach der Entdeckung Amerikas
und Indiens entstand; Bellamhs "Rückblick" wurde im Jahre 189l), des
Thomas Morus Buch über deu besten Staat und die neue Wunderinsel Utopia
im Jahre 1517 veröffentlicht. Selbst Gegner der Sozialisten sprechen die
Ansicht aus, daß der Sozialstaat zwar nicht gegenwärtig, aber vielleicht nach
Jahrhunderten, nach andern gar nach Jahrtausenden möglich sei. Liebknecht
könnte hierauf fußen und mit einigem Rechte fragen, ob sich denn, was nach
Jahrhunderten oder Jahrtausenden möglich ist, bei der "Schnelligkeit des
modernen Lebens" nicht etwa unter Umständen, oder wenn wir nur wollen,
auch eher verwirklichen könne. Auf dem Parteitage sagte er: "Wir leben
in der Ära der Eisenbahnen und der Elektrotechnik, die Wissenschaft ist der
kühnsten Phantasie von damals vorangeeilt. Diejenigen, welche nun ein ge¬
naues Bild von dem erstrebten Zukunftsstaate verlangen, sollen einmal das
ganze Wesen der heutigen Gesellschaftsordnung sich selbst gegenwärtig halten,
sie sollen bedenken, daß alle Voraussetzungen, auf welchen unsre Gesellschafts¬
ordnung beruht, im Nu durch das Fortschreiten von Technik und Wissenschaft
über den Haufen geworfen werden können." Wie sagt doch Wagner im Faust?
"Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht . . . Zwar weiß ich viel,
doch möcht ich alles wissen." Von der ehemaligen Unbekanntschaft mit den
Wirkungen des Dampfes und der Elektrizität und der jetzigen Verwendung
dieser Naturkräfte kann man nicht auf die Möglichkeit einer ähnlichen, alles


Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie

sondern eine gute Frage. Mein kann das Unglück nicht aus der Welt schaffen;
die Erde ist kein Eden mehr. Aber man könnte, wenn man nur wollte, viel
mehr glückliche und zufriedene Menschen auf Erden haben, wenn mehr Leute
ihre Pflicht thäten und ihren Nächsten lieb hätten." (Stöcker, Christlich-
Sozial, zweite Auflage, 1890, S. 162.) Wie lange wird es aber dauern, bis
die Nächstenliebe die Mehrheit der Herzen, Handlungen und Stimmen hat?
Der gesunde Menschenverstand muß an der Durchführbarkeit der sozialistischen
Ideen in ihrem weitern Umfange, an die Möglichkeit eines Zukunftsstaates
ohne zutreffendes Analogon in aller Vergangenheit Zweifel hegen, die nicht
zu beseitigen sind. Für die Sozialdemokratie ist jedoch die Verquickung von
Idealen, die auch ihre besonnenern Gegner an sich, als Ideale, nach denen
die Menschheit ewig ringt, ohne jemals in ihren Besitz zu gelangen, nicht
verleugnen, mit ihren besondern Zielen als Vertreterin der Arbeiterinteressen
eine unversiegliche Quelle, aus der sie Material entnimmt, die Massen an sich
zu fesseln und auf sie einzuwirken.

Die großartige Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, die
Schnelligkeit, womit die Eisenbahnen und andre Erfindungen ihren Triumphzug
über die bewohnte Erde halten, der Weltverkehr, die riesenhafte Zunahme der
Produktion haben den Wahn hervorgerufen, daß dem Menschengeiste nichts
unmöglich sei. Sie haben eine nervöse Hast des Strebens, eine fieberhafte
Unternehmungslust hervorgerufen, ähnlich wie sie nach der Entdeckung Amerikas
und Indiens entstand; Bellamhs „Rückblick" wurde im Jahre 189l), des
Thomas Morus Buch über deu besten Staat und die neue Wunderinsel Utopia
im Jahre 1517 veröffentlicht. Selbst Gegner der Sozialisten sprechen die
Ansicht aus, daß der Sozialstaat zwar nicht gegenwärtig, aber vielleicht nach
Jahrhunderten, nach andern gar nach Jahrtausenden möglich sei. Liebknecht
könnte hierauf fußen und mit einigem Rechte fragen, ob sich denn, was nach
Jahrhunderten oder Jahrtausenden möglich ist, bei der „Schnelligkeit des
modernen Lebens" nicht etwa unter Umständen, oder wenn wir nur wollen,
auch eher verwirklichen könne. Auf dem Parteitage sagte er: „Wir leben
in der Ära der Eisenbahnen und der Elektrotechnik, die Wissenschaft ist der
kühnsten Phantasie von damals vorangeeilt. Diejenigen, welche nun ein ge¬
naues Bild von dem erstrebten Zukunftsstaate verlangen, sollen einmal das
ganze Wesen der heutigen Gesellschaftsordnung sich selbst gegenwärtig halten,
sie sollen bedenken, daß alle Voraussetzungen, auf welchen unsre Gesellschafts¬
ordnung beruht, im Nu durch das Fortschreiten von Technik und Wissenschaft
über den Haufen geworfen werden können." Wie sagt doch Wagner im Faust?
„Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht . . . Zwar weiß ich viel,
doch möcht ich alles wissen." Von der ehemaligen Unbekanntschaft mit den
Wirkungen des Dampfes und der Elektrizität und der jetzigen Verwendung
dieser Naturkräfte kann man nicht auf die Möglichkeit einer ähnlichen, alles


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[0504] Der Kampf mit geistigen Waffen gegen die Sozialdemokratie sondern eine gute Frage. Mein kann das Unglück nicht aus der Welt schaffen; die Erde ist kein Eden mehr. Aber man könnte, wenn man nur wollte, viel mehr glückliche und zufriedene Menschen auf Erden haben, wenn mehr Leute ihre Pflicht thäten und ihren Nächsten lieb hätten." (Stöcker, Christlich- Sozial, zweite Auflage, 1890, S. 162.) Wie lange wird es aber dauern, bis die Nächstenliebe die Mehrheit der Herzen, Handlungen und Stimmen hat? Der gesunde Menschenverstand muß an der Durchführbarkeit der sozialistischen Ideen in ihrem weitern Umfange, an die Möglichkeit eines Zukunftsstaates ohne zutreffendes Analogon in aller Vergangenheit Zweifel hegen, die nicht zu beseitigen sind. Für die Sozialdemokratie ist jedoch die Verquickung von Idealen, die auch ihre besonnenern Gegner an sich, als Ideale, nach denen die Menschheit ewig ringt, ohne jemals in ihren Besitz zu gelangen, nicht verleugnen, mit ihren besondern Zielen als Vertreterin der Arbeiterinteressen eine unversiegliche Quelle, aus der sie Material entnimmt, die Massen an sich zu fesseln und auf sie einzuwirken. Die großartige Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, die Schnelligkeit, womit die Eisenbahnen und andre Erfindungen ihren Triumphzug über die bewohnte Erde halten, der Weltverkehr, die riesenhafte Zunahme der Produktion haben den Wahn hervorgerufen, daß dem Menschengeiste nichts unmöglich sei. Sie haben eine nervöse Hast des Strebens, eine fieberhafte Unternehmungslust hervorgerufen, ähnlich wie sie nach der Entdeckung Amerikas und Indiens entstand; Bellamhs „Rückblick" wurde im Jahre 189l), des Thomas Morus Buch über deu besten Staat und die neue Wunderinsel Utopia im Jahre 1517 veröffentlicht. Selbst Gegner der Sozialisten sprechen die Ansicht aus, daß der Sozialstaat zwar nicht gegenwärtig, aber vielleicht nach Jahrhunderten, nach andern gar nach Jahrtausenden möglich sei. Liebknecht könnte hierauf fußen und mit einigem Rechte fragen, ob sich denn, was nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden möglich ist, bei der „Schnelligkeit des modernen Lebens" nicht etwa unter Umständen, oder wenn wir nur wollen, auch eher verwirklichen könne. Auf dem Parteitage sagte er: „Wir leben in der Ära der Eisenbahnen und der Elektrotechnik, die Wissenschaft ist der kühnsten Phantasie von damals vorangeeilt. Diejenigen, welche nun ein ge¬ naues Bild von dem erstrebten Zukunftsstaate verlangen, sollen einmal das ganze Wesen der heutigen Gesellschaftsordnung sich selbst gegenwärtig halten, sie sollen bedenken, daß alle Voraussetzungen, auf welchen unsre Gesellschafts¬ ordnung beruht, im Nu durch das Fortschreiten von Technik und Wissenschaft über den Haufen geworfen werden können." Wie sagt doch Wagner im Faust? „Und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht . . . Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen." Von der ehemaligen Unbekanntschaft mit den Wirkungen des Dampfes und der Elektrizität und der jetzigen Verwendung dieser Naturkräfte kann man nicht auf die Möglichkeit einer ähnlichen, alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/504>, abgerufen am 03.07.2024.