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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der Aampf mit geistigen Waffen gegen die öozialdemokratie

wieder aufzuheben. Besser ist doch die u. a. in einem Artikel des "Deutschen
Wochenblattes" geäußerte Ansicht: "Nicht ob die sozialdemokratischen Förte
rungen ausführbar sind, sondern inwieweit sie es sind, soll der Kritiker
fragen, dem daran gelegen ist, Regierung und Unterthanen im Einvernehmen
zu halten." Obwohl die sozialdemokratische Partei "mit der Angel der Un¬
zufriedenheit" fischen geht und die meisten Fische fängt, obwohl sie Mi߬
vergnügen durch ihre Hetzerei nährt und hervorruft, wie und wo sie es vermag,
thut man ihr mit der Behauptung Unrecht, daß dies ihre ausschließliche
Absicht sei und sie keine ernstliche Abhilfe für Übelstände erstrebe und begehre;
es ist unter Umständen sogar ein Verdienst, den Finger auf die wunde Stelle
zu legen, mag der Patient noch so sehr jammern. Anderseits treiben die
Sozialdemokraten einen Sport damit, jeden sich offenbarenden Mißstand auf¬
zubauschen und für ihn unmer gleich das ganze System verantwortlich zu
machen. Sie glauben, daß alle Reformen von oben die Unzufriedenheit nicht
vermindern würden, weil diese unzertrennlich mit der gegenwärtigen Gesell¬
schaftsordnung verbunden sei. Wäre dies richtig, dann wäre es nicht zu ver¬
hindern, daß sich die Partei fortgesetzt vermehrt, oder daß "die heutige Gesell¬
schaft in den Sozialismus hineinwächst" (Volksblatt, 31. Oktober). Die soziale
Frage ist schließlich eine Machtfrage; wir müssen, ruft Liebknecht aus, die
achtzig Prozent werden anstatt der zwanzig. "Unser Hauptbestreben muß darauf
gerichtet sein, eine mächtige Partei zu werden." In den Worten: "Der Un¬
zufriedene pfeift auf den Zukunftsstaat" spricht sich die Zuversicht des Sieges
aus. Die Regierung aber stellt sich, um den Gegner zu werfen, auf denselben
Boden mit ihm; das Gegenstück jener Worte ist eine Stelle aus der Rede des
Reichskanzlers von Caprivi bei der Einbringung der Reformvorlagcn im
preußischen Landtage: "Der Staat kann in dem Kampfe, vor den er ge¬
stellt ist, nur gewinnen, wenn es ihm gelingt, die Zahl seiner Gegner zu
verringern." Reformen zur Verhinderung von Revolutionen! Die Unzu¬
friedenheit völlig zu beseitigen ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit; schon
die Aufgabe, sie merklich zu mindern, ist bei der Masse kleinerer und größerer
Übelstände, die die Thätigkeit des Operateurs verlangen, gewaltig. Die Macht
der Unzufriedenen setzt sich auch keineswegs bloß aus Arbeitern, Angehörigen
des sogenannten vierten Standes, zuscnnmeu, sondern ans allen Stünden, be¬
sonders dein Mittelstande, Kleinkaufleuten, Handwerkern, Bauern, Beamten
mittlerer Stellung, die uuter der "Not der Zeit" vielleicht mehr als die
Arbeiter zu leiden haben und durch die Sozialreform zum Teil noch mehr
als früher belastet werden. Die Verhältnisse möchten zuweilen sogar so liegen,
daß der Meister seinen Gesellen und die Hausfrau ihr Dienstmädchen, d. h. in
sozialdemokratischen Jargon ihre "Ausbeutungsobjekte" beneiden; die Gefahr
ist vorhanden, daß der Versuch, "den in den letzten Jahren leider immer
mehr erweiterten Gegensatz zwischen den einzelnen Klassen der Bevölkerung


Der Aampf mit geistigen Waffen gegen die öozialdemokratie

wieder aufzuheben. Besser ist doch die u. a. in einem Artikel des „Deutschen
Wochenblattes" geäußerte Ansicht: „Nicht ob die sozialdemokratischen Förte
rungen ausführbar sind, sondern inwieweit sie es sind, soll der Kritiker
fragen, dem daran gelegen ist, Regierung und Unterthanen im Einvernehmen
zu halten." Obwohl die sozialdemokratische Partei „mit der Angel der Un¬
zufriedenheit" fischen geht und die meisten Fische fängt, obwohl sie Mi߬
vergnügen durch ihre Hetzerei nährt und hervorruft, wie und wo sie es vermag,
thut man ihr mit der Behauptung Unrecht, daß dies ihre ausschließliche
Absicht sei und sie keine ernstliche Abhilfe für Übelstände erstrebe und begehre;
es ist unter Umständen sogar ein Verdienst, den Finger auf die wunde Stelle
zu legen, mag der Patient noch so sehr jammern. Anderseits treiben die
Sozialdemokraten einen Sport damit, jeden sich offenbarenden Mißstand auf¬
zubauschen und für ihn unmer gleich das ganze System verantwortlich zu
machen. Sie glauben, daß alle Reformen von oben die Unzufriedenheit nicht
vermindern würden, weil diese unzertrennlich mit der gegenwärtigen Gesell¬
schaftsordnung verbunden sei. Wäre dies richtig, dann wäre es nicht zu ver¬
hindern, daß sich die Partei fortgesetzt vermehrt, oder daß „die heutige Gesell¬
schaft in den Sozialismus hineinwächst" (Volksblatt, 31. Oktober). Die soziale
Frage ist schließlich eine Machtfrage; wir müssen, ruft Liebknecht aus, die
achtzig Prozent werden anstatt der zwanzig. „Unser Hauptbestreben muß darauf
gerichtet sein, eine mächtige Partei zu werden." In den Worten: „Der Un¬
zufriedene pfeift auf den Zukunftsstaat" spricht sich die Zuversicht des Sieges
aus. Die Regierung aber stellt sich, um den Gegner zu werfen, auf denselben
Boden mit ihm; das Gegenstück jener Worte ist eine Stelle aus der Rede des
Reichskanzlers von Caprivi bei der Einbringung der Reformvorlagcn im
preußischen Landtage: „Der Staat kann in dem Kampfe, vor den er ge¬
stellt ist, nur gewinnen, wenn es ihm gelingt, die Zahl seiner Gegner zu
verringern." Reformen zur Verhinderung von Revolutionen! Die Unzu¬
friedenheit völlig zu beseitigen ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit; schon
die Aufgabe, sie merklich zu mindern, ist bei der Masse kleinerer und größerer
Übelstände, die die Thätigkeit des Operateurs verlangen, gewaltig. Die Macht
der Unzufriedenen setzt sich auch keineswegs bloß aus Arbeitern, Angehörigen
des sogenannten vierten Standes, zuscnnmeu, sondern ans allen Stünden, be¬
sonders dein Mittelstande, Kleinkaufleuten, Handwerkern, Bauern, Beamten
mittlerer Stellung, die uuter der „Not der Zeit" vielleicht mehr als die
Arbeiter zu leiden haben und durch die Sozialreform zum Teil noch mehr
als früher belastet werden. Die Verhältnisse möchten zuweilen sogar so liegen,
daß der Meister seinen Gesellen und die Hausfrau ihr Dienstmädchen, d. h. in
sozialdemokratischen Jargon ihre „Ausbeutungsobjekte" beneiden; die Gefahr
ist vorhanden, daß der Versuch, „den in den letzten Jahren leider immer
mehr erweiterten Gegensatz zwischen den einzelnen Klassen der Bevölkerung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/506>, abgerufen am 22.07.2024.