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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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deckungen so weiter vervollkommnen, in vielleicht ein- bis zwei- auch drei¬
hundert Jahren die "Neue Zeit" anbrechen werde, in der die Menschen mit
ihrer Lage endlich, im Gegensatze zu der allgemeinen Unzufriedenheit von heute,
zufrieden sein können, und in der man schon jetzt wünschen möchte gelebt zu
haben, da man bedauerlicherweise zu früh geboren ist. Bald möchte es ein
Wagnis sein, den "ewigen Völkerfrieden" für eine schöne Idee und nichts mehr
zu halten; man ist bereits in Gefahr, als Barbar angesehen zu werden, wenn
man nicht die Ungleichheit der Menschen, Europäer oder Afrikaner in jeder Form,
unter jedem Namen, in jedem Lande mit niederdonnert. Die Sozialdemokraten
und andre bedauern die "armen Schwarzen," die durch die Kolonialpolitik mit
den "Segnungen der modernen Kultur" beglückt werden sollen. Wie ganz
anders dachte Rodbertus, der unser Völkerrecht als ein Produkt der christlich¬
sittlichen Kultur bezeichnete, und meinte, "das christliche Europa sollte etwas
von dem Gefühl in sich aufnehmen, das die Griechen und Römer bewog, alle
andern Völker der Erde als Barbaren zu betrachten." Auch die himmel¬
stürmende Wissenschaft, die für sich kein Jgnorabimus mehr gelten läßt, sondern
gottgleich (sicut, nicus) sein will, ist eine Utopie. Also: nicht nur die Sozial¬
demokraten sind Zukuuftsstaatler, sind Phantasten! Während der Lnndsmann
Sozialdemokrat sich an den Freiheits- und Gleichheitsphrasen von Aufwieglern
berauscht, versenkt sich der Gebildete mit Behagen in das Lesen seiner Büchner,
Bellamy und Nordau und redet sich ein, daß die Kulturmenschheit auf "kon¬
ventionellen Lügen" beruhe. Das ist wie eine Krankheit, und es ist nicht zu
verwundern, daß diese in dem Volke der Denker, der Philosophen am heftigsten
grassirt, in dem Reichtum des deutschen Gemütes, in dem echtdeutschen Trieb,
in die Ferne zu schweifen, einen günstigen Nährboden findet. Die Sozial¬
demokraten geben felbst zu, daß die Amerikaner zu nüchtern sind, als daß die
neue Lehre von ihnen willig aufgenommen würde und ihre Sendboten leichten
Erfolg hätten. Der Sozialismus wendet sich an die Einbildung und das
Gefühl, ist durch nud durch Idealismus und Optimismus, nennt sich eine
"neue Religion." Eine tüchtige Portion Kosmopolitismus, unnativnales
Weltbürgertum liegt den Deutschen ebenfalls tief im Blute; die ausländischen
Gäste der Sozialdemokratie auf den: Parteitage waren in einem Irrtum be¬
fangen, wenn sie glaubten, nur das Verhalten der deutschen Genossen nach¬
machen zu müssen, um gleich herrliche Erfolge zu erringen; das "Volksblatt"
klagt über die Lauheit der französischen Arbeiter in einer Republik, wo ihre
Thätigkeit durch keine Vereins- und Versammlungsgesetze wesentlich beschränkt
wird. Wenn die soziale Frage nur der Teilnahme des Herzens bedürfte und
die Kritik des Verstandes entbehren könnte, wer wäre dann nicht sozial, welcher
wahre Christ sähe nicht seine Mitmenschen als Brüder an, welcher humane
Mann würde nicht von Mitleid für das "Massenelend" bewegt und wäre nicht
bereit, alles zu seiner Beseitigung zu thun? "Die soziale Frage ist keine böse,


deckungen so weiter vervollkommnen, in vielleicht ein- bis zwei- auch drei¬
hundert Jahren die „Neue Zeit" anbrechen werde, in der die Menschen mit
ihrer Lage endlich, im Gegensatze zu der allgemeinen Unzufriedenheit von heute,
zufrieden sein können, und in der man schon jetzt wünschen möchte gelebt zu
haben, da man bedauerlicherweise zu früh geboren ist. Bald möchte es ein
Wagnis sein, den „ewigen Völkerfrieden" für eine schöne Idee und nichts mehr
zu halten; man ist bereits in Gefahr, als Barbar angesehen zu werden, wenn
man nicht die Ungleichheit der Menschen, Europäer oder Afrikaner in jeder Form,
unter jedem Namen, in jedem Lande mit niederdonnert. Die Sozialdemokraten
und andre bedauern die „armen Schwarzen," die durch die Kolonialpolitik mit
den „Segnungen der modernen Kultur" beglückt werden sollen. Wie ganz
anders dachte Rodbertus, der unser Völkerrecht als ein Produkt der christlich¬
sittlichen Kultur bezeichnete, und meinte, „das christliche Europa sollte etwas
von dem Gefühl in sich aufnehmen, das die Griechen und Römer bewog, alle
andern Völker der Erde als Barbaren zu betrachten." Auch die himmel¬
stürmende Wissenschaft, die für sich kein Jgnorabimus mehr gelten läßt, sondern
gottgleich (sicut, nicus) sein will, ist eine Utopie. Also: nicht nur die Sozial¬
demokraten sind Zukuuftsstaatler, sind Phantasten! Während der Lnndsmann
Sozialdemokrat sich an den Freiheits- und Gleichheitsphrasen von Aufwieglern
berauscht, versenkt sich der Gebildete mit Behagen in das Lesen seiner Büchner,
Bellamy und Nordau und redet sich ein, daß die Kulturmenschheit auf „kon¬
ventionellen Lügen" beruhe. Das ist wie eine Krankheit, und es ist nicht zu
verwundern, daß diese in dem Volke der Denker, der Philosophen am heftigsten
grassirt, in dem Reichtum des deutschen Gemütes, in dem echtdeutschen Trieb,
in die Ferne zu schweifen, einen günstigen Nährboden findet. Die Sozial¬
demokraten geben felbst zu, daß die Amerikaner zu nüchtern sind, als daß die
neue Lehre von ihnen willig aufgenommen würde und ihre Sendboten leichten
Erfolg hätten. Der Sozialismus wendet sich an die Einbildung und das
Gefühl, ist durch nud durch Idealismus und Optimismus, nennt sich eine
„neue Religion." Eine tüchtige Portion Kosmopolitismus, unnativnales
Weltbürgertum liegt den Deutschen ebenfalls tief im Blute; die ausländischen
Gäste der Sozialdemokratie auf den: Parteitage waren in einem Irrtum be¬
fangen, wenn sie glaubten, nur das Verhalten der deutschen Genossen nach¬
machen zu müssen, um gleich herrliche Erfolge zu erringen; das „Volksblatt"
klagt über die Lauheit der französischen Arbeiter in einer Republik, wo ihre
Thätigkeit durch keine Vereins- und Versammlungsgesetze wesentlich beschränkt
wird. Wenn die soziale Frage nur der Teilnahme des Herzens bedürfte und
die Kritik des Verstandes entbehren könnte, wer wäre dann nicht sozial, welcher
wahre Christ sähe nicht seine Mitmenschen als Brüder an, welcher humane
Mann würde nicht von Mitleid für das „Massenelend" bewegt und wäre nicht
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[0503] deckungen so weiter vervollkommnen, in vielleicht ein- bis zwei- auch drei¬ hundert Jahren die „Neue Zeit" anbrechen werde, in der die Menschen mit ihrer Lage endlich, im Gegensatze zu der allgemeinen Unzufriedenheit von heute, zufrieden sein können, und in der man schon jetzt wünschen möchte gelebt zu haben, da man bedauerlicherweise zu früh geboren ist. Bald möchte es ein Wagnis sein, den „ewigen Völkerfrieden" für eine schöne Idee und nichts mehr zu halten; man ist bereits in Gefahr, als Barbar angesehen zu werden, wenn man nicht die Ungleichheit der Menschen, Europäer oder Afrikaner in jeder Form, unter jedem Namen, in jedem Lande mit niederdonnert. Die Sozialdemokraten und andre bedauern die „armen Schwarzen," die durch die Kolonialpolitik mit den „Segnungen der modernen Kultur" beglückt werden sollen. Wie ganz anders dachte Rodbertus, der unser Völkerrecht als ein Produkt der christlich¬ sittlichen Kultur bezeichnete, und meinte, „das christliche Europa sollte etwas von dem Gefühl in sich aufnehmen, das die Griechen und Römer bewog, alle andern Völker der Erde als Barbaren zu betrachten." Auch die himmel¬ stürmende Wissenschaft, die für sich kein Jgnorabimus mehr gelten läßt, sondern gottgleich (sicut, nicus) sein will, ist eine Utopie. Also: nicht nur die Sozial¬ demokraten sind Zukuuftsstaatler, sind Phantasten! Während der Lnndsmann Sozialdemokrat sich an den Freiheits- und Gleichheitsphrasen von Aufwieglern berauscht, versenkt sich der Gebildete mit Behagen in das Lesen seiner Büchner, Bellamy und Nordau und redet sich ein, daß die Kulturmenschheit auf „kon¬ ventionellen Lügen" beruhe. Das ist wie eine Krankheit, und es ist nicht zu verwundern, daß diese in dem Volke der Denker, der Philosophen am heftigsten grassirt, in dem Reichtum des deutschen Gemütes, in dem echtdeutschen Trieb, in die Ferne zu schweifen, einen günstigen Nährboden findet. Die Sozial¬ demokraten geben felbst zu, daß die Amerikaner zu nüchtern sind, als daß die neue Lehre von ihnen willig aufgenommen würde und ihre Sendboten leichten Erfolg hätten. Der Sozialismus wendet sich an die Einbildung und das Gefühl, ist durch nud durch Idealismus und Optimismus, nennt sich eine „neue Religion." Eine tüchtige Portion Kosmopolitismus, unnativnales Weltbürgertum liegt den Deutschen ebenfalls tief im Blute; die ausländischen Gäste der Sozialdemokratie auf den: Parteitage waren in einem Irrtum be¬ fangen, wenn sie glaubten, nur das Verhalten der deutschen Genossen nach¬ machen zu müssen, um gleich herrliche Erfolge zu erringen; das „Volksblatt" klagt über die Lauheit der französischen Arbeiter in einer Republik, wo ihre Thätigkeit durch keine Vereins- und Versammlungsgesetze wesentlich beschränkt wird. Wenn die soziale Frage nur der Teilnahme des Herzens bedürfte und die Kritik des Verstandes entbehren könnte, wer wäre dann nicht sozial, welcher wahre Christ sähe nicht seine Mitmenschen als Brüder an, welcher humane Mann würde nicht von Mitleid für das „Massenelend" bewegt und wäre nicht bereit, alles zu seiner Beseitigung zu thun? „Die soziale Frage ist keine böse,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/503>, abgerufen am 01.07.2024.