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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Kindes

sofort Körner pickn, die neugebvriien Ferkel, vom Muttertiere entfernt, sofort
zu diesem zurücklaufen, die Zitzen finden und sangen, so läßt sich das ja als
Instinkt -- erklären wäre zu viel gesagt, sagen wir auffassen. Wenn jedoch
ein solches Schweiuetiudleiu, ans einen Stuhl gestellt, die Vorderbeine in
Kniestellung bringt und mit einem Satze hinunterspringt, der ans richtige
Distanzabschätznng schließen läßt, so müßte der Begriff des ererbten Gcvächtnisses
doch schon setze weit ausgedehnt werden, um noch zur Verdeutlichung des
Vorganges herangezogen werden zu tonnen, Preyer meint, das Schweinchen
benehme sich so, weil seine Vorfahren es "nzähligemal auch so gemacht hätten.
Allein wie wenig Gelegenheit zu solchen Turnübungen wird unsern deutschen
Schweinen geboten! Doch wollen wir darüber mit Preyer nicht rechten; das
Erperimeutirferkelchen kann ja freie Karpathenbewvhner zu Vorfahren gehabt
haben. Geradezu erstaunlich aber ist die Intelligenz des frisch ans dem El
geschliipften Einsiedlerkrebses, Dieses Tierchen weiß sofort, daß es zum Schutze
seines weichen Hinterleibes eines Gehäuses bedarf, Legt man eine Muschel
in sein Behältnis, so stürzt sich der junge Krebs darauf, untersucht, ob sie leer
ist, und quartiert sich in die leer befundene ein. Findet er aber ein Tier darin,
so wartet er, bis es tot ist, was unter den vom Experimentator geordneten
Umstände" nicht lange danert; dann zieht er die Reiche heraus, verspeist sie
und kriecht in das GeHänse, Dieser neugeborne Krebs weiß offenbar mehr,
als selbst der größte Naturforscher vor llntersnchung der Lebensbedingungen
der Weichtiere wissen würde, nämlich daß das Muscheltier nnter den ob¬
waltenden Umständen bald sterbe" wird; wüßte er das uicht, so würde er
nicht darauf warten.

Vergegenwärtigen wir uns einmal ganz oberflächlich, welche Wunder oder
eigentlich Wuudergruppen jedes lebende Wesen in sich birgt. Das erste Wunder
ist sei" Leib, eine Maschine von so künstlichem, feinem und verwickeltem Ban,
daß kein menschlicher Künstler etwas ähnliches zu schaffen vermochte. Deu
Unterschied einer anatomischen Wachsfigur von den nachgebildeten Körperteilen
eines wirklichen Tieres oder Menschen bemerkt jeder sofort mit bloßem Auge.
Um ein Stückchen Menschenhand unturgetren darzustellen, müßte der Künstler
ihr aus vielen verschiedenartige" Schichten bestehendes, mit allerlei Gefäße"
und Nervenfäserche" durchsetztes Gewebe nachahmen können. Und es würde
dazu noch nicht genügen, mikroskopisch kleine Körperchen an einander zu fügen
und nnter einander zu verbinden, da ja die Urbestandteile, von deren Beschaffen¬
heit und Lage die Art des Gewebes abhängt, so klein sind, daß sie durch
keine noch so gewaltige Vergrößerung jemals werden sichtbar gemacht werden
können.

Das zweite Wunder ist das Leben. Der Säfteumlauf wäre dabei noch
das wenigste. Ein Pump- >ab Röhremwert wie "user Gefäßsystem könnte
mau sich, abgesehen vo" der mikroskopisch feinen Verzweigung und der schwer


Die Seele des Kindes

sofort Körner pickn, die neugebvriien Ferkel, vom Muttertiere entfernt, sofort
zu diesem zurücklaufen, die Zitzen finden und sangen, so läßt sich das ja als
Instinkt — erklären wäre zu viel gesagt, sagen wir auffassen. Wenn jedoch
ein solches Schweiuetiudleiu, ans einen Stuhl gestellt, die Vorderbeine in
Kniestellung bringt und mit einem Satze hinunterspringt, der ans richtige
Distanzabschätznng schließen läßt, so müßte der Begriff des ererbten Gcvächtnisses
doch schon setze weit ausgedehnt werden, um noch zur Verdeutlichung des
Vorganges herangezogen werden zu tonnen, Preyer meint, das Schweinchen
benehme sich so, weil seine Vorfahren es »nzähligemal auch so gemacht hätten.
Allein wie wenig Gelegenheit zu solchen Turnübungen wird unsern deutschen
Schweinen geboten! Doch wollen wir darüber mit Preyer nicht rechten; das
Erperimeutirferkelchen kann ja freie Karpathenbewvhner zu Vorfahren gehabt
haben. Geradezu erstaunlich aber ist die Intelligenz des frisch ans dem El
geschliipften Einsiedlerkrebses, Dieses Tierchen weiß sofort, daß es zum Schutze
seines weichen Hinterleibes eines Gehäuses bedarf, Legt man eine Muschel
in sein Behältnis, so stürzt sich der junge Krebs darauf, untersucht, ob sie leer
ist, und quartiert sich in die leer befundene ein. Findet er aber ein Tier darin,
so wartet er, bis es tot ist, was unter den vom Experimentator geordneten
Umstände» nicht lange danert; dann zieht er die Reiche heraus, verspeist sie
und kriecht in das GeHänse, Dieser neugeborne Krebs weiß offenbar mehr,
als selbst der größte Naturforscher vor llntersnchung der Lebensbedingungen
der Weichtiere wissen würde, nämlich daß das Muscheltier nnter den ob¬
waltenden Umständen bald sterbe» wird; wüßte er das uicht, so würde er
nicht darauf warten.

Vergegenwärtigen wir uns einmal ganz oberflächlich, welche Wunder oder
eigentlich Wuudergruppen jedes lebende Wesen in sich birgt. Das erste Wunder
ist sei» Leib, eine Maschine von so künstlichem, feinem und verwickeltem Ban,
daß kein menschlicher Künstler etwas ähnliches zu schaffen vermochte. Deu
Unterschied einer anatomischen Wachsfigur von den nachgebildeten Körperteilen
eines wirklichen Tieres oder Menschen bemerkt jeder sofort mit bloßem Auge.
Um ein Stückchen Menschenhand unturgetren darzustellen, müßte der Künstler
ihr aus vielen verschiedenartige» Schichten bestehendes, mit allerlei Gefäße»
und Nervenfäserche» durchsetztes Gewebe nachahmen können. Und es würde
dazu noch nicht genügen, mikroskopisch kleine Körperchen an einander zu fügen
und nnter einander zu verbinden, da ja die Urbestandteile, von deren Beschaffen¬
heit und Lage die Art des Gewebes abhängt, so klein sind, daß sie durch
keine noch so gewaltige Vergrößerung jemals werden sichtbar gemacht werden
können.

Das zweite Wunder ist das Leben. Der Säfteumlauf wäre dabei noch
das wenigste. Ein Pump- >ab Röhremwert wie »user Gefäßsystem könnte
mau sich, abgesehen vo» der mikroskopisch feinen Verzweigung und der schwer


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[0469] Die Seele des Kindes sofort Körner pickn, die neugebvriien Ferkel, vom Muttertiere entfernt, sofort zu diesem zurücklaufen, die Zitzen finden und sangen, so läßt sich das ja als Instinkt — erklären wäre zu viel gesagt, sagen wir auffassen. Wenn jedoch ein solches Schweiuetiudleiu, ans einen Stuhl gestellt, die Vorderbeine in Kniestellung bringt und mit einem Satze hinunterspringt, der ans richtige Distanzabschätznng schließen läßt, so müßte der Begriff des ererbten Gcvächtnisses doch schon setze weit ausgedehnt werden, um noch zur Verdeutlichung des Vorganges herangezogen werden zu tonnen, Preyer meint, das Schweinchen benehme sich so, weil seine Vorfahren es »nzähligemal auch so gemacht hätten. Allein wie wenig Gelegenheit zu solchen Turnübungen wird unsern deutschen Schweinen geboten! Doch wollen wir darüber mit Preyer nicht rechten; das Erperimeutirferkelchen kann ja freie Karpathenbewvhner zu Vorfahren gehabt haben. Geradezu erstaunlich aber ist die Intelligenz des frisch ans dem El geschliipften Einsiedlerkrebses, Dieses Tierchen weiß sofort, daß es zum Schutze seines weichen Hinterleibes eines Gehäuses bedarf, Legt man eine Muschel in sein Behältnis, so stürzt sich der junge Krebs darauf, untersucht, ob sie leer ist, und quartiert sich in die leer befundene ein. Findet er aber ein Tier darin, so wartet er, bis es tot ist, was unter den vom Experimentator geordneten Umstände» nicht lange danert; dann zieht er die Reiche heraus, verspeist sie und kriecht in das GeHänse, Dieser neugeborne Krebs weiß offenbar mehr, als selbst der größte Naturforscher vor llntersnchung der Lebensbedingungen der Weichtiere wissen würde, nämlich daß das Muscheltier nnter den ob¬ waltenden Umständen bald sterbe» wird; wüßte er das uicht, so würde er nicht darauf warten. Vergegenwärtigen wir uns einmal ganz oberflächlich, welche Wunder oder eigentlich Wuudergruppen jedes lebende Wesen in sich birgt. Das erste Wunder ist sei» Leib, eine Maschine von so künstlichem, feinem und verwickeltem Ban, daß kein menschlicher Künstler etwas ähnliches zu schaffen vermochte. Deu Unterschied einer anatomischen Wachsfigur von den nachgebildeten Körperteilen eines wirklichen Tieres oder Menschen bemerkt jeder sofort mit bloßem Auge. Um ein Stückchen Menschenhand unturgetren darzustellen, müßte der Künstler ihr aus vielen verschiedenartige» Schichten bestehendes, mit allerlei Gefäße» und Nervenfäserche» durchsetztes Gewebe nachahmen können. Und es würde dazu noch nicht genügen, mikroskopisch kleine Körperchen an einander zu fügen und nnter einander zu verbinden, da ja die Urbestandteile, von deren Beschaffen¬ heit und Lage die Art des Gewebes abhängt, so klein sind, daß sie durch keine noch so gewaltige Vergrößerung jemals werden sichtbar gemacht werden können. Das zweite Wunder ist das Leben. Der Säfteumlauf wäre dabei noch das wenigste. Ein Pump- >ab Röhremwert wie »user Gefäßsystem könnte mau sich, abgesehen vo» der mikroskopisch feinen Verzweigung und der schwer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/469>, abgerufen am 28.06.2024.