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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Kindes

einer Thür i" eine andre Welt. Aber schon die Thatsache des Nachdenkens
über die Möglichkeit einer solchen zeigt, wie weit der entwickelte Mensch seine
Mitwesen überragt. Den Schlüssel zum Verständnis des großen Rätsels, wie
diese Extreme zusammenhängen, liefert die Entwicklungsgeschichte der Seele des
Kindes." Das klingt schon recht bescheiden. Noch bescheidener sagt er im
Vorwort zur zweiten Auflage: "So drängen sich dem Beobachter des Kindes
die höchsten fragen von selbst auf in der heitern Form des lächelnden rosigen
Kindergesichtes, aber zugleich undurchdringlich wie das große Geheimnis des
Werdens und Vergehens überhaupt." Demnach scheint mit dem "Verständnis,
wie diese Extreme zusanunenhängen," nnr die Ermittlung der wahrnehmbaren
Zwischenglieder zwischen den niedrigsten und den höchsten ^ebeusäußeruugen
gemeint zu sein. Sollte der Ausdruck mehr bedeuten, eine wirkliche Lösung
des Rätsels, so würde auch dieses Buch, gleich vielen andern Physiologischen
Werken, nur das Gegenteil von dein beweisen, was beabsichtigt war.

Beleuchten wir uur einen einzigen Punkt der Untersuchung. Das Gedächtnis
bildet die unerläßliche Bedingung und den Anfang der geistigen Entwicklung.
Dieses Gedächtnis ist, wie wir Preber zugeben können, teils persönliches, teils
Stammesgedächtnis. Mit letzter"! ist gemeint, das; eine häufig geübte Be¬
wegung, z. B. bei Hühnern das Picken der anf dem Boden erblickten Körner,
eine feste Verbindung zwischen dem Sehzentrnm und dem Bewegnngszentrnm im
Hühnergehirn herstellt, daß der solchergestalt hergestellte, nach jeder Übung
immer leichter gehende Apparat vererbt und in jedem frisch ausgekrochenen
Hühnchen sofort in Thätigkeit versetzt wird, sobald einer seiner Hebel, der
Sehnerv, beim Anblick von Körnern in Bewegung gerät. Freilich ist anch
das persönliche Gedächtnis an ein ererbtes Organ gebunden; sein Unterschied
vom "phyletischeu" besteht jedoch darin, daß bei ihm nnr die Fähigkeit, Er¬
fahrungen zu mache", sie aufzubewahren und zu benutze", beim zweiten aber
die richtige Beimtzung der von den Vorfahren gemachten Erfahrungen vererbt
wird. Die Äußerungen des Stammesgedächtnisses bezeichnen wir als Instinkt,
die Anwendung des persönlichen Gedächtnisses führt zur Ausbildung des Ver¬
standes. Bekanntlich überwiegt beim Tiere der Instinkt, beim Menschen der
Verstand. Beim Menschen, sagt Eduard von Hartmann, den Preuer bei¬
stimmend anführt, "scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern alles
erst zu lerucnu in der That aber bringt es alles oder doch unendlich viel mehr
als das fix und fertig aus dem El kriechende Tier mit, aber eS bringt alles
in unreifem Zustande mit, weil des zu entwickelnden bei ihm so viel ist, daß
es in den neun Monaten des Embrhvlebeus uur erst im Keime vorgebildet
sein kaun." Es ist zuweilen sehr schwierig, mit Sicherheit zu unterscheiden,
welche ^ebeusäußcruugen neugeborner Tiere auf deu Instinkt, welche auf eine
wunderbar früh und scheinbar ohne vorhergehende Erfahrung ausgebildete
Verslandesthätigkeit zurückzuführen siud. Wem, die ausgekrochnen Hühnchen


Die Seele des Kindes

einer Thür i» eine andre Welt. Aber schon die Thatsache des Nachdenkens
über die Möglichkeit einer solchen zeigt, wie weit der entwickelte Mensch seine
Mitwesen überragt. Den Schlüssel zum Verständnis des großen Rätsels, wie
diese Extreme zusammenhängen, liefert die Entwicklungsgeschichte der Seele des
Kindes." Das klingt schon recht bescheiden. Noch bescheidener sagt er im
Vorwort zur zweiten Auflage: „So drängen sich dem Beobachter des Kindes
die höchsten fragen von selbst auf in der heitern Form des lächelnden rosigen
Kindergesichtes, aber zugleich undurchdringlich wie das große Geheimnis des
Werdens und Vergehens überhaupt." Demnach scheint mit dem „Verständnis,
wie diese Extreme zusanunenhängen," nnr die Ermittlung der wahrnehmbaren
Zwischenglieder zwischen den niedrigsten und den höchsten ^ebeusäußeruugen
gemeint zu sein. Sollte der Ausdruck mehr bedeuten, eine wirkliche Lösung
des Rätsels, so würde auch dieses Buch, gleich vielen andern Physiologischen
Werken, nur das Gegenteil von dein beweisen, was beabsichtigt war.

Beleuchten wir uur einen einzigen Punkt der Untersuchung. Das Gedächtnis
bildet die unerläßliche Bedingung und den Anfang der geistigen Entwicklung.
Dieses Gedächtnis ist, wie wir Preber zugeben können, teils persönliches, teils
Stammesgedächtnis. Mit letzter»! ist gemeint, das; eine häufig geübte Be¬
wegung, z. B. bei Hühnern das Picken der anf dem Boden erblickten Körner,
eine feste Verbindung zwischen dem Sehzentrnm und dem Bewegnngszentrnm im
Hühnergehirn herstellt, daß der solchergestalt hergestellte, nach jeder Übung
immer leichter gehende Apparat vererbt und in jedem frisch ausgekrochenen
Hühnchen sofort in Thätigkeit versetzt wird, sobald einer seiner Hebel, der
Sehnerv, beim Anblick von Körnern in Bewegung gerät. Freilich ist anch
das persönliche Gedächtnis an ein ererbtes Organ gebunden; sein Unterschied
vom „phyletischeu" besteht jedoch darin, daß bei ihm nnr die Fähigkeit, Er¬
fahrungen zu mache», sie aufzubewahren und zu benutze», beim zweiten aber
die richtige Beimtzung der von den Vorfahren gemachten Erfahrungen vererbt
wird. Die Äußerungen des Stammesgedächtnisses bezeichnen wir als Instinkt,
die Anwendung des persönlichen Gedächtnisses führt zur Ausbildung des Ver¬
standes. Bekanntlich überwiegt beim Tiere der Instinkt, beim Menschen der
Verstand. Beim Menschen, sagt Eduard von Hartmann, den Preuer bei¬
stimmend anführt, „scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern alles
erst zu lerucnu in der That aber bringt es alles oder doch unendlich viel mehr
als das fix und fertig aus dem El kriechende Tier mit, aber eS bringt alles
in unreifem Zustande mit, weil des zu entwickelnden bei ihm so viel ist, daß
es in den neun Monaten des Embrhvlebeus uur erst im Keime vorgebildet
sein kaun." Es ist zuweilen sehr schwierig, mit Sicherheit zu unterscheiden,
welche ^ebeusäußcruugen neugeborner Tiere auf deu Instinkt, welche auf eine
wunderbar früh und scheinbar ohne vorhergehende Erfahrung ausgebildete
Verslandesthätigkeit zurückzuführen siud. Wem, die ausgekrochnen Hühnchen


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[0468] Die Seele des Kindes einer Thür i» eine andre Welt. Aber schon die Thatsache des Nachdenkens über die Möglichkeit einer solchen zeigt, wie weit der entwickelte Mensch seine Mitwesen überragt. Den Schlüssel zum Verständnis des großen Rätsels, wie diese Extreme zusammenhängen, liefert die Entwicklungsgeschichte der Seele des Kindes." Das klingt schon recht bescheiden. Noch bescheidener sagt er im Vorwort zur zweiten Auflage: „So drängen sich dem Beobachter des Kindes die höchsten fragen von selbst auf in der heitern Form des lächelnden rosigen Kindergesichtes, aber zugleich undurchdringlich wie das große Geheimnis des Werdens und Vergehens überhaupt." Demnach scheint mit dem „Verständnis, wie diese Extreme zusanunenhängen," nnr die Ermittlung der wahrnehmbaren Zwischenglieder zwischen den niedrigsten und den höchsten ^ebeusäußeruugen gemeint zu sein. Sollte der Ausdruck mehr bedeuten, eine wirkliche Lösung des Rätsels, so würde auch dieses Buch, gleich vielen andern Physiologischen Werken, nur das Gegenteil von dein beweisen, was beabsichtigt war. Beleuchten wir uur einen einzigen Punkt der Untersuchung. Das Gedächtnis bildet die unerläßliche Bedingung und den Anfang der geistigen Entwicklung. Dieses Gedächtnis ist, wie wir Preber zugeben können, teils persönliches, teils Stammesgedächtnis. Mit letzter»! ist gemeint, das; eine häufig geübte Be¬ wegung, z. B. bei Hühnern das Picken der anf dem Boden erblickten Körner, eine feste Verbindung zwischen dem Sehzentrnm und dem Bewegnngszentrnm im Hühnergehirn herstellt, daß der solchergestalt hergestellte, nach jeder Übung immer leichter gehende Apparat vererbt und in jedem frisch ausgekrochenen Hühnchen sofort in Thätigkeit versetzt wird, sobald einer seiner Hebel, der Sehnerv, beim Anblick von Körnern in Bewegung gerät. Freilich ist anch das persönliche Gedächtnis an ein ererbtes Organ gebunden; sein Unterschied vom „phyletischeu" besteht jedoch darin, daß bei ihm nnr die Fähigkeit, Er¬ fahrungen zu mache», sie aufzubewahren und zu benutze», beim zweiten aber die richtige Beimtzung der von den Vorfahren gemachten Erfahrungen vererbt wird. Die Äußerungen des Stammesgedächtnisses bezeichnen wir als Instinkt, die Anwendung des persönlichen Gedächtnisses führt zur Ausbildung des Ver¬ standes. Bekanntlich überwiegt beim Tiere der Instinkt, beim Menschen der Verstand. Beim Menschen, sagt Eduard von Hartmann, den Preuer bei¬ stimmend anführt, „scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern alles erst zu lerucnu in der That aber bringt es alles oder doch unendlich viel mehr als das fix und fertig aus dem El kriechende Tier mit, aber eS bringt alles in unreifem Zustande mit, weil des zu entwickelnden bei ihm so viel ist, daß es in den neun Monaten des Embrhvlebeus uur erst im Keime vorgebildet sein kaun." Es ist zuweilen sehr schwierig, mit Sicherheit zu unterscheiden, welche ^ebeusäußcruugen neugeborner Tiere auf deu Instinkt, welche auf eine wunderbar früh und scheinbar ohne vorhergehende Erfahrung ausgebildete Verslandesthätigkeit zurückzuführen siud. Wem, die ausgekrochnen Hühnchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/468>, abgerufen am 30.06.2024.