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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Teele des Kindes

zu beschaffender stetig wirkenden Triebkraft, allenfalls noch als menschliches
Kunstwerk denken. Aber wie es zugeht, daß die aufgenommenen Nahrungs-
stoffe in jenen Gefäßen gerade diese und keine andern chemischen Veränderungen
erleiden, daß ein Teil dieser Stoffe auf verschiednen Wegen, auf jedem in einer
eigentümlichen Form ausgeschieden, ein andrer zum Aufbau teils von Blut¬
körperchen, teils von Nerven- und Muskelzellen verwendet wird, daß bis zu
einem gewissen Lebensalter die Organe sich durch Anbau neuer Zellen ver¬
größern, ja daß sogar neue Organe gebildet werden, während nach dieser Zeit
der Stoffwechsel nur noch zur Wiederherstellung der abgenutzten Teile dient
und alle Organe in Thätigkeit erhält, das alles vermag kein Mensch zu
ergründen.

Als drittes Wunder begegnet uns sodann die Entwicklung der Organismen
aus einem Keime, Denken wir uns den Weltmechanismus, woher er auch
immer stammen mag, schon in Thätigkeit, wie fängt es die Keimzelle an, ans
rein mechanischem Wege aus den von ihr ergriffenen Stoffen andre Zellen
von sehr verschiednen Bau zu bilden nud diese sich mit solchen Geschick an¬
zugliedern, daß das Ganze einen fein durchgebildeten lebenden Organismus
darstellt? Wie geht es zu, daß diese aus scheinbar ganz ähnlichen Keimzellen
hervorgehenden Organismen so unendlich verschieden ausfallen, je nachdem der
Keim von einem Apfelbaum, von einer Rose, vou einer Schnecke, von einem
Pferde oder von einem Menschen stammt, daß aber alle Wesen, die sich aus
Keimen derselben Art entwickeln, die bewundernswürdigste Übereinstimmung
der äußern Gestalt wie des innern Baues zeige"? Unter allen erdenklichen
Vorstellungen wäre die abenteuerlichste Wohl die, daß der Menschenkeim selbst
schon ein kleiner Mensch wäre, d. h. daß er alle Teile des erwachsenen Menschen,
unter andern auch alle Gehirnwindungen, in unendlich kleinem Format bereits
enthielte, und daß das Wachstum nur in der Ausdehnung, gewissermaßen Aus¬
blähung der schon vorhandenen Organe bestünde.

Dieses Abenteuerliche würde geradezu lächerlich, wenn wir es aus das
vierte Wunder, das Wunder der Vererbung ausdehnen und annehmen wollten,
daß im Urkeime schon alle Nachkommen eingeschachtelt gelegen hätten, die im Laufe
der Zeit aus ihm hervorgehen. Jeder Keim hat nicht allein die Kraft, sich zu
einem Organismus, und zwar gerade nur zu einem Organismus dieser ganz
bestimmten Art auszuwachsen, sondern auch noch die andre, wiederum Keime
abzusondern, denen dieselbe Kraft innewohnt, sodasz sich das Spiel dnrch un¬
zählige Geschlechtsfolgen hindurch jahrtansendelaug fortsetzt. Daß dieses Gesetz
der Vererbung nicht mit starrer Unabänderlichkeit waltet, sondern Abweichungen
zuläßt, die teils schou an dein soeben zur Welt gekommenen Wesen hervor¬
treten, teils erst in dessen Lebenslauf durch Anpassung an die äußere Um¬
gebung bewirkt werdeu, ist streng genommen el" neues Wunder. Die Sache
bleibt gleich unbegreiflich, mögen Nur annehmen, daß die ans ursprünglich ver-


Die Teele des Kindes

zu beschaffender stetig wirkenden Triebkraft, allenfalls noch als menschliches
Kunstwerk denken. Aber wie es zugeht, daß die aufgenommenen Nahrungs-
stoffe in jenen Gefäßen gerade diese und keine andern chemischen Veränderungen
erleiden, daß ein Teil dieser Stoffe auf verschiednen Wegen, auf jedem in einer
eigentümlichen Form ausgeschieden, ein andrer zum Aufbau teils von Blut¬
körperchen, teils von Nerven- und Muskelzellen verwendet wird, daß bis zu
einem gewissen Lebensalter die Organe sich durch Anbau neuer Zellen ver¬
größern, ja daß sogar neue Organe gebildet werden, während nach dieser Zeit
der Stoffwechsel nur noch zur Wiederherstellung der abgenutzten Teile dient
und alle Organe in Thätigkeit erhält, das alles vermag kein Mensch zu
ergründen.

Als drittes Wunder begegnet uns sodann die Entwicklung der Organismen
aus einem Keime, Denken wir uns den Weltmechanismus, woher er auch
immer stammen mag, schon in Thätigkeit, wie fängt es die Keimzelle an, ans
rein mechanischem Wege aus den von ihr ergriffenen Stoffen andre Zellen
von sehr verschiednen Bau zu bilden nud diese sich mit solchen Geschick an¬
zugliedern, daß das Ganze einen fein durchgebildeten lebenden Organismus
darstellt? Wie geht es zu, daß diese aus scheinbar ganz ähnlichen Keimzellen
hervorgehenden Organismen so unendlich verschieden ausfallen, je nachdem der
Keim von einem Apfelbaum, von einer Rose, vou einer Schnecke, von einem
Pferde oder von einem Menschen stammt, daß aber alle Wesen, die sich aus
Keimen derselben Art entwickeln, die bewundernswürdigste Übereinstimmung
der äußern Gestalt wie des innern Baues zeige»? Unter allen erdenklichen
Vorstellungen wäre die abenteuerlichste Wohl die, daß der Menschenkeim selbst
schon ein kleiner Mensch wäre, d. h. daß er alle Teile des erwachsenen Menschen,
unter andern auch alle Gehirnwindungen, in unendlich kleinem Format bereits
enthielte, und daß das Wachstum nur in der Ausdehnung, gewissermaßen Aus¬
blähung der schon vorhandenen Organe bestünde.

Dieses Abenteuerliche würde geradezu lächerlich, wenn wir es aus das
vierte Wunder, das Wunder der Vererbung ausdehnen und annehmen wollten,
daß im Urkeime schon alle Nachkommen eingeschachtelt gelegen hätten, die im Laufe
der Zeit aus ihm hervorgehen. Jeder Keim hat nicht allein die Kraft, sich zu
einem Organismus, und zwar gerade nur zu einem Organismus dieser ganz
bestimmten Art auszuwachsen, sondern auch noch die andre, wiederum Keime
abzusondern, denen dieselbe Kraft innewohnt, sodasz sich das Spiel dnrch un¬
zählige Geschlechtsfolgen hindurch jahrtansendelaug fortsetzt. Daß dieses Gesetz
der Vererbung nicht mit starrer Unabänderlichkeit waltet, sondern Abweichungen
zuläßt, die teils schou an dein soeben zur Welt gekommenen Wesen hervor¬
treten, teils erst in dessen Lebenslauf durch Anpassung an die äußere Um¬
gebung bewirkt werdeu, ist streng genommen el» neues Wunder. Die Sache
bleibt gleich unbegreiflich, mögen Nur annehmen, daß die ans ursprünglich ver-


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[0470] Die Teele des Kindes zu beschaffender stetig wirkenden Triebkraft, allenfalls noch als menschliches Kunstwerk denken. Aber wie es zugeht, daß die aufgenommenen Nahrungs- stoffe in jenen Gefäßen gerade diese und keine andern chemischen Veränderungen erleiden, daß ein Teil dieser Stoffe auf verschiednen Wegen, auf jedem in einer eigentümlichen Form ausgeschieden, ein andrer zum Aufbau teils von Blut¬ körperchen, teils von Nerven- und Muskelzellen verwendet wird, daß bis zu einem gewissen Lebensalter die Organe sich durch Anbau neuer Zellen ver¬ größern, ja daß sogar neue Organe gebildet werden, während nach dieser Zeit der Stoffwechsel nur noch zur Wiederherstellung der abgenutzten Teile dient und alle Organe in Thätigkeit erhält, das alles vermag kein Mensch zu ergründen. Als drittes Wunder begegnet uns sodann die Entwicklung der Organismen aus einem Keime, Denken wir uns den Weltmechanismus, woher er auch immer stammen mag, schon in Thätigkeit, wie fängt es die Keimzelle an, ans rein mechanischem Wege aus den von ihr ergriffenen Stoffen andre Zellen von sehr verschiednen Bau zu bilden nud diese sich mit solchen Geschick an¬ zugliedern, daß das Ganze einen fein durchgebildeten lebenden Organismus darstellt? Wie geht es zu, daß diese aus scheinbar ganz ähnlichen Keimzellen hervorgehenden Organismen so unendlich verschieden ausfallen, je nachdem der Keim von einem Apfelbaum, von einer Rose, vou einer Schnecke, von einem Pferde oder von einem Menschen stammt, daß aber alle Wesen, die sich aus Keimen derselben Art entwickeln, die bewundernswürdigste Übereinstimmung der äußern Gestalt wie des innern Baues zeige»? Unter allen erdenklichen Vorstellungen wäre die abenteuerlichste Wohl die, daß der Menschenkeim selbst schon ein kleiner Mensch wäre, d. h. daß er alle Teile des erwachsenen Menschen, unter andern auch alle Gehirnwindungen, in unendlich kleinem Format bereits enthielte, und daß das Wachstum nur in der Ausdehnung, gewissermaßen Aus¬ blähung der schon vorhandenen Organe bestünde. Dieses Abenteuerliche würde geradezu lächerlich, wenn wir es aus das vierte Wunder, das Wunder der Vererbung ausdehnen und annehmen wollten, daß im Urkeime schon alle Nachkommen eingeschachtelt gelegen hätten, die im Laufe der Zeit aus ihm hervorgehen. Jeder Keim hat nicht allein die Kraft, sich zu einem Organismus, und zwar gerade nur zu einem Organismus dieser ganz bestimmten Art auszuwachsen, sondern auch noch die andre, wiederum Keime abzusondern, denen dieselbe Kraft innewohnt, sodasz sich das Spiel dnrch un¬ zählige Geschlechtsfolgen hindurch jahrtansendelaug fortsetzt. Daß dieses Gesetz der Vererbung nicht mit starrer Unabänderlichkeit waltet, sondern Abweichungen zuläßt, die teils schou an dein soeben zur Welt gekommenen Wesen hervor¬ treten, teils erst in dessen Lebenslauf durch Anpassung an die äußere Um¬ gebung bewirkt werdeu, ist streng genommen el» neues Wunder. Die Sache bleibt gleich unbegreiflich, mögen Nur annehmen, daß die ans ursprünglich ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/470>, abgerufen am 25.06.2024.