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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Amtes

Noch ein praktisch nicht unwichtiges Ergebnis von Preyers Beobachtungen
möchten wir erwähnen. "Die erste Periode des menschlichen Lebens gehört
zu den am wenigste" angenehmen, da sowohl die Anzahl der Genüsse als auch
die Genußfähigkeit eine geringe ist und die Unlustgefühle überwiegen, bis der
Schlaf sie unterbricht. . . . Im ersten Jahre sind die Unlustgefühle häufiger
als später. Selbst bei der sorgfältigsten Pflege, Ventilation, Regulirung der
Luft- und Badetemperatur, Kontrolle der Mutter-, Ammen-, Kuhmilch oder
der Surrogate und in der freundlichste" Umgebung wird es nicht oft einem
Menschenkinde beschieden sein, ganz gesund zu bleiben, ohne einen Tag des
Leidens." Denken wir uns nun die Kinder der Armen, die bei unzureichender
oder widerwärtiger Nahrung, wie sauerm Brotmehlbrei, halbe oder ganze Tage
lang ohne Wartung aus ihrem ungeeigneten nud verunreinigten Lager in über¬
heizten oder naßkalten, nicht selten mit Ofenrauch, Tabaksqualm und allen
möglichen schlechten Dünsten angefüllten Stuben liegen müssen und zuweilen von
deu durch die Not erbitterten Eltern schon vor Ablauf des ersten Jahres gemi߬
handelt werden: was für eine Giftgrnbe voll Ingrimm, Wut und Bosheit
müßte ihr Herz werden, wenn die Erinnerung dieser unaufhörlich und schuldlos
erduldeten Leiden in ihrem Gedächtnis haftete! Und wie müßte sich bei tiefer
Eiudrucksfähigkeit für empfundene Schmerzen das Gift auch in den nach¬
folgenden Jahren mehren, da bei vielen' die Genüsse immer "och ausbleiben
und zu deu unbehaglichen Empfindungen von Hunger, Kälte, Hitze und Un-
reinlichkeit sich die Mißhandlungen gesellen! Giebt es doch arme Kinder,
namentlich arme Knaben genug, die bis zum siebzehnten oder achtzehnten Jahre
täglich Schläge bekommen. Welches Glück also, daß das Kind in seinen ersten
Tagen noch fast gar kein persönliches Gedächtnis hat, und daß das Gedächtnis
für ertragene Widerwärtigkeiten die ganze Jugendzeit hindurch gewöhnlich
schwach bleibt! Dem Erwachsenen erscheint dieses schnelle Vergessen als Leicht¬
sinn, und der orthodoxe Moralist sieht darin einen deutlichen Beweis für die
erbsündliche Verderbnis der jungen Kreaturen, zu deren Austreibung die
Gnadenmittel der Kirche nicht genügen, wenn nicht das Universalmittel aller
trägen und unwissenden Pädagogen, eine tägliche Tracht Prügel, fleißig weiter
verabreicht wird.

Wenden wir uns nnn zu dein eigentlichen Zwecke der Untersuchungen
Prehers, so will es uns scheinen, daß er von materialistischen Anschauungen
ausgegangen, aber in der andauernden Beschäftigung mit seinem Gegenstande,
der doch ganz andre Gedanken und Gefühle erwecken mußte als ein Sezirbefuud
von Fröschen, Hühnern oder Kaninchen, daran irre geworden ist und vor dem
Geheimnis des leiblichen und geistigen Lebens kapitulirt hat. Die Kindheit,
sagt er am Schluß, lehrt den Menschen deutlich, daß er "mit der übrigen
lebendigen Natur nicht allein innig verwandt, sondern auch verwachsen ist.
Solveit er sich auch ausbildet, immer vergebens tastet er im Dunkeln nach


Die Seele des Amtes

Noch ein praktisch nicht unwichtiges Ergebnis von Preyers Beobachtungen
möchten wir erwähnen. „Die erste Periode des menschlichen Lebens gehört
zu den am wenigste» angenehmen, da sowohl die Anzahl der Genüsse als auch
die Genußfähigkeit eine geringe ist und die Unlustgefühle überwiegen, bis der
Schlaf sie unterbricht. . . . Im ersten Jahre sind die Unlustgefühle häufiger
als später. Selbst bei der sorgfältigsten Pflege, Ventilation, Regulirung der
Luft- und Badetemperatur, Kontrolle der Mutter-, Ammen-, Kuhmilch oder
der Surrogate und in der freundlichste» Umgebung wird es nicht oft einem
Menschenkinde beschieden sein, ganz gesund zu bleiben, ohne einen Tag des
Leidens." Denken wir uns nun die Kinder der Armen, die bei unzureichender
oder widerwärtiger Nahrung, wie sauerm Brotmehlbrei, halbe oder ganze Tage
lang ohne Wartung aus ihrem ungeeigneten nud verunreinigten Lager in über¬
heizten oder naßkalten, nicht selten mit Ofenrauch, Tabaksqualm und allen
möglichen schlechten Dünsten angefüllten Stuben liegen müssen und zuweilen von
deu durch die Not erbitterten Eltern schon vor Ablauf des ersten Jahres gemi߬
handelt werden: was für eine Giftgrnbe voll Ingrimm, Wut und Bosheit
müßte ihr Herz werden, wenn die Erinnerung dieser unaufhörlich und schuldlos
erduldeten Leiden in ihrem Gedächtnis haftete! Und wie müßte sich bei tiefer
Eiudrucksfähigkeit für empfundene Schmerzen das Gift auch in den nach¬
folgenden Jahren mehren, da bei vielen' die Genüsse immer »och ausbleiben
und zu deu unbehaglichen Empfindungen von Hunger, Kälte, Hitze und Un-
reinlichkeit sich die Mißhandlungen gesellen! Giebt es doch arme Kinder,
namentlich arme Knaben genug, die bis zum siebzehnten oder achtzehnten Jahre
täglich Schläge bekommen. Welches Glück also, daß das Kind in seinen ersten
Tagen noch fast gar kein persönliches Gedächtnis hat, und daß das Gedächtnis
für ertragene Widerwärtigkeiten die ganze Jugendzeit hindurch gewöhnlich
schwach bleibt! Dem Erwachsenen erscheint dieses schnelle Vergessen als Leicht¬
sinn, und der orthodoxe Moralist sieht darin einen deutlichen Beweis für die
erbsündliche Verderbnis der jungen Kreaturen, zu deren Austreibung die
Gnadenmittel der Kirche nicht genügen, wenn nicht das Universalmittel aller
trägen und unwissenden Pädagogen, eine tägliche Tracht Prügel, fleißig weiter
verabreicht wird.

Wenden wir uns nnn zu dein eigentlichen Zwecke der Untersuchungen
Prehers, so will es uns scheinen, daß er von materialistischen Anschauungen
ausgegangen, aber in der andauernden Beschäftigung mit seinem Gegenstande,
der doch ganz andre Gedanken und Gefühle erwecken mußte als ein Sezirbefuud
von Fröschen, Hühnern oder Kaninchen, daran irre geworden ist und vor dem
Geheimnis des leiblichen und geistigen Lebens kapitulirt hat. Die Kindheit,
sagt er am Schluß, lehrt den Menschen deutlich, daß er „mit der übrigen
lebendigen Natur nicht allein innig verwandt, sondern auch verwachsen ist.
Solveit er sich auch ausbildet, immer vergebens tastet er im Dunkeln nach


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[0467] Die Seele des Amtes Noch ein praktisch nicht unwichtiges Ergebnis von Preyers Beobachtungen möchten wir erwähnen. „Die erste Periode des menschlichen Lebens gehört zu den am wenigste» angenehmen, da sowohl die Anzahl der Genüsse als auch die Genußfähigkeit eine geringe ist und die Unlustgefühle überwiegen, bis der Schlaf sie unterbricht. . . . Im ersten Jahre sind die Unlustgefühle häufiger als später. Selbst bei der sorgfältigsten Pflege, Ventilation, Regulirung der Luft- und Badetemperatur, Kontrolle der Mutter-, Ammen-, Kuhmilch oder der Surrogate und in der freundlichste» Umgebung wird es nicht oft einem Menschenkinde beschieden sein, ganz gesund zu bleiben, ohne einen Tag des Leidens." Denken wir uns nun die Kinder der Armen, die bei unzureichender oder widerwärtiger Nahrung, wie sauerm Brotmehlbrei, halbe oder ganze Tage lang ohne Wartung aus ihrem ungeeigneten nud verunreinigten Lager in über¬ heizten oder naßkalten, nicht selten mit Ofenrauch, Tabaksqualm und allen möglichen schlechten Dünsten angefüllten Stuben liegen müssen und zuweilen von deu durch die Not erbitterten Eltern schon vor Ablauf des ersten Jahres gemi߬ handelt werden: was für eine Giftgrnbe voll Ingrimm, Wut und Bosheit müßte ihr Herz werden, wenn die Erinnerung dieser unaufhörlich und schuldlos erduldeten Leiden in ihrem Gedächtnis haftete! Und wie müßte sich bei tiefer Eiudrucksfähigkeit für empfundene Schmerzen das Gift auch in den nach¬ folgenden Jahren mehren, da bei vielen' die Genüsse immer »och ausbleiben und zu deu unbehaglichen Empfindungen von Hunger, Kälte, Hitze und Un- reinlichkeit sich die Mißhandlungen gesellen! Giebt es doch arme Kinder, namentlich arme Knaben genug, die bis zum siebzehnten oder achtzehnten Jahre täglich Schläge bekommen. Welches Glück also, daß das Kind in seinen ersten Tagen noch fast gar kein persönliches Gedächtnis hat, und daß das Gedächtnis für ertragene Widerwärtigkeiten die ganze Jugendzeit hindurch gewöhnlich schwach bleibt! Dem Erwachsenen erscheint dieses schnelle Vergessen als Leicht¬ sinn, und der orthodoxe Moralist sieht darin einen deutlichen Beweis für die erbsündliche Verderbnis der jungen Kreaturen, zu deren Austreibung die Gnadenmittel der Kirche nicht genügen, wenn nicht das Universalmittel aller trägen und unwissenden Pädagogen, eine tägliche Tracht Prügel, fleißig weiter verabreicht wird. Wenden wir uns nnn zu dein eigentlichen Zwecke der Untersuchungen Prehers, so will es uns scheinen, daß er von materialistischen Anschauungen ausgegangen, aber in der andauernden Beschäftigung mit seinem Gegenstande, der doch ganz andre Gedanken und Gefühle erwecken mußte als ein Sezirbefuud von Fröschen, Hühnern oder Kaninchen, daran irre geworden ist und vor dem Geheimnis des leiblichen und geistigen Lebens kapitulirt hat. Die Kindheit, sagt er am Schluß, lehrt den Menschen deutlich, daß er „mit der übrigen lebendigen Natur nicht allein innig verwandt, sondern auch verwachsen ist. Solveit er sich auch ausbildet, immer vergebens tastet er im Dunkeln nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/467>, abgerufen am 02.07.2024.