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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Rindes

es auch nichts, da jenes Gchirnwachstum weder geleitet noch beschleunigt werden
könnte; der gelehrteste Physiolog kann in dieser Beziehung nichts andres thun
als die unwissendste Mutter, nämlich in Geduld abwarten, bis die Sache
fertig ist.

Interessant ist aber die Physiologie der Sprache, wie Preyer sie behandelt,
im höchsten Grade. Zuvörderst weist er nach, was nebenbei gesagt Herbart
ebenfalls schon ganz bestimmt behauptet hat, daß es ein Denken ohne Worte
giebt, daß dieses wortlose Denken bei jedem Kinde dem Sprechen vorhergeht,
und daß dieses ohne jenes gar nicht möglich wäre. Sodann wird in einer
lichtvollen, durch Zeichnungen unterstützten Abhandlung gezeigt, wie die einzelnen
Stufen der sprechenlernenden Kinder in gewissen Krankheitszuständen ihr Abbild
finden. Bekanntlich rühren die mancherlei Sprachstörungen, die entweder als
Begleiterscheinungen von Geisteskrankheiten, oder als Folgen einer partiellen
Lähmung, oder selbständig vorkommen, von Schädigungen gewisser Gehiruteile
her, sei es der zur Aufnahme der Sinneswahrnehmungen, oder der zur Er¬
teilung von Bewcgungsantrieben, oder der zur geistigen Vermittelung zwischen
Wahrnehmungen und Willensüußeruugeu bestimmten Zentren, oder der Leitungs¬
bahnen, die alle diese Zentren mit einander verbinden. Was einen: solchen
Kranken abhanden gekommen ist, das besitzt das Kind noch nicht. Indem man
"um durch das Seziren der Leichen solcher Sprachkranken gefunden hat, welche
Gehirnteile bei einem bestimmten Leiden, z. B. der Unfähigkeit, gesprochne
Wörter zu verstehen bei unversehrtem Gehör, entartet, beschädigt oder vernichtet
waren, kann man feststellen, welche Gehirnwindungen beim Kinde noch unent¬
wickelt sind, und kann man auch ohne Durchsichtigmachung seines Kopfes an
der Überwindung der verschiednen UnVollkommenheiten der Rede bei jedem
Fortschritt auf die nunmehr eingetretene Vollendung der entsprechenden Nerveu-
mnsfe schließen.

Ein überraschendes Licht verbreiten diese Untersuchungen auch über die
Sprachwissenschaft. Von den vielen wichtigen Beobachtungen, die Preyer i"
dieser Hinsicht gemacht hat, heben wir nur eine hervor. Die ersten Wörter,
die das Kind bildet, sind vieldeutig. Mit dem Worte ii,U,-i bezeichnete Preyers
Kind alle möglichen Gegenstände und namentlich "fort," sowie alle Verhältnisse,
bei denen das Sichentfernen eine Rolle spielt. Dieselbe Eigentümlichkeit viel¬
deutiger Worte weisen sehr alte Sprachen auf. Aber noch mehr; das Kind
bezeichnet kalt und warm, auf und ab, zu viel und zu wenig, ich und du mit
demselben Wort; es faßt diese Begriffe richtig als Endglieder einer und der¬
selben Reihe gleichartiger Begriffe auf. Dieser "Gegensinn der UrWorte," den
Kurt Abel namentlich im Ägyptischen nachgewiesen hat, erstreckt sich vielleicht,
schreibt Preyer, ans alle Sprachen, "und wenn der Entdecker selbst ihn als
ein grundlegendes Denk- und Sprachgesetz der Menschheit bezeichnet, so sagt
er wohl nicht zu viel."


Die Seele des Rindes

es auch nichts, da jenes Gchirnwachstum weder geleitet noch beschleunigt werden
könnte; der gelehrteste Physiolog kann in dieser Beziehung nichts andres thun
als die unwissendste Mutter, nämlich in Geduld abwarten, bis die Sache
fertig ist.

Interessant ist aber die Physiologie der Sprache, wie Preyer sie behandelt,
im höchsten Grade. Zuvörderst weist er nach, was nebenbei gesagt Herbart
ebenfalls schon ganz bestimmt behauptet hat, daß es ein Denken ohne Worte
giebt, daß dieses wortlose Denken bei jedem Kinde dem Sprechen vorhergeht,
und daß dieses ohne jenes gar nicht möglich wäre. Sodann wird in einer
lichtvollen, durch Zeichnungen unterstützten Abhandlung gezeigt, wie die einzelnen
Stufen der sprechenlernenden Kinder in gewissen Krankheitszuständen ihr Abbild
finden. Bekanntlich rühren die mancherlei Sprachstörungen, die entweder als
Begleiterscheinungen von Geisteskrankheiten, oder als Folgen einer partiellen
Lähmung, oder selbständig vorkommen, von Schädigungen gewisser Gehiruteile
her, sei es der zur Aufnahme der Sinneswahrnehmungen, oder der zur Er¬
teilung von Bewcgungsantrieben, oder der zur geistigen Vermittelung zwischen
Wahrnehmungen und Willensüußeruugeu bestimmten Zentren, oder der Leitungs¬
bahnen, die alle diese Zentren mit einander verbinden. Was einen: solchen
Kranken abhanden gekommen ist, das besitzt das Kind noch nicht. Indem man
»um durch das Seziren der Leichen solcher Sprachkranken gefunden hat, welche
Gehirnteile bei einem bestimmten Leiden, z. B. der Unfähigkeit, gesprochne
Wörter zu verstehen bei unversehrtem Gehör, entartet, beschädigt oder vernichtet
waren, kann man feststellen, welche Gehirnwindungen beim Kinde noch unent¬
wickelt sind, und kann man auch ohne Durchsichtigmachung seines Kopfes an
der Überwindung der verschiednen UnVollkommenheiten der Rede bei jedem
Fortschritt auf die nunmehr eingetretene Vollendung der entsprechenden Nerveu-
mnsfe schließen.

Ein überraschendes Licht verbreiten diese Untersuchungen auch über die
Sprachwissenschaft. Von den vielen wichtigen Beobachtungen, die Preyer i»
dieser Hinsicht gemacht hat, heben wir nur eine hervor. Die ersten Wörter,
die das Kind bildet, sind vieldeutig. Mit dem Worte ii,U,-i bezeichnete Preyers
Kind alle möglichen Gegenstände und namentlich „fort," sowie alle Verhältnisse,
bei denen das Sichentfernen eine Rolle spielt. Dieselbe Eigentümlichkeit viel¬
deutiger Worte weisen sehr alte Sprachen auf. Aber noch mehr; das Kind
bezeichnet kalt und warm, auf und ab, zu viel und zu wenig, ich und du mit
demselben Wort; es faßt diese Begriffe richtig als Endglieder einer und der¬
selben Reihe gleichartiger Begriffe auf. Dieser „Gegensinn der UrWorte," den
Kurt Abel namentlich im Ägyptischen nachgewiesen hat, erstreckt sich vielleicht,
schreibt Preyer, ans alle Sprachen, „und wenn der Entdecker selbst ihn als
ein grundlegendes Denk- und Sprachgesetz der Menschheit bezeichnet, so sagt
er wohl nicht zu viel."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/466>, abgerufen am 04.07.2024.