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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Ale Leele des Amtes

nachdem er sich oft vergebens unsägliche Mühe gegeben hatte, dem Kinde die
richtige Aussprache gewisser Wörter beizubringen, daß es mit dem Erlernen
dieser und andrer Künste weit rascher geht, wenn iuan das Kind "alleine
machen" läßt, wie es häufig ausdrücklich verlangt; auch tadelt er sehr ent¬
schieden, und mit ^echt, die in Deutschland eingerissene Übertreibung der
Fröbelschen Methode, Und so wird mau wohl von Säugling aus allmählich
zu der Einsicht kommen, daß auch beim vierzehn- und zwanzigjährigen Menschen
so manches Wünschenswerte leichter von statten gehen würde, wenn man ihn
etwas mehr "alleine machen" ließe.

Die wissenschaftliche Pädagogik selbst aber wird noch außerdem unnötiger¬
weise dadurch erschwert, daß unsre heutigen Naturforscher ein genaues Physio¬
logisches Studium als ihre selbstverständliche und unumgängliche Vorstufe
fordern. So interessant es auch sein mag, den leiblichen Apparat und den
Zusammenhang seiner einzelnen Berrichtnugen mit den daran gefesselten Seelen¬
thätigkeiten zu kennen, für die Erziehung ist es nicht notwendig. Herbart, der
noch nichts von alledem wußte, was uns in neuerer Zeit die Vivisektionen
und die Scktivnsbefunde an den Leichen verstorbener Kranken über die ver-
schiedne Bestimmung gewisser Gehirnteile kennen gelehrt haben, ist doch in den
pädagogischen Fragen, die Preber berührt, so ziemlich zu denselben Ansichten
gelangt wie dieser. Die Übereinstimmung erstreckt sich sogar aus Einzelheiten,
in deuen sonst die Meinungen weit auseinandergehen; beide Männer erklären
z. B. die Märchen für schädlich. Das allerdings darf der Pädagog in der
Theorie wie in der Praxis niemals übersehen, daß die geistige Thätigkeit über¬
haupt von der Beschaffenheit und dem jedesmaligen Zustande des Körpers
abhängig ist; aber die Einsicht in die Art des Zusammenhanges würde ihm in
den meisten Fällen nichts nützen. Daß es vergebliche Quälerei für beide Teile
ist, wenn man einen schon ermüdeten Schiller noch zu weiterer Aufmerksamkeit
zwingen will, haben einsichtige Lehrer schon lange vorher gewußt, ehe die
Physiologen die Ursache der Müdigkeitsempsinduug in den "Ermüdnngsstvffen"
entdeckt haben. Und was würde es dem Lehrer nützen, wenn er genau die
Stelle des Gehirns wüßte, deren unvollkommne Entwicklung dem Schüler das
Behalten der lateinischen Vokabeln erschwert? Ausbessern könnte er ven Fehler
doch nicht. Nehme" Nur an, der Schädel des kleinen Kindes könnte durchsichtig
und die allmähliche Ausbildung der Gehirnwindungen und Verbindungsbahnen,
die zur richtigen Auffassung und Wiedergabe des Gesprochenen dienen, durch
Vergrößerungsgläser sichtbar gemacht werden, so genösse der Physiolog aller¬
dings ein himmlisches Schauspiel, wenn er nun beobachtete, wie die Sprach¬
übungen des Kindes mit dem Wachstum jeuer Gehirnteile gleichen Schritt
halten. Der Physiolog, sagen wir, denn was die übrigen Menschen anlangt,
so macht es ihnen meistens kein Vergnügen, andern Menschen, namentlich
solchen, die sie lieben, ins Eingeweide hineinzuschauen. Aber nützen würde


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Ale Leele des Amtes

nachdem er sich oft vergebens unsägliche Mühe gegeben hatte, dem Kinde die
richtige Aussprache gewisser Wörter beizubringen, daß es mit dem Erlernen
dieser und andrer Künste weit rascher geht, wenn iuan das Kind „alleine
machen" läßt, wie es häufig ausdrücklich verlangt; auch tadelt er sehr ent¬
schieden, und mit ^echt, die in Deutschland eingerissene Übertreibung der
Fröbelschen Methode, Und so wird mau wohl von Säugling aus allmählich
zu der Einsicht kommen, daß auch beim vierzehn- und zwanzigjährigen Menschen
so manches Wünschenswerte leichter von statten gehen würde, wenn man ihn
etwas mehr „alleine machen" ließe.

Die wissenschaftliche Pädagogik selbst aber wird noch außerdem unnötiger¬
weise dadurch erschwert, daß unsre heutigen Naturforscher ein genaues Physio¬
logisches Studium als ihre selbstverständliche und unumgängliche Vorstufe
fordern. So interessant es auch sein mag, den leiblichen Apparat und den
Zusammenhang seiner einzelnen Berrichtnugen mit den daran gefesselten Seelen¬
thätigkeiten zu kennen, für die Erziehung ist es nicht notwendig. Herbart, der
noch nichts von alledem wußte, was uns in neuerer Zeit die Vivisektionen
und die Scktivnsbefunde an den Leichen verstorbener Kranken über die ver-
schiedne Bestimmung gewisser Gehirnteile kennen gelehrt haben, ist doch in den
pädagogischen Fragen, die Preber berührt, so ziemlich zu denselben Ansichten
gelangt wie dieser. Die Übereinstimmung erstreckt sich sogar aus Einzelheiten,
in deuen sonst die Meinungen weit auseinandergehen; beide Männer erklären
z. B. die Märchen für schädlich. Das allerdings darf der Pädagog in der
Theorie wie in der Praxis niemals übersehen, daß die geistige Thätigkeit über¬
haupt von der Beschaffenheit und dem jedesmaligen Zustande des Körpers
abhängig ist; aber die Einsicht in die Art des Zusammenhanges würde ihm in
den meisten Fällen nichts nützen. Daß es vergebliche Quälerei für beide Teile
ist, wenn man einen schon ermüdeten Schiller noch zu weiterer Aufmerksamkeit
zwingen will, haben einsichtige Lehrer schon lange vorher gewußt, ehe die
Physiologen die Ursache der Müdigkeitsempsinduug in den „Ermüdnngsstvffen"
entdeckt haben. Und was würde es dem Lehrer nützen, wenn er genau die
Stelle des Gehirns wüßte, deren unvollkommne Entwicklung dem Schüler das
Behalten der lateinischen Vokabeln erschwert? Ausbessern könnte er ven Fehler
doch nicht. Nehme» Nur an, der Schädel des kleinen Kindes könnte durchsichtig
und die allmähliche Ausbildung der Gehirnwindungen und Verbindungsbahnen,
die zur richtigen Auffassung und Wiedergabe des Gesprochenen dienen, durch
Vergrößerungsgläser sichtbar gemacht werden, so genösse der Physiolog aller¬
dings ein himmlisches Schauspiel, wenn er nun beobachtete, wie die Sprach¬
übungen des Kindes mit dem Wachstum jeuer Gehirnteile gleichen Schritt
halten. Der Physiolog, sagen wir, denn was die übrigen Menschen anlangt,
so macht es ihnen meistens kein Vergnügen, andern Menschen, namentlich
solchen, die sie lieben, ins Eingeweide hineinzuschauen. Aber nützen würde


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[0465] Ale Leele des Amtes nachdem er sich oft vergebens unsägliche Mühe gegeben hatte, dem Kinde die richtige Aussprache gewisser Wörter beizubringen, daß es mit dem Erlernen dieser und andrer Künste weit rascher geht, wenn iuan das Kind „alleine machen" läßt, wie es häufig ausdrücklich verlangt; auch tadelt er sehr ent¬ schieden, und mit ^echt, die in Deutschland eingerissene Übertreibung der Fröbelschen Methode, Und so wird mau wohl von Säugling aus allmählich zu der Einsicht kommen, daß auch beim vierzehn- und zwanzigjährigen Menschen so manches Wünschenswerte leichter von statten gehen würde, wenn man ihn etwas mehr „alleine machen" ließe. Die wissenschaftliche Pädagogik selbst aber wird noch außerdem unnötiger¬ weise dadurch erschwert, daß unsre heutigen Naturforscher ein genaues Physio¬ logisches Studium als ihre selbstverständliche und unumgängliche Vorstufe fordern. So interessant es auch sein mag, den leiblichen Apparat und den Zusammenhang seiner einzelnen Berrichtnugen mit den daran gefesselten Seelen¬ thätigkeiten zu kennen, für die Erziehung ist es nicht notwendig. Herbart, der noch nichts von alledem wußte, was uns in neuerer Zeit die Vivisektionen und die Scktivnsbefunde an den Leichen verstorbener Kranken über die ver- schiedne Bestimmung gewisser Gehirnteile kennen gelehrt haben, ist doch in den pädagogischen Fragen, die Preber berührt, so ziemlich zu denselben Ansichten gelangt wie dieser. Die Übereinstimmung erstreckt sich sogar aus Einzelheiten, in deuen sonst die Meinungen weit auseinandergehen; beide Männer erklären z. B. die Märchen für schädlich. Das allerdings darf der Pädagog in der Theorie wie in der Praxis niemals übersehen, daß die geistige Thätigkeit über¬ haupt von der Beschaffenheit und dem jedesmaligen Zustande des Körpers abhängig ist; aber die Einsicht in die Art des Zusammenhanges würde ihm in den meisten Fällen nichts nützen. Daß es vergebliche Quälerei für beide Teile ist, wenn man einen schon ermüdeten Schiller noch zu weiterer Aufmerksamkeit zwingen will, haben einsichtige Lehrer schon lange vorher gewußt, ehe die Physiologen die Ursache der Müdigkeitsempsinduug in den „Ermüdnngsstvffen" entdeckt haben. Und was würde es dem Lehrer nützen, wenn er genau die Stelle des Gehirns wüßte, deren unvollkommne Entwicklung dem Schüler das Behalten der lateinischen Vokabeln erschwert? Ausbessern könnte er ven Fehler doch nicht. Nehme» Nur an, der Schädel des kleinen Kindes könnte durchsichtig und die allmähliche Ausbildung der Gehirnwindungen und Verbindungsbahnen, die zur richtigen Auffassung und Wiedergabe des Gesprochenen dienen, durch Vergrößerungsgläser sichtbar gemacht werden, so genösse der Physiolog aller¬ dings ein himmlisches Schauspiel, wenn er nun beobachtete, wie die Sprach¬ übungen des Kindes mit dem Wachstum jeuer Gehirnteile gleichen Schritt halten. Der Physiolog, sagen wir, denn was die übrigen Menschen anlangt, so macht es ihnen meistens kein Vergnügen, andern Menschen, namentlich solchen, die sie lieben, ins Eingeweide hineinzuschauen. Aber nützen würde Ä^uzlwieu lV 1WU

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/465>, abgerufen am 25.07.2024.