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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Seele des Kindes

Erzieher und Lehrer wichtige Thatsache" es auch berührt, sondern physiologisch
und psychologisch." Es will uns scheinen, als ob sich der berühmte Physiologe
die Erziehungsfrage einerseits zu leicht und anderseits zu schwer machte. Zu
leicht, indem er glaubt, sie sei schon gelöst, sobald das Seelenleben des jungen
Menschen durchschaut und die Kunst, es zu beherrschen, gefunden ist. Nein,
dann fängt die Schwierigkeit erst an. Sie liegt in der Frage: Wozu soll der
junge Mensch erzogen werden? Das ist der Hauptstreitpunkt, gerade so wie
bei der Schulreform, wo die Streitenden weit mehr darin uneins siud, was,
als wie es gelehrt werden soll, vielleicht, weil sie aus Erfahrung schon wissen,
daß begabte Jungen das Latein auf jede, unbegabte auf keine Weise erlernen.
Zu schwer aber macht sich Preyer gleich andern Pädagogen die Sache, indem
er übersieht, daß es zu allen Zeiten nicht wenige Menschen gegeben hat, die
so vollkommen in ihrer Art waren, daß kein Verständiger sie sich besser und
anders wünschen möchte. Und wenn man im Lebenslauf solcher Menschen
nachforscht, so findet man gewöhnlich, daß sie entweder eine scheinbar sehr un¬
zweckmäßige Erziehung genossen haben, oder daß sie überhaupt wenig erzogen
worden und schon früh zu großer Selbständigkeit gelangt sind, oder daß ihre
Eltern schlichte Leute waren, die es zwar vou Herzen gut meinten und bei der
Erziehung treulich ihre Pflicht erfüllten, von wissenschaftlicher Pädagogik aber
keine Ahnung hatten. So wie die Menschen richtig essen, trinken, sehen und
laufen lernen, ehe sie eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser Verrichtungen und
der dazu nötigen Organe erlangen, so behandeln auch ungebildete Leute, wenn
sie mir gutartig und nicht gar zu dumm oder durch gar zu große Armut ge¬
bunden sind, ihre Kinder im allgemeinen richtig, und das richtige besteht u. a.
auch darin, daß den Kindern für den wichtigsten Teil der Erziehung, die
Selbsterziehung durch persönliche Erfahrung, die nötige Freiheit gelassen wird.
Nicht daß wir die wissenschaftliche Pädagogik geringschätzten. Aber ihr Wert
ist mehr theoretischer als praktischer Art, d. h. sie vermittelt hauptsächlich die
Einsicht in die Ursachen des Erfolges von Thätigkeiten, die auch ohne Kenntnis
des ursächlichen Zusammenhanges meistens richtig geübt werden. Praktisch
wertvoll wird die Pädagogik weit weniger durch das, was sie thun, als durch
das, was sie meiden lehrt. Das Übel unsrer Zeit liegt nämlich nicht, wie
manche glauben, darin, daß zu wenig, sondern darin, daß zu viel erzogen wird:
in dem Übermaße planmäßiger Einwirkungen, in der übertriebenen Dressur, die
bei manchen unsrer Kinder im Säuglingsalter anfängt und in dem Alter, wo
Alexander der Große schon die halbe Welt erobert hatte, noch nicht zu Ende
ist. Die verderblichen Wirkungen dieser Dressurseuche aufzuzeigen und sie,
soweit ihr nicht zu entkommen ist, möglichst unschädlich zu machen, ist hente
die praktische Hauptaufgabe der Pädagogik. Und es freut uus, zu sehe", wie
auch Preyers Beobachtungen diese Auffassung bestätigen. Mahnt er doch bei
mehreren Gelegenheiten, die Dressur möglichst zu meiden, und fand er doch,


Die Seele des Kindes

Erzieher und Lehrer wichtige Thatsache» es auch berührt, sondern physiologisch
und psychologisch." Es will uns scheinen, als ob sich der berühmte Physiologe
die Erziehungsfrage einerseits zu leicht und anderseits zu schwer machte. Zu
leicht, indem er glaubt, sie sei schon gelöst, sobald das Seelenleben des jungen
Menschen durchschaut und die Kunst, es zu beherrschen, gefunden ist. Nein,
dann fängt die Schwierigkeit erst an. Sie liegt in der Frage: Wozu soll der
junge Mensch erzogen werden? Das ist der Hauptstreitpunkt, gerade so wie
bei der Schulreform, wo die Streitenden weit mehr darin uneins siud, was,
als wie es gelehrt werden soll, vielleicht, weil sie aus Erfahrung schon wissen,
daß begabte Jungen das Latein auf jede, unbegabte auf keine Weise erlernen.
Zu schwer aber macht sich Preyer gleich andern Pädagogen die Sache, indem
er übersieht, daß es zu allen Zeiten nicht wenige Menschen gegeben hat, die
so vollkommen in ihrer Art waren, daß kein Verständiger sie sich besser und
anders wünschen möchte. Und wenn man im Lebenslauf solcher Menschen
nachforscht, so findet man gewöhnlich, daß sie entweder eine scheinbar sehr un¬
zweckmäßige Erziehung genossen haben, oder daß sie überhaupt wenig erzogen
worden und schon früh zu großer Selbständigkeit gelangt sind, oder daß ihre
Eltern schlichte Leute waren, die es zwar vou Herzen gut meinten und bei der
Erziehung treulich ihre Pflicht erfüllten, von wissenschaftlicher Pädagogik aber
keine Ahnung hatten. So wie die Menschen richtig essen, trinken, sehen und
laufen lernen, ehe sie eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser Verrichtungen und
der dazu nötigen Organe erlangen, so behandeln auch ungebildete Leute, wenn
sie mir gutartig und nicht gar zu dumm oder durch gar zu große Armut ge¬
bunden sind, ihre Kinder im allgemeinen richtig, und das richtige besteht u. a.
auch darin, daß den Kindern für den wichtigsten Teil der Erziehung, die
Selbsterziehung durch persönliche Erfahrung, die nötige Freiheit gelassen wird.
Nicht daß wir die wissenschaftliche Pädagogik geringschätzten. Aber ihr Wert
ist mehr theoretischer als praktischer Art, d. h. sie vermittelt hauptsächlich die
Einsicht in die Ursachen des Erfolges von Thätigkeiten, die auch ohne Kenntnis
des ursächlichen Zusammenhanges meistens richtig geübt werden. Praktisch
wertvoll wird die Pädagogik weit weniger durch das, was sie thun, als durch
das, was sie meiden lehrt. Das Übel unsrer Zeit liegt nämlich nicht, wie
manche glauben, darin, daß zu wenig, sondern darin, daß zu viel erzogen wird:
in dem Übermaße planmäßiger Einwirkungen, in der übertriebenen Dressur, die
bei manchen unsrer Kinder im Säuglingsalter anfängt und in dem Alter, wo
Alexander der Große schon die halbe Welt erobert hatte, noch nicht zu Ende
ist. Die verderblichen Wirkungen dieser Dressurseuche aufzuzeigen und sie,
soweit ihr nicht zu entkommen ist, möglichst unschädlich zu machen, ist hente
die praktische Hauptaufgabe der Pädagogik. Und es freut uus, zu sehe», wie
auch Preyers Beobachtungen diese Auffassung bestätigen. Mahnt er doch bei
mehreren Gelegenheiten, die Dressur möglichst zu meiden, und fand er doch,


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[0464] Die Seele des Kindes Erzieher und Lehrer wichtige Thatsache» es auch berührt, sondern physiologisch und psychologisch." Es will uns scheinen, als ob sich der berühmte Physiologe die Erziehungsfrage einerseits zu leicht und anderseits zu schwer machte. Zu leicht, indem er glaubt, sie sei schon gelöst, sobald das Seelenleben des jungen Menschen durchschaut und die Kunst, es zu beherrschen, gefunden ist. Nein, dann fängt die Schwierigkeit erst an. Sie liegt in der Frage: Wozu soll der junge Mensch erzogen werden? Das ist der Hauptstreitpunkt, gerade so wie bei der Schulreform, wo die Streitenden weit mehr darin uneins siud, was, als wie es gelehrt werden soll, vielleicht, weil sie aus Erfahrung schon wissen, daß begabte Jungen das Latein auf jede, unbegabte auf keine Weise erlernen. Zu schwer aber macht sich Preyer gleich andern Pädagogen die Sache, indem er übersieht, daß es zu allen Zeiten nicht wenige Menschen gegeben hat, die so vollkommen in ihrer Art waren, daß kein Verständiger sie sich besser und anders wünschen möchte. Und wenn man im Lebenslauf solcher Menschen nachforscht, so findet man gewöhnlich, daß sie entweder eine scheinbar sehr un¬ zweckmäßige Erziehung genossen haben, oder daß sie überhaupt wenig erzogen worden und schon früh zu großer Selbständigkeit gelangt sind, oder daß ihre Eltern schlichte Leute waren, die es zwar vou Herzen gut meinten und bei der Erziehung treulich ihre Pflicht erfüllten, von wissenschaftlicher Pädagogik aber keine Ahnung hatten. So wie die Menschen richtig essen, trinken, sehen und laufen lernen, ehe sie eine wissenschaftliche Erkenntnis dieser Verrichtungen und der dazu nötigen Organe erlangen, so behandeln auch ungebildete Leute, wenn sie mir gutartig und nicht gar zu dumm oder durch gar zu große Armut ge¬ bunden sind, ihre Kinder im allgemeinen richtig, und das richtige besteht u. a. auch darin, daß den Kindern für den wichtigsten Teil der Erziehung, die Selbsterziehung durch persönliche Erfahrung, die nötige Freiheit gelassen wird. Nicht daß wir die wissenschaftliche Pädagogik geringschätzten. Aber ihr Wert ist mehr theoretischer als praktischer Art, d. h. sie vermittelt hauptsächlich die Einsicht in die Ursachen des Erfolges von Thätigkeiten, die auch ohne Kenntnis des ursächlichen Zusammenhanges meistens richtig geübt werden. Praktisch wertvoll wird die Pädagogik weit weniger durch das, was sie thun, als durch das, was sie meiden lehrt. Das Übel unsrer Zeit liegt nämlich nicht, wie manche glauben, darin, daß zu wenig, sondern darin, daß zu viel erzogen wird: in dem Übermaße planmäßiger Einwirkungen, in der übertriebenen Dressur, die bei manchen unsrer Kinder im Säuglingsalter anfängt und in dem Alter, wo Alexander der Große schon die halbe Welt erobert hatte, noch nicht zu Ende ist. Die verderblichen Wirkungen dieser Dressurseuche aufzuzeigen und sie, soweit ihr nicht zu entkommen ist, möglichst unschädlich zu machen, ist hente die praktische Hauptaufgabe der Pädagogik. Und es freut uus, zu sehe», wie auch Preyers Beobachtungen diese Auffassung bestätigen. Mahnt er doch bei mehreren Gelegenheiten, die Dressur möglichst zu meiden, und fand er doch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/464>, abgerufen am 23.07.2024.