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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

drei Dinge ursprünglich Blätter ans einem und demselben Buche und, was
das seltsamste ist, unmittelbar aufeinanderfolgende Blätter sind. Muß man
nicht hinter diesem scheinbaren Zufallsspiel eine höhere Fügung ahnen?

Diese Blätter sind allem Anscheine nach eine Übersetzung aus einer uralte"
Sanskrithandschrift. Ich halte mich nicht bei Vermutungen über ihren Ursprung
auf, sondern bitte dich, sie durchzulesen. Sowie ich mich erholt habe, fahre ich
dann in meiner Geschichte fort.

Ich ergab mich darein und las:

Die Geschichte von der Erschaffung der Nymphe Urvasi, von den sechs¬
hundert weißen Pferden, jedes mit einem schwarzen Ohr, und dem Fluch
des weisen Chyavana.

Es begab sich, daß Arjuna und Krischna ans die Erde herabstiegen und
sich von Ahinsa, dem Weibe des heiligem Dherma abermals gebären ließen.
Und Dherma nannte Arjnna Narni, dem Krischna gab er den Namen Narayana.
Als sie erwachsen waren, führten die beiden ein so beschauliches Leben, daß
die Götter darob sich ängsteten. Da sandte Indra, der Gott des Himmels,
die schönsten Weiber seines Reiches, Kama (Liebe) und Vnsanta (Frühling),
mit den fünfunddreißig Millionen Asparasas oder Himmelsnymphen zu ihnen
herab, damit die Schönheit sie zur Liebe reize und sie ihrer Buße vergäßen.
Die Weisen saßen am Ufer des lotvsumnickten Ganges, als die himmlischen
Mädchen herabkamen, und schauten so ernst vor sich hin, daß diese nicht wagten,
sie anzureden. Da begannen die Mädchen, in der Hoffnung, dadurch die Auf¬
merksamkeit der Weisen auf sich zu ziehen, himmlische Tänze. Sie verschlangen
die Arme zu lieblichen Gruppen in einander, svdciß es schien, Himmel und
Erde seien durch unendliche Blumengewinde verbunden, indem die Körper
wie Rosen und Lilien crschimmerten und die grünen Schleier wie durch¬
sichtiges Laub sie umwehten; bald bildeten sie ein buntes bewegliches
Dach über den Weisen, bald schienen sie künstliche Schriftzüge mit Perlen
von Rosenfarbe, Purpur und Silber auf den Sammet des blauen Himmels
gestickt.

Aber Narayana erriet den Plan der Götter. Er nahm den Blick seiner
Augen von seinem Nabel hinweg und richtete sein Antlitz gegen die Mädchen
und hieß sie willkommen, und die Mädchen freuten sich seiner Freundlichkeit
und der Gewalt ihrer Reize. Da nahm Narayana einen Lotvsstengcl von der
Erde und setzte ihn vor sich auf seinen Schenkel. Und der Stengel dehnte
sich und wuchs und schwoll, bis er dem Bilde eines Weibes glich, schöner als
irgend ein Weib im Himmel und auf der Erde. Kama und Vasanta aber
weinten, und es weinten mit ihnen die Nymphen über ihre Schönheit, die nun
übertroffen war. Narayana richtete sein Auge auf das Bild, da sprang die
Rinde des Lotoszweiges und fiel auf beiden Seiten nieder. Und glänzender
als die Sonne stand die Schönheit des Weibes, das Narayana erschaffen hatte,


Die wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen

drei Dinge ursprünglich Blätter ans einem und demselben Buche und, was
das seltsamste ist, unmittelbar aufeinanderfolgende Blätter sind. Muß man
nicht hinter diesem scheinbaren Zufallsspiel eine höhere Fügung ahnen?

Diese Blätter sind allem Anscheine nach eine Übersetzung aus einer uralte»
Sanskrithandschrift. Ich halte mich nicht bei Vermutungen über ihren Ursprung
auf, sondern bitte dich, sie durchzulesen. Sowie ich mich erholt habe, fahre ich
dann in meiner Geschichte fort.

Ich ergab mich darein und las:

Die Geschichte von der Erschaffung der Nymphe Urvasi, von den sechs¬
hundert weißen Pferden, jedes mit einem schwarzen Ohr, und dem Fluch
des weisen Chyavana.

Es begab sich, daß Arjuna und Krischna ans die Erde herabstiegen und
sich von Ahinsa, dem Weibe des heiligem Dherma abermals gebären ließen.
Und Dherma nannte Arjnna Narni, dem Krischna gab er den Namen Narayana.
Als sie erwachsen waren, führten die beiden ein so beschauliches Leben, daß
die Götter darob sich ängsteten. Da sandte Indra, der Gott des Himmels,
die schönsten Weiber seines Reiches, Kama (Liebe) und Vnsanta (Frühling),
mit den fünfunddreißig Millionen Asparasas oder Himmelsnymphen zu ihnen
herab, damit die Schönheit sie zur Liebe reize und sie ihrer Buße vergäßen.
Die Weisen saßen am Ufer des lotvsumnickten Ganges, als die himmlischen
Mädchen herabkamen, und schauten so ernst vor sich hin, daß diese nicht wagten,
sie anzureden. Da begannen die Mädchen, in der Hoffnung, dadurch die Auf¬
merksamkeit der Weisen auf sich zu ziehen, himmlische Tänze. Sie verschlangen
die Arme zu lieblichen Gruppen in einander, svdciß es schien, Himmel und
Erde seien durch unendliche Blumengewinde verbunden, indem die Körper
wie Rosen und Lilien crschimmerten und die grünen Schleier wie durch¬
sichtiges Laub sie umwehten; bald bildeten sie ein buntes bewegliches
Dach über den Weisen, bald schienen sie künstliche Schriftzüge mit Perlen
von Rosenfarbe, Purpur und Silber auf den Sammet des blauen Himmels
gestickt.

Aber Narayana erriet den Plan der Götter. Er nahm den Blick seiner
Augen von seinem Nabel hinweg und richtete sein Antlitz gegen die Mädchen
und hieß sie willkommen, und die Mädchen freuten sich seiner Freundlichkeit
und der Gewalt ihrer Reize. Da nahm Narayana einen Lotvsstengcl von der
Erde und setzte ihn vor sich auf seinen Schenkel. Und der Stengel dehnte
sich und wuchs und schwoll, bis er dem Bilde eines Weibes glich, schöner als
irgend ein Weib im Himmel und auf der Erde. Kama und Vasanta aber
weinten, und es weinten mit ihnen die Nymphen über ihre Schönheit, die nun
übertroffen war. Narayana richtete sein Auge auf das Bild, da sprang die
Rinde des Lotoszweiges und fiel auf beiden Seiten nieder. Und glänzender
als die Sonne stand die Schönheit des Weibes, das Narayana erschaffen hatte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/390>, abgerufen am 28.09.2024.