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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

Die Politik. 1. Aufl. 1835). Trotzdem steckte in seinem Buche mehr Fleiß
und Weisheit, als in allen Aufsätzen jenes politischen Radikalismus zusammen¬
genommen. In den ^ 150 bis 162, die über die Bildung der zweiten
Kammer handeln, verwarf Dahlmann jede Vertretung nach Ständen; dagegen
befürwortete er den englischen Grundsatz, daß die Vertretung auf den Ge¬
meinden oder auf Gemeindeverbänden beruhe. Für das Recht, an den Wahlen
teilzunehmen, forderte er außer der Großjährigkeit ein "anstündiges, bürger¬
liches Einkommen." Ans Schritt und Tritt erkennt man die Ehrlichkeit des
Versuches, die überlieferten Rechte einer vergangenen und die Ideen einer
modernen Zeit mit den wahren Zwecken des Staates in Einklang zu bringen.
Man muß es beklagen, daß diese Mahnungen, so lange es Zeit war, nicht be¬
achtet wurden. Freilich, daß es an der Zeit war, hätten die Fürsten und
ihre Berater wissen können. Seit dem Tode des alten Herrschers mehrten
sich in Preußen von Jahr zu Jahr die Stimmen, die eine bessere, aus zeitge¬
mäßer Grundlage beruhende Vertretung des Volkes verlangten; immer lauter
wurde der Ruf, immer dringender das Verlangen, und die Haltung des Königs
war nicht geeignet, es zu beschwichtige".

Dn fügte es das Verhängnis, daß in diese Welt voll Spannung aus
Paris der Ruf nach einer Ausdehnung des Wahlrechtes herüberklang. Un¬
willkürlich wandte sich die Teilnahme des deutscheu Liberalismus uach Westen;
ängstlich, wie nur die eigne Sache besorgt, verfolgte man den dort sich er¬
hebenden Kampf. Ein kurzes Ringen auf Leben und Tod, und es ertönte
die Botschaft von dem Sturze des Königtums. Die dritte Revolution hatte
gesiegt, und mit ihr das allgemeine Wahlrecht.

Bei den ersten Nachrichten ans Paris stand Deutschland überrascht und
betäubt; unbestimmt, aber schwer empfand man die Sorge, daß die Ereignisse
einem Kriege mit der neuen Republik entgegentreiben könnten. Aber kaum be¬
gann sich diese Furcht zu zerstreuen, so traten allenthalben die eignen Wünsche
und Hoffnungen hervor. Dabei zeigte sich die merkwürdige Erscheinung, daß
im Süden alsbald eine starke Bewegung sür ein deutsches Parlament begann,
während diese Frage in dem kühleren Norden zunächst im Hintergrunde blieb.

An vielen Orten gab die Gemeindevertretung den Wünschen der Bevölkerung
eine Fassung, die der Regierung in Adressen, Petitionen oder Deputationen
überreicht wurde. Daß bei diesen Vorgängen die Städte der westlichen Provinzen
den übrigen vorauseilten, verstand sich fast von selbst. Am 3. März faßte der
Gemeinderat von Köln einige Beschlüsse, die in Berlin überreicht werden sollten.
Der erste verlangte: "schleunige Einberufung des Vereinigten Landtages und
Gewährung derjenigen Rechte, welche von den Vertretern des Volkes als zu
einer dauerhaften Begründung der Verfassung erforderlich in Anspruch ge¬
nommen werden, sowie Erweiterung des Wahlgesetzes auf einer möglichst um¬
fassenden Grundlage." Ähnliche Wünsche wurden in den ersten Tagen des


Das allgemeine Wahlrecht

Die Politik. 1. Aufl. 1835). Trotzdem steckte in seinem Buche mehr Fleiß
und Weisheit, als in allen Aufsätzen jenes politischen Radikalismus zusammen¬
genommen. In den ^ 150 bis 162, die über die Bildung der zweiten
Kammer handeln, verwarf Dahlmann jede Vertretung nach Ständen; dagegen
befürwortete er den englischen Grundsatz, daß die Vertretung auf den Ge¬
meinden oder auf Gemeindeverbänden beruhe. Für das Recht, an den Wahlen
teilzunehmen, forderte er außer der Großjährigkeit ein „anstündiges, bürger¬
liches Einkommen." Ans Schritt und Tritt erkennt man die Ehrlichkeit des
Versuches, die überlieferten Rechte einer vergangenen und die Ideen einer
modernen Zeit mit den wahren Zwecken des Staates in Einklang zu bringen.
Man muß es beklagen, daß diese Mahnungen, so lange es Zeit war, nicht be¬
achtet wurden. Freilich, daß es an der Zeit war, hätten die Fürsten und
ihre Berater wissen können. Seit dem Tode des alten Herrschers mehrten
sich in Preußen von Jahr zu Jahr die Stimmen, die eine bessere, aus zeitge¬
mäßer Grundlage beruhende Vertretung des Volkes verlangten; immer lauter
wurde der Ruf, immer dringender das Verlangen, und die Haltung des Königs
war nicht geeignet, es zu beschwichtige».

Dn fügte es das Verhängnis, daß in diese Welt voll Spannung aus
Paris der Ruf nach einer Ausdehnung des Wahlrechtes herüberklang. Un¬
willkürlich wandte sich die Teilnahme des deutscheu Liberalismus uach Westen;
ängstlich, wie nur die eigne Sache besorgt, verfolgte man den dort sich er¬
hebenden Kampf. Ein kurzes Ringen auf Leben und Tod, und es ertönte
die Botschaft von dem Sturze des Königtums. Die dritte Revolution hatte
gesiegt, und mit ihr das allgemeine Wahlrecht.

Bei den ersten Nachrichten ans Paris stand Deutschland überrascht und
betäubt; unbestimmt, aber schwer empfand man die Sorge, daß die Ereignisse
einem Kriege mit der neuen Republik entgegentreiben könnten. Aber kaum be¬
gann sich diese Furcht zu zerstreuen, so traten allenthalben die eignen Wünsche
und Hoffnungen hervor. Dabei zeigte sich die merkwürdige Erscheinung, daß
im Süden alsbald eine starke Bewegung sür ein deutsches Parlament begann,
während diese Frage in dem kühleren Norden zunächst im Hintergrunde blieb.

An vielen Orten gab die Gemeindevertretung den Wünschen der Bevölkerung
eine Fassung, die der Regierung in Adressen, Petitionen oder Deputationen
überreicht wurde. Daß bei diesen Vorgängen die Städte der westlichen Provinzen
den übrigen vorauseilten, verstand sich fast von selbst. Am 3. März faßte der
Gemeinderat von Köln einige Beschlüsse, die in Berlin überreicht werden sollten.
Der erste verlangte: „schleunige Einberufung des Vereinigten Landtages und
Gewährung derjenigen Rechte, welche von den Vertretern des Volkes als zu
einer dauerhaften Begründung der Verfassung erforderlich in Anspruch ge¬
nommen werden, sowie Erweiterung des Wahlgesetzes auf einer möglichst um¬
fassenden Grundlage." Ähnliche Wünsche wurden in den ersten Tagen des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/163>, abgerufen am 23.07.2024.