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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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pas^cillgemeine Ivcihlrecht

März an vielen Orten ausgesprochen. Aber schon meldeten sich die Kräfte,
die die Bewegung in schnelleren Fluß zu bringen suchten; von diesen sollten
die Stadträte von Köln, noch bevor sie die Sitzung am 3. März verließen,
eine wenig willkommene Probe erhalten: bald nach sieben Uhr drangen einige
hundert Personen in das Rathaus und suchten dem Gemeinderat unter drohendem
Geschrei gewisse "Forderungen des Volkes" aufzuzwingen. Die erste dieser
Forderungen aber lautete: "Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk;
allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wählbarkeit in Gemeinde und Staat.

Wie bei jeder Volksbewegung die Extremen am ehesten die großen Massen
für sich gewinnen, so geschah es auch hier: die gemäßigten Forderungen,
die anfangs von der besonnenen Presse und von manchen Körperschaften er¬
hoben wurden, verstummten allmählich, und das "allgemeine Wahlrecht" wurde
das zugkräftigste Schlagwort eiuer Bewegung, die ihre Wellen bald bis in die
entlegensten Dörfer trug. Aber für den Leser bedarf es kaum noch der Er¬
innerung, daß jenes Schlagwort in unsrer staatliche" Entwicklung ein fremdes
Gewächs bedeutet, dessen Keime in dein Augenblick einer gewaltigen Gährung in
den widerstandslosen Staatskörper gelangten, um sich hier mich der Art solcher
Eindringlinge einzunisten und auszubreiten.

Die preußische Monarchie bot in jenen Tagen ein hoffnungsloses Bild;
auf schwankendem Grunde ein haltloser, in allen Fugen gelockerter Bau. Das
Schlimmste, was einen Staat bedrohen kann, war ihr widerfahren: gegenüber
einem entfesselten, seiner Wünsche sich nicht klar bewußten Volke eine unent¬
schlossene, hente hemmende und morgen nachgebende Regierung. Zum Glück
war dieses Staatsgebäude seit Jahrhunderten durch die Arbeit einsichtiger
Meister und wackerer Werkleute so gezimmert worden, daß es zuletzt auch diese
Gefahr überstanden hat.

Dem Verlauf jener Krisis zu folgen, liegt jenseits der uns hier gesteckten
Grenze. Und doch giebt es kaum ein besseres Mittel, das Anschwellen, den
Höhepunkt und das Zurückweichen jener Sturmflut kennen zu lernen, als wenn
wir, unserm Vorsätze getreu, beobachten, in welcher Weise sich die preußische
Wahlgesetzgebung damals entwickelt hat.

(Schluß fol.,t)




pas^cillgemeine Ivcihlrecht

März an vielen Orten ausgesprochen. Aber schon meldeten sich die Kräfte,
die die Bewegung in schnelleren Fluß zu bringen suchten; von diesen sollten
die Stadträte von Köln, noch bevor sie die Sitzung am 3. März verließen,
eine wenig willkommene Probe erhalten: bald nach sieben Uhr drangen einige
hundert Personen in das Rathaus und suchten dem Gemeinderat unter drohendem
Geschrei gewisse „Forderungen des Volkes" aufzuzwingen. Die erste dieser
Forderungen aber lautete: „Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk;
allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wählbarkeit in Gemeinde und Staat.

Wie bei jeder Volksbewegung die Extremen am ehesten die großen Massen
für sich gewinnen, so geschah es auch hier: die gemäßigten Forderungen,
die anfangs von der besonnenen Presse und von manchen Körperschaften er¬
hoben wurden, verstummten allmählich, und das „allgemeine Wahlrecht" wurde
das zugkräftigste Schlagwort eiuer Bewegung, die ihre Wellen bald bis in die
entlegensten Dörfer trug. Aber für den Leser bedarf es kaum noch der Er¬
innerung, daß jenes Schlagwort in unsrer staatliche» Entwicklung ein fremdes
Gewächs bedeutet, dessen Keime in dein Augenblick einer gewaltigen Gährung in
den widerstandslosen Staatskörper gelangten, um sich hier mich der Art solcher
Eindringlinge einzunisten und auszubreiten.

Die preußische Monarchie bot in jenen Tagen ein hoffnungsloses Bild;
auf schwankendem Grunde ein haltloser, in allen Fugen gelockerter Bau. Das
Schlimmste, was einen Staat bedrohen kann, war ihr widerfahren: gegenüber
einem entfesselten, seiner Wünsche sich nicht klar bewußten Volke eine unent¬
schlossene, hente hemmende und morgen nachgebende Regierung. Zum Glück
war dieses Staatsgebäude seit Jahrhunderten durch die Arbeit einsichtiger
Meister und wackerer Werkleute so gezimmert worden, daß es zuletzt auch diese
Gefahr überstanden hat.

Dem Verlauf jener Krisis zu folgen, liegt jenseits der uns hier gesteckten
Grenze. Und doch giebt es kaum ein besseres Mittel, das Anschwellen, den
Höhepunkt und das Zurückweichen jener Sturmflut kennen zu lernen, als wenn
wir, unserm Vorsätze getreu, beobachten, in welcher Weise sich die preußische
Wahlgesetzgebung damals entwickelt hat.

(Schluß fol.,t)




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[0164] pas^cillgemeine Ivcihlrecht März an vielen Orten ausgesprochen. Aber schon meldeten sich die Kräfte, die die Bewegung in schnelleren Fluß zu bringen suchten; von diesen sollten die Stadträte von Köln, noch bevor sie die Sitzung am 3. März verließen, eine wenig willkommene Probe erhalten: bald nach sieben Uhr drangen einige hundert Personen in das Rathaus und suchten dem Gemeinderat unter drohendem Geschrei gewisse „Forderungen des Volkes" aufzuzwingen. Die erste dieser Forderungen aber lautete: „Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk; allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wählbarkeit in Gemeinde und Staat. Wie bei jeder Volksbewegung die Extremen am ehesten die großen Massen für sich gewinnen, so geschah es auch hier: die gemäßigten Forderungen, die anfangs von der besonnenen Presse und von manchen Körperschaften er¬ hoben wurden, verstummten allmählich, und das „allgemeine Wahlrecht" wurde das zugkräftigste Schlagwort eiuer Bewegung, die ihre Wellen bald bis in die entlegensten Dörfer trug. Aber für den Leser bedarf es kaum noch der Er¬ innerung, daß jenes Schlagwort in unsrer staatliche» Entwicklung ein fremdes Gewächs bedeutet, dessen Keime in dein Augenblick einer gewaltigen Gährung in den widerstandslosen Staatskörper gelangten, um sich hier mich der Art solcher Eindringlinge einzunisten und auszubreiten. Die preußische Monarchie bot in jenen Tagen ein hoffnungsloses Bild; auf schwankendem Grunde ein haltloser, in allen Fugen gelockerter Bau. Das Schlimmste, was einen Staat bedrohen kann, war ihr widerfahren: gegenüber einem entfesselten, seiner Wünsche sich nicht klar bewußten Volke eine unent¬ schlossene, hente hemmende und morgen nachgebende Regierung. Zum Glück war dieses Staatsgebäude seit Jahrhunderten durch die Arbeit einsichtiger Meister und wackerer Werkleute so gezimmert worden, daß es zuletzt auch diese Gefahr überstanden hat. Dem Verlauf jener Krisis zu folgen, liegt jenseits der uns hier gesteckten Grenze. Und doch giebt es kaum ein besseres Mittel, das Anschwellen, den Höhepunkt und das Zurückweichen jener Sturmflut kennen zu lernen, als wenn wir, unserm Vorsätze getreu, beobachten, in welcher Weise sich die preußische Wahlgesetzgebung damals entwickelt hat. (Schluß fol.,t)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/164>, abgerufen am 23.07.2024.