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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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unterworfen, da er hierfür außer der Vollendung des dreißigsten Lebensjahres
den Ausschluß der Hagestolzen und der kinderlosen Witwer, der Juden und
der Stnatsdiener verlangte. Der große Fortschritt, den die Vorschläge Kvppes
im Vergleich mit den bisher erwähnten Ansichten bedeuten, besteht darin, daß
er die Vertretung nach Ständen endgiltig beseitigen wollte.

Der zweifelhafte Ruhm, als einer der ersten in Deutschland das allge¬
meine Wahlrecht verlangt zu haben, gebührt Wohl dem Badener C. v. Rotteck.
Indem dieser den oben erwähnten Grundirrtum Rousseaus zum Ausgangs¬
punkte seiner Untersuchungen nahm, wurde er mit Notwendigkeit zu dem Satze
geführt, daß allen Bürgern ohne Unterschied das gleiche Stimm- und Wahl¬
recht zustehe (Lehrbuch des Vernunftrechts II, 8 91 f.). Derartige Anschau¬
ungen waren aber nur vereinzelt und fanden im Volke noch keine Beachtung.
So blieb es bis zu dem Jahre 1830, das infolge der Katastrophe in Frank¬
reich auch das liberale Bürgertum Deutschlands mit neuen Hoffnungen erfüllte.
In demselben Jahre überreichte Hansemann, ein angesehener Bürger von Aachen,
dem König eine Denkschrift, worin er den Gedanken ausführte, daß das Staats¬
interesse eine von den Höchftbcsteuerten gewühlte Kammer erfordere. Hier
verrät sich schon deutlich französischer Einfluß, den" diese Forderung entspricht
durchaus dem damals in Frankreich geltenden Wahlgesetz, an dessen Grund¬
zügen ja auch die Julirevolution nichts Wesentliches geändert hatte.

Bald aber ließen sich von dorther Einwirkungen verspüren, die ein be¬
denkliches Gepräge trugen: das Virtuosentum einer radikalen, jede Ordnung
versöhnenden Schriftstellerei. Börne und Heine wurde" die Begründer eines
Journalismus, der das geistige Leben der Nation in unberechenbarer Weise
geschädigt hat. Namentlich im Westen gewöhnte sich der "Bourgeois" alles,
was von Paris kam, unbesehen als "human" und "liberal" zu preisen, während
er mit Absicht oder aus Unverstand die Augen schloß, um die handgreiflichen
Vorteile der preußischen Staatsverwaltung nicht zu bemerken. Wenn man sieht,
was sich das deutsche Publikum damals vou den erwähnten Schriftstellern
bieten ließ, mit welchem Heißhunger es ihre unreifen, dnrch Zoten und Frech¬
heiten aller Art gewürzten Feuilletons verschlang, mit welchem Wohlbehagen es
jede der eigenen Ratio" zugefügte Schmach, jeden dem Pariser Pöbel und
Pariser Dirnen dargebrachten Hymnus aufnahm, dann begreift man die kläg¬
liche Posse, die dieses Bürgertum spielte, als die in Frankreich leichtfertig
heraufbeschworene Revolution nach Deutschland herüberflutete, um auch hier das
Volk in wildem Strudel bis an den Rand eines unabsehbaren Verderbens zu
reißen.

Für die Mehrheit jeues Bügertums waren die auf gewissenhafter Arbeit
beruhenden Gedanken eines Forschers, dessen Liberalismus über jeden Zweifel
erhaben war, und der bald nachher für seine politische Überzeugung Stellung
und Heimat zum Opfer brachte, eine unverdauliche Kost geworden (Dahlmann,


unterworfen, da er hierfür außer der Vollendung des dreißigsten Lebensjahres
den Ausschluß der Hagestolzen und der kinderlosen Witwer, der Juden und
der Stnatsdiener verlangte. Der große Fortschritt, den die Vorschläge Kvppes
im Vergleich mit den bisher erwähnten Ansichten bedeuten, besteht darin, daß
er die Vertretung nach Ständen endgiltig beseitigen wollte.

Der zweifelhafte Ruhm, als einer der ersten in Deutschland das allge¬
meine Wahlrecht verlangt zu haben, gebührt Wohl dem Badener C. v. Rotteck.
Indem dieser den oben erwähnten Grundirrtum Rousseaus zum Ausgangs¬
punkte seiner Untersuchungen nahm, wurde er mit Notwendigkeit zu dem Satze
geführt, daß allen Bürgern ohne Unterschied das gleiche Stimm- und Wahl¬
recht zustehe (Lehrbuch des Vernunftrechts II, 8 91 f.). Derartige Anschau¬
ungen waren aber nur vereinzelt und fanden im Volke noch keine Beachtung.
So blieb es bis zu dem Jahre 1830, das infolge der Katastrophe in Frank¬
reich auch das liberale Bürgertum Deutschlands mit neuen Hoffnungen erfüllte.
In demselben Jahre überreichte Hansemann, ein angesehener Bürger von Aachen,
dem König eine Denkschrift, worin er den Gedanken ausführte, daß das Staats¬
interesse eine von den Höchftbcsteuerten gewühlte Kammer erfordere. Hier
verrät sich schon deutlich französischer Einfluß, den» diese Forderung entspricht
durchaus dem damals in Frankreich geltenden Wahlgesetz, an dessen Grund¬
zügen ja auch die Julirevolution nichts Wesentliches geändert hatte.

Bald aber ließen sich von dorther Einwirkungen verspüren, die ein be¬
denkliches Gepräge trugen: das Virtuosentum einer radikalen, jede Ordnung
versöhnenden Schriftstellerei. Börne und Heine wurde» die Begründer eines
Journalismus, der das geistige Leben der Nation in unberechenbarer Weise
geschädigt hat. Namentlich im Westen gewöhnte sich der „Bourgeois" alles,
was von Paris kam, unbesehen als „human" und „liberal" zu preisen, während
er mit Absicht oder aus Unverstand die Augen schloß, um die handgreiflichen
Vorteile der preußischen Staatsverwaltung nicht zu bemerken. Wenn man sieht,
was sich das deutsche Publikum damals vou den erwähnten Schriftstellern
bieten ließ, mit welchem Heißhunger es ihre unreifen, dnrch Zoten und Frech¬
heiten aller Art gewürzten Feuilletons verschlang, mit welchem Wohlbehagen es
jede der eigenen Ratio» zugefügte Schmach, jeden dem Pariser Pöbel und
Pariser Dirnen dargebrachten Hymnus aufnahm, dann begreift man die kläg¬
liche Posse, die dieses Bürgertum spielte, als die in Frankreich leichtfertig
heraufbeschworene Revolution nach Deutschland herüberflutete, um auch hier das
Volk in wildem Strudel bis an den Rand eines unabsehbaren Verderbens zu
reißen.

Für die Mehrheit jeues Bügertums waren die auf gewissenhafter Arbeit
beruhenden Gedanken eines Forschers, dessen Liberalismus über jeden Zweifel
erhaben war, und der bald nachher für seine politische Überzeugung Stellung
und Heimat zum Opfer brachte, eine unverdauliche Kost geworden (Dahlmann,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/162>, abgerufen am 23.07.2024.