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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

die Ansichten Steins "über zukünftige allgemeine Stände der preußischen Mon¬
archie" zu erfahren wünschte, verwarf dieser ausdrücklich die in dem Kom-
missiouseutwurfe gemachte Einschränkung, "daß die Vertreter des Gewerbes
Grundeigentümer sein müßten."

Dieser freiere Standpunkt unterschied Stein von Hardenberg, der überdies
das mittelbare Verfahren in eiuer an Siehös erinnernden Ausdehnung befürwortete.
Die Ansichten, die sich der langjährige Staatskanzler Friedrich Wilhelms III.
über den Gegenstand gebildet hatte, gewannen nach vielen Schwankungen
eine greifbare Form in dem Verfasfungsplau, den er am 12. Oktober 181!"
dem König einreichte. Nach diesem Plane sollte das Wahlrecht zwei großen
Klassen, den Nichtgrundbesitzeru und den Nichtchristen, versagt werden.
Im übrigen scheint es uns heute fast unbegreiflich, daß Hardenberg sich durch
seine Entwürfe dem Verdacht einer allzu großen Freisinnigkeit aussetzte; aber
es gab in der That eine einflußreiche Partei, die nicht ruhte, bis sie seine
reichsständischen Gedanken zu Falle gebracht hatte.

Auch W. v. Humboldt war, freilich aus andern Gründen, ein entschiedener
Feind der Hardenbergschen Pläne. Seine Gegnerschaft entsprang namentlich
daher, daß er, ähnlich wie Stein, unmittelbare Wahlen verlangte; er hat seine
Ansichten in einer Denkschrift über Preußens ständische Verfassung niederge¬
legt, worin'sich folgende Sätze finden: "t? 45. Die Wahl der Mitglieder dieser
dreifachen Behörde (der Kreis-, Provinzial- und Landesvertretung) muß vom
Volke, nicht die der einen von der andern ausgehen. 8 Die Gründung volks¬
vertretender Versammlungen nach bloß numerischen Verhältnissen setzt offenbar
eine völlige Vernichtung jedes Unterschiedes der einzelnen Genossenschaften
voraus."

Es ergiebt sich also die bedeutungsvolle Thatsache, daß die drei
großen liberalen Staatsmänner, die Preußen zur Zeit seiner Wiedergeburt
gehabt hat, über die Forderung einer ständischen Vertretung nicht hinausge¬
gangen sind. Auch was Ancillon, Arndt, Görres und andre über die Frage
geschrieben haben, bietet keine neuen Gesichtspunkte. Dagegen erscheint es aus
mehr als einem Grunde erklärlich, daß freiere Ansichten sich znerst im west¬
lichen Deutschland hervorwagten. Unter den Äußerungen, die wir hier ver¬
nehmen, zeichnet sich eine Schrift des Gouvernementsrats Koppe in Aachen
ans, dessen Freisinn dem damaligen Oberprüsidenten Sack von gewisser Seite
übel vermerkt wurde. In der Broschüre "Die Stimme eines preußischen Staats¬
bürgers in den wichtigsten Angelegenheiten dieser Zeit" forderte er eine aus
den Landständen der Provinzen gebildete, "in einem Piero operirende Ver¬
sammlung der Volksvertreter." Das Wahlrecht sollte jeder Bürger besitzen, den
"ein gewisses, durch die Summe seiner Steuerzahlung beurknndetes Einkommen
über den Verdacht erhebt, von Profession oder aus Not ein novMmr rsrum
(mxickus zu sein." Dagegen wünschte er die Wählbarkeit wesentlichen Schranken


Grenzboten IV 1890 M
Das allgemeine Wahlrecht

die Ansichten Steins „über zukünftige allgemeine Stände der preußischen Mon¬
archie" zu erfahren wünschte, verwarf dieser ausdrücklich die in dem Kom-
missiouseutwurfe gemachte Einschränkung, „daß die Vertreter des Gewerbes
Grundeigentümer sein müßten."

Dieser freiere Standpunkt unterschied Stein von Hardenberg, der überdies
das mittelbare Verfahren in eiuer an Siehös erinnernden Ausdehnung befürwortete.
Die Ansichten, die sich der langjährige Staatskanzler Friedrich Wilhelms III.
über den Gegenstand gebildet hatte, gewannen nach vielen Schwankungen
eine greifbare Form in dem Verfasfungsplau, den er am 12. Oktober 181!»
dem König einreichte. Nach diesem Plane sollte das Wahlrecht zwei großen
Klassen, den Nichtgrundbesitzeru und den Nichtchristen, versagt werden.
Im übrigen scheint es uns heute fast unbegreiflich, daß Hardenberg sich durch
seine Entwürfe dem Verdacht einer allzu großen Freisinnigkeit aussetzte; aber
es gab in der That eine einflußreiche Partei, die nicht ruhte, bis sie seine
reichsständischen Gedanken zu Falle gebracht hatte.

Auch W. v. Humboldt war, freilich aus andern Gründen, ein entschiedener
Feind der Hardenbergschen Pläne. Seine Gegnerschaft entsprang namentlich
daher, daß er, ähnlich wie Stein, unmittelbare Wahlen verlangte; er hat seine
Ansichten in einer Denkschrift über Preußens ständische Verfassung niederge¬
legt, worin'sich folgende Sätze finden: „t? 45. Die Wahl der Mitglieder dieser
dreifachen Behörde (der Kreis-, Provinzial- und Landesvertretung) muß vom
Volke, nicht die der einen von der andern ausgehen. 8 Die Gründung volks¬
vertretender Versammlungen nach bloß numerischen Verhältnissen setzt offenbar
eine völlige Vernichtung jedes Unterschiedes der einzelnen Genossenschaften
voraus."

Es ergiebt sich also die bedeutungsvolle Thatsache, daß die drei
großen liberalen Staatsmänner, die Preußen zur Zeit seiner Wiedergeburt
gehabt hat, über die Forderung einer ständischen Vertretung nicht hinausge¬
gangen sind. Auch was Ancillon, Arndt, Görres und andre über die Frage
geschrieben haben, bietet keine neuen Gesichtspunkte. Dagegen erscheint es aus
mehr als einem Grunde erklärlich, daß freiere Ansichten sich znerst im west¬
lichen Deutschland hervorwagten. Unter den Äußerungen, die wir hier ver¬
nehmen, zeichnet sich eine Schrift des Gouvernementsrats Koppe in Aachen
ans, dessen Freisinn dem damaligen Oberprüsidenten Sack von gewisser Seite
übel vermerkt wurde. In der Broschüre „Die Stimme eines preußischen Staats¬
bürgers in den wichtigsten Angelegenheiten dieser Zeit" forderte er eine aus
den Landständen der Provinzen gebildete, „in einem Piero operirende Ver¬
sammlung der Volksvertreter." Das Wahlrecht sollte jeder Bürger besitzen, den
„ein gewisses, durch die Summe seiner Steuerzahlung beurknndetes Einkommen
über den Verdacht erhebt, von Profession oder aus Not ein novMmr rsrum
(mxickus zu sein." Dagegen wünschte er die Wählbarkeit wesentlichen Schranken


Grenzboten IV 1890 M
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[0161] Das allgemeine Wahlrecht die Ansichten Steins „über zukünftige allgemeine Stände der preußischen Mon¬ archie" zu erfahren wünschte, verwarf dieser ausdrücklich die in dem Kom- missiouseutwurfe gemachte Einschränkung, „daß die Vertreter des Gewerbes Grundeigentümer sein müßten." Dieser freiere Standpunkt unterschied Stein von Hardenberg, der überdies das mittelbare Verfahren in eiuer an Siehös erinnernden Ausdehnung befürwortete. Die Ansichten, die sich der langjährige Staatskanzler Friedrich Wilhelms III. über den Gegenstand gebildet hatte, gewannen nach vielen Schwankungen eine greifbare Form in dem Verfasfungsplau, den er am 12. Oktober 181!» dem König einreichte. Nach diesem Plane sollte das Wahlrecht zwei großen Klassen, den Nichtgrundbesitzeru und den Nichtchristen, versagt werden. Im übrigen scheint es uns heute fast unbegreiflich, daß Hardenberg sich durch seine Entwürfe dem Verdacht einer allzu großen Freisinnigkeit aussetzte; aber es gab in der That eine einflußreiche Partei, die nicht ruhte, bis sie seine reichsständischen Gedanken zu Falle gebracht hatte. Auch W. v. Humboldt war, freilich aus andern Gründen, ein entschiedener Feind der Hardenbergschen Pläne. Seine Gegnerschaft entsprang namentlich daher, daß er, ähnlich wie Stein, unmittelbare Wahlen verlangte; er hat seine Ansichten in einer Denkschrift über Preußens ständische Verfassung niederge¬ legt, worin'sich folgende Sätze finden: „t? 45. Die Wahl der Mitglieder dieser dreifachen Behörde (der Kreis-, Provinzial- und Landesvertretung) muß vom Volke, nicht die der einen von der andern ausgehen. 8 Die Gründung volks¬ vertretender Versammlungen nach bloß numerischen Verhältnissen setzt offenbar eine völlige Vernichtung jedes Unterschiedes der einzelnen Genossenschaften voraus." Es ergiebt sich also die bedeutungsvolle Thatsache, daß die drei großen liberalen Staatsmänner, die Preußen zur Zeit seiner Wiedergeburt gehabt hat, über die Forderung einer ständischen Vertretung nicht hinausge¬ gangen sind. Auch was Ancillon, Arndt, Görres und andre über die Frage geschrieben haben, bietet keine neuen Gesichtspunkte. Dagegen erscheint es aus mehr als einem Grunde erklärlich, daß freiere Ansichten sich znerst im west¬ lichen Deutschland hervorwagten. Unter den Äußerungen, die wir hier ver¬ nehmen, zeichnet sich eine Schrift des Gouvernementsrats Koppe in Aachen ans, dessen Freisinn dem damaligen Oberprüsidenten Sack von gewisser Seite übel vermerkt wurde. In der Broschüre „Die Stimme eines preußischen Staats¬ bürgers in den wichtigsten Angelegenheiten dieser Zeit" forderte er eine aus den Landständen der Provinzen gebildete, „in einem Piero operirende Ver¬ sammlung der Volksvertreter." Das Wahlrecht sollte jeder Bürger besitzen, den „ein gewisses, durch die Summe seiner Steuerzahlung beurknndetes Einkommen über den Verdacht erhebt, von Profession oder aus Not ein novMmr rsrum (mxickus zu sein." Dagegen wünschte er die Wählbarkeit wesentlichen Schranken Grenzboten IV 1890 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/161>, abgerufen am 23.07.2024.