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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

1848 auf den 27. April und wenige Tage später auf den 2. April ein¬
berufen worden war, wurde schon nach acht Tagen geschlossen, und an seine
Stelle trat die auf Grund eines neuen Wahlgesetzes gebildete Nationalver¬
sammlung.

Die süddeutschen und einzelne norddeutsche Staaten hatten bald nach den
Freiheitskriegen den Artikel 13 der Bundesakte: "In allen Vnndessiaaten wird
eine landständische Verfassung stattfinden" zur Ausführung gebracht. Aber
die Betrachtung der dabei angewandten Grundsätze gehört uicht hierher, weil
jene Vertretungen entweder ständisch waren oder aus einer Verbindung von
ständischen und repräsentativen Bestandteilen hervorgingen. Von größerm In¬
teresse dürfte es sein, zu erfahren, wie sich die hervorragenden Staatsmänner
und Schriftsteller jener Zeit über die Wahl und Zusammensetzung der Volks¬
vertretung geäußert haben.

Stein, mit dein diese Übersicht füglich beginnt, schrieb am 24. November
1808, daß "jeder aktive Staatsbürger, er besitze hundert Hufen oder eine, er
treibe Landwirtschaft oder Fabrik oder Handel, er habe ein bürgerliches Ge¬
werbe oder sei dnrch geistige Bande an den Staat geknüpft, ein Recht zur
Repräsentation" habe. Denselben Gedanken wiederholte er in einer Denkschrift
an Hardenberg am 10. März 1814. Dein größten Staatsmanne, den Preußen
und Deutschland in der ersten Hälste des Jahrhunderts hatten, stand also der
Grundsatz fest, daß die Gesamtheit der Bürger einer Vertretung bedürfe. Über
die Art, wie diese zu bilden sei, schrieb er im Jahre 1818 dem Grafen Spiegel,
dem spätern Erzbischof von Köln, "daß eine Repräsentation nach Ständen,
nicht nach arithmetischer Zerstückelung einer in einen großen Teig aufgelösten
Nation statthaben müsse." Die Forderung einer ständischen Volksvertretung
hat Stein sein Leben hindurch festgehalten, dagegen hat er bezüglich des Wahi-
verfahreus seine Auffassung mit den Jahren geändert. Während er noch um
21. Juni 1816 an Capodistria schrieb, daß "man die Abgeordneten durch die
Municipalitäten der Städte und Landgemeinden wählen lassen" solle, tritt uns
die entgegengesetzte Ansicht schon im Juli 1818 aus einem Briefe nu den
Oberpräsidenten vou Vincke entgegen, und ähnlich, aber in schärferer Fassung,
aus einen: Briefe an Niebuhr im Jahre 1822: "Die Provinzialstände können
die Reichsstände nicht wählen, denn es wäre alsdann das Wahlrecht nur
dreihundert bis vierhundert Menschen anvertraut; es wäre wegen ihrer ge¬
ringen Zahl ohne alles Vertrauen Vonseiten der ausgeschlossenen Masse der
NichtWähler und unreinen Einwirkungen ausgesetzt. Die Wahlen durch Wahl¬
körper sind überhaupt verwerflich, weil unmittelbare Wahlen selbständiger,
eigentnmbesitzender, zahlreicher Wühler unparteiischer, einflußreicher und ver-
traueneinflößender sind." Aus den letzten Worten darf man übrigens nicht
etwa die Forderung herauslesen, daß das Wahlrecht lind die Wählbarkeit an
den Grundbesitz zu binden seien. Denn als im Oktober 1822 der Kronprinz


Das allgemeine Wahlrecht

1848 auf den 27. April und wenige Tage später auf den 2. April ein¬
berufen worden war, wurde schon nach acht Tagen geschlossen, und an seine
Stelle trat die auf Grund eines neuen Wahlgesetzes gebildete Nationalver¬
sammlung.

Die süddeutschen und einzelne norddeutsche Staaten hatten bald nach den
Freiheitskriegen den Artikel 13 der Bundesakte: „In allen Vnndessiaaten wird
eine landständische Verfassung stattfinden" zur Ausführung gebracht. Aber
die Betrachtung der dabei angewandten Grundsätze gehört uicht hierher, weil
jene Vertretungen entweder ständisch waren oder aus einer Verbindung von
ständischen und repräsentativen Bestandteilen hervorgingen. Von größerm In¬
teresse dürfte es sein, zu erfahren, wie sich die hervorragenden Staatsmänner
und Schriftsteller jener Zeit über die Wahl und Zusammensetzung der Volks¬
vertretung geäußert haben.

Stein, mit dein diese Übersicht füglich beginnt, schrieb am 24. November
1808, daß „jeder aktive Staatsbürger, er besitze hundert Hufen oder eine, er
treibe Landwirtschaft oder Fabrik oder Handel, er habe ein bürgerliches Ge¬
werbe oder sei dnrch geistige Bande an den Staat geknüpft, ein Recht zur
Repräsentation" habe. Denselben Gedanken wiederholte er in einer Denkschrift
an Hardenberg am 10. März 1814. Dein größten Staatsmanne, den Preußen
und Deutschland in der ersten Hälste des Jahrhunderts hatten, stand also der
Grundsatz fest, daß die Gesamtheit der Bürger einer Vertretung bedürfe. Über
die Art, wie diese zu bilden sei, schrieb er im Jahre 1818 dem Grafen Spiegel,
dem spätern Erzbischof von Köln, „daß eine Repräsentation nach Ständen,
nicht nach arithmetischer Zerstückelung einer in einen großen Teig aufgelösten
Nation statthaben müsse." Die Forderung einer ständischen Volksvertretung
hat Stein sein Leben hindurch festgehalten, dagegen hat er bezüglich des Wahi-
verfahreus seine Auffassung mit den Jahren geändert. Während er noch um
21. Juni 1816 an Capodistria schrieb, daß „man die Abgeordneten durch die
Municipalitäten der Städte und Landgemeinden wählen lassen" solle, tritt uns
die entgegengesetzte Ansicht schon im Juli 1818 aus einem Briefe nu den
Oberpräsidenten vou Vincke entgegen, und ähnlich, aber in schärferer Fassung,
aus einen: Briefe an Niebuhr im Jahre 1822: „Die Provinzialstände können
die Reichsstände nicht wählen, denn es wäre alsdann das Wahlrecht nur
dreihundert bis vierhundert Menschen anvertraut; es wäre wegen ihrer ge¬
ringen Zahl ohne alles Vertrauen Vonseiten der ausgeschlossenen Masse der
NichtWähler und unreinen Einwirkungen ausgesetzt. Die Wahlen durch Wahl¬
körper sind überhaupt verwerflich, weil unmittelbare Wahlen selbständiger,
eigentnmbesitzender, zahlreicher Wühler unparteiischer, einflußreicher und ver-
traueneinflößender sind." Aus den letzten Worten darf man übrigens nicht
etwa die Forderung herauslesen, daß das Wahlrecht lind die Wählbarkeit an
den Grundbesitz zu binden seien. Denn als im Oktober 1822 der Kronprinz


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[0160] Das allgemeine Wahlrecht 1848 auf den 27. April und wenige Tage später auf den 2. April ein¬ berufen worden war, wurde schon nach acht Tagen geschlossen, und an seine Stelle trat die auf Grund eines neuen Wahlgesetzes gebildete Nationalver¬ sammlung. Die süddeutschen und einzelne norddeutsche Staaten hatten bald nach den Freiheitskriegen den Artikel 13 der Bundesakte: „In allen Vnndessiaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden" zur Ausführung gebracht. Aber die Betrachtung der dabei angewandten Grundsätze gehört uicht hierher, weil jene Vertretungen entweder ständisch waren oder aus einer Verbindung von ständischen und repräsentativen Bestandteilen hervorgingen. Von größerm In¬ teresse dürfte es sein, zu erfahren, wie sich die hervorragenden Staatsmänner und Schriftsteller jener Zeit über die Wahl und Zusammensetzung der Volks¬ vertretung geäußert haben. Stein, mit dein diese Übersicht füglich beginnt, schrieb am 24. November 1808, daß „jeder aktive Staatsbürger, er besitze hundert Hufen oder eine, er treibe Landwirtschaft oder Fabrik oder Handel, er habe ein bürgerliches Ge¬ werbe oder sei dnrch geistige Bande an den Staat geknüpft, ein Recht zur Repräsentation" habe. Denselben Gedanken wiederholte er in einer Denkschrift an Hardenberg am 10. März 1814. Dein größten Staatsmanne, den Preußen und Deutschland in der ersten Hälste des Jahrhunderts hatten, stand also der Grundsatz fest, daß die Gesamtheit der Bürger einer Vertretung bedürfe. Über die Art, wie diese zu bilden sei, schrieb er im Jahre 1818 dem Grafen Spiegel, dem spätern Erzbischof von Köln, „daß eine Repräsentation nach Ständen, nicht nach arithmetischer Zerstückelung einer in einen großen Teig aufgelösten Nation statthaben müsse." Die Forderung einer ständischen Volksvertretung hat Stein sein Leben hindurch festgehalten, dagegen hat er bezüglich des Wahi- verfahreus seine Auffassung mit den Jahren geändert. Während er noch um 21. Juni 1816 an Capodistria schrieb, daß „man die Abgeordneten durch die Municipalitäten der Städte und Landgemeinden wählen lassen" solle, tritt uns die entgegengesetzte Ansicht schon im Juli 1818 aus einem Briefe nu den Oberpräsidenten vou Vincke entgegen, und ähnlich, aber in schärferer Fassung, aus einen: Briefe an Niebuhr im Jahre 1822: „Die Provinzialstände können die Reichsstände nicht wählen, denn es wäre alsdann das Wahlrecht nur dreihundert bis vierhundert Menschen anvertraut; es wäre wegen ihrer ge¬ ringen Zahl ohne alles Vertrauen Vonseiten der ausgeschlossenen Masse der NichtWähler und unreinen Einwirkungen ausgesetzt. Die Wahlen durch Wahl¬ körper sind überhaupt verwerflich, weil unmittelbare Wahlen selbständiger, eigentnmbesitzender, zahlreicher Wühler unparteiischer, einflußreicher und ver- traueneinflößender sind." Aus den letzten Worten darf man übrigens nicht etwa die Forderung herauslesen, daß das Wahlrecht lind die Wählbarkeit an den Grundbesitz zu binden seien. Denn als im Oktober 1822 der Kronprinz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/160>, abgerufen am 23.07.2024.