Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tempel und Theater

öffentlichen Interesse zu, das in spöttischer Weise behandelt wird, damit dadurch
das Volk auf den dem Dichter richtig erscheinenden Weg gelenkt werde. Dabei
tritt neben den lyrischen Bestandteil das Epirrhema, das Hinzngesprochene,
worin das durch Spott lehrhafte Element erscheint. Dann hebt die drama¬
tische Dichtung wieder an und führt die Handlung zu Ende. Ein solches
Herausfallen aus der Dichtung hat keinen ästhetischen Grund; es muß vielmehr
in der eigentümlichen geschichtlichen Entstehung des Kunstwerkes liegen. Aber
anch dann läßt es sich nur begreifen, wenn gerade dieser selbständige Teil der
ist, der, um eine größere Bedeutung zu gewinnen, sich die bereits bestehende
Kunstform des tragischen Chores aneignete. Den besten Beweis hierfür liefert
der weitere Verlauf der Entwicklung. Als mit der politischen Freiheit auch
die Ungebundenheit des Wortes aufhörte, hatte der Chor in der Komödie
überhaupt nichts mehr zu sagen und siel ganz weg; aber es war die Erkenntnis
gewonnen worden, daß die dramatische Form nicht nur dem hohen Ernste
dienen, nicht nur göttliche und heroische Erscheinungen als Hauptpersonen
benutzen könne, sondern daß auch das Alltagsleben einen dankbaren Stoss für
die dramatische Form biete. So treten nun die Verwicklungen des kleinen Lebens
mit ihren erheiternden Folgen an die Stelle der das ganze Dasein erschütternden
Geschicke. Soll hier schließlich eine Befriedigung gewonnen werden, so muß
diese im Stoffe selbst liegen, sodaß hierdurch ein guter, erfreulicher Ausgang
notwendig wurde; das Geschick der Menschen, für die man Teilnahme gewonnen
hatte, mußte die Befriedigung schaffen, jedem ein willkommenes Spiegelbild
des eignen Treibens werden und ihn mit der Hoffnung entlassen, daß, wenn
sich dort alles so gut gestalte, dies wohl auch im wirklichen Leben der Fall
sein werde.

, Wenn sich die innere Notwendigkeit eines Entwicklungsganges in solcher
Weise mit der geschichtlichen Überlieferung deckt, daß diese durch jenen über¬
haupt erst verständlich wird, so liegt darin für diesen Entwicklungsgang eine
wertvolle Bestätigung. Er findet aber eine weitere und nicht minder be¬
deutende darin, daß er sich auf andern Gebieten der Kunst ganz ebenso
wiederholt und sich dadurch als einen nicht zufälligen, sondern der Sache selbst
entsprechenden Fortgang darstellt. Und in der That begegnet er uns in ähn¬
licher Weise auf allen Kunstgebieten, sodaß die wesentlichen Stufen der Ent¬
wicklung dieselben sind. Überall gewinnt die Kunstthütigkeit ihre tiefere, künst¬
lerische Bedeutung durch den Anschluß an den Kultus, überall wird die
ästhetische Freude an den Kunstschöpfungen zuerst als etwas außerhalb des
Hauptzweckes liegendes unbeachtet gelassen, allmählich entdeckt, dann teils ab¬
sichtlich beiseite gesetzt, teils absichtlich in das Nebensächliche eingeführt, bis
es das formell beherrschende Element wird und sich allmählich auch die Herr¬
schaft über den Inhalt erkämpft. Damit findet der endgiltige Bruch mit dem
Heiligen statt; der rein irdische, menschliche Inhalt trügt den Sieg davon und


Tempel und Theater

öffentlichen Interesse zu, das in spöttischer Weise behandelt wird, damit dadurch
das Volk auf den dem Dichter richtig erscheinenden Weg gelenkt werde. Dabei
tritt neben den lyrischen Bestandteil das Epirrhema, das Hinzngesprochene,
worin das durch Spott lehrhafte Element erscheint. Dann hebt die drama¬
tische Dichtung wieder an und führt die Handlung zu Ende. Ein solches
Herausfallen aus der Dichtung hat keinen ästhetischen Grund; es muß vielmehr
in der eigentümlichen geschichtlichen Entstehung des Kunstwerkes liegen. Aber
anch dann läßt es sich nur begreifen, wenn gerade dieser selbständige Teil der
ist, der, um eine größere Bedeutung zu gewinnen, sich die bereits bestehende
Kunstform des tragischen Chores aneignete. Den besten Beweis hierfür liefert
der weitere Verlauf der Entwicklung. Als mit der politischen Freiheit auch
die Ungebundenheit des Wortes aufhörte, hatte der Chor in der Komödie
überhaupt nichts mehr zu sagen und siel ganz weg; aber es war die Erkenntnis
gewonnen worden, daß die dramatische Form nicht nur dem hohen Ernste
dienen, nicht nur göttliche und heroische Erscheinungen als Hauptpersonen
benutzen könne, sondern daß auch das Alltagsleben einen dankbaren Stoss für
die dramatische Form biete. So treten nun die Verwicklungen des kleinen Lebens
mit ihren erheiternden Folgen an die Stelle der das ganze Dasein erschütternden
Geschicke. Soll hier schließlich eine Befriedigung gewonnen werden, so muß
diese im Stoffe selbst liegen, sodaß hierdurch ein guter, erfreulicher Ausgang
notwendig wurde; das Geschick der Menschen, für die man Teilnahme gewonnen
hatte, mußte die Befriedigung schaffen, jedem ein willkommenes Spiegelbild
des eignen Treibens werden und ihn mit der Hoffnung entlassen, daß, wenn
sich dort alles so gut gestalte, dies wohl auch im wirklichen Leben der Fall
sein werde.

, Wenn sich die innere Notwendigkeit eines Entwicklungsganges in solcher
Weise mit der geschichtlichen Überlieferung deckt, daß diese durch jenen über¬
haupt erst verständlich wird, so liegt darin für diesen Entwicklungsgang eine
wertvolle Bestätigung. Er findet aber eine weitere und nicht minder be¬
deutende darin, daß er sich auf andern Gebieten der Kunst ganz ebenso
wiederholt und sich dadurch als einen nicht zufälligen, sondern der Sache selbst
entsprechenden Fortgang darstellt. Und in der That begegnet er uns in ähn¬
licher Weise auf allen Kunstgebieten, sodaß die wesentlichen Stufen der Ent¬
wicklung dieselben sind. Überall gewinnt die Kunstthütigkeit ihre tiefere, künst¬
lerische Bedeutung durch den Anschluß an den Kultus, überall wird die
ästhetische Freude an den Kunstschöpfungen zuerst als etwas außerhalb des
Hauptzweckes liegendes unbeachtet gelassen, allmählich entdeckt, dann teils ab¬
sichtlich beiseite gesetzt, teils absichtlich in das Nebensächliche eingeführt, bis
es das formell beherrschende Element wird und sich allmählich auch die Herr¬
schaft über den Inhalt erkämpft. Damit findet der endgiltige Bruch mit dem
Heiligen statt; der rein irdische, menschliche Inhalt trügt den Sieg davon und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208710"/>
          <fw type="header" place="top"> Tempel und Theater</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_352" prev="#ID_351"> öffentlichen Interesse zu, das in spöttischer Weise behandelt wird, damit dadurch<lb/>
das Volk auf den dem Dichter richtig erscheinenden Weg gelenkt werde. Dabei<lb/>
tritt neben den lyrischen Bestandteil das Epirrhema, das Hinzngesprochene,<lb/>
worin das durch Spott lehrhafte Element erscheint. Dann hebt die drama¬<lb/>
tische Dichtung wieder an und führt die Handlung zu Ende. Ein solches<lb/>
Herausfallen aus der Dichtung hat keinen ästhetischen Grund; es muß vielmehr<lb/>
in der eigentümlichen geschichtlichen Entstehung des Kunstwerkes liegen. Aber<lb/>
anch dann läßt es sich nur begreifen, wenn gerade dieser selbständige Teil der<lb/>
ist, der, um eine größere Bedeutung zu gewinnen, sich die bereits bestehende<lb/>
Kunstform des tragischen Chores aneignete. Den besten Beweis hierfür liefert<lb/>
der weitere Verlauf der Entwicklung. Als mit der politischen Freiheit auch<lb/>
die Ungebundenheit des Wortes aufhörte, hatte der Chor in der Komödie<lb/>
überhaupt nichts mehr zu sagen und siel ganz weg; aber es war die Erkenntnis<lb/>
gewonnen worden, daß die dramatische Form nicht nur dem hohen Ernste<lb/>
dienen, nicht nur göttliche und heroische Erscheinungen als Hauptpersonen<lb/>
benutzen könne, sondern daß auch das Alltagsleben einen dankbaren Stoss für<lb/>
die dramatische Form biete. So treten nun die Verwicklungen des kleinen Lebens<lb/>
mit ihren erheiternden Folgen an die Stelle der das ganze Dasein erschütternden<lb/>
Geschicke. Soll hier schließlich eine Befriedigung gewonnen werden, so muß<lb/>
diese im Stoffe selbst liegen, sodaß hierdurch ein guter, erfreulicher Ausgang<lb/>
notwendig wurde; das Geschick der Menschen, für die man Teilnahme gewonnen<lb/>
hatte, mußte die Befriedigung schaffen, jedem ein willkommenes Spiegelbild<lb/>
des eignen Treibens werden und ihn mit der Hoffnung entlassen, daß, wenn<lb/>
sich dort alles so gut gestalte, dies wohl auch im wirklichen Leben der Fall<lb/>
sein werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_353" next="#ID_354"> , Wenn sich die innere Notwendigkeit eines Entwicklungsganges in solcher<lb/>
Weise mit der geschichtlichen Überlieferung deckt, daß diese durch jenen über¬<lb/>
haupt erst verständlich wird, so liegt darin für diesen Entwicklungsgang eine<lb/>
wertvolle Bestätigung. Er findet aber eine weitere und nicht minder be¬<lb/>
deutende darin, daß er sich auf andern Gebieten der Kunst ganz ebenso<lb/>
wiederholt und sich dadurch als einen nicht zufälligen, sondern der Sache selbst<lb/>
entsprechenden Fortgang darstellt. Und in der That begegnet er uns in ähn¬<lb/>
licher Weise auf allen Kunstgebieten, sodaß die wesentlichen Stufen der Ent¬<lb/>
wicklung dieselben sind. Überall gewinnt die Kunstthütigkeit ihre tiefere, künst¬<lb/>
lerische Bedeutung durch den Anschluß an den Kultus, überall wird die<lb/>
ästhetische Freude an den Kunstschöpfungen zuerst als etwas außerhalb des<lb/>
Hauptzweckes liegendes unbeachtet gelassen, allmählich entdeckt, dann teils ab¬<lb/>
sichtlich beiseite gesetzt, teils absichtlich in das Nebensächliche eingeführt, bis<lb/>
es das formell beherrschende Element wird und sich allmählich auch die Herr¬<lb/>
schaft über den Inhalt erkämpft. Damit findet der endgiltige Bruch mit dem<lb/>
Heiligen statt; der rein irdische, menschliche Inhalt trügt den Sieg davon und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0131] Tempel und Theater öffentlichen Interesse zu, das in spöttischer Weise behandelt wird, damit dadurch das Volk auf den dem Dichter richtig erscheinenden Weg gelenkt werde. Dabei tritt neben den lyrischen Bestandteil das Epirrhema, das Hinzngesprochene, worin das durch Spott lehrhafte Element erscheint. Dann hebt die drama¬ tische Dichtung wieder an und führt die Handlung zu Ende. Ein solches Herausfallen aus der Dichtung hat keinen ästhetischen Grund; es muß vielmehr in der eigentümlichen geschichtlichen Entstehung des Kunstwerkes liegen. Aber anch dann läßt es sich nur begreifen, wenn gerade dieser selbständige Teil der ist, der, um eine größere Bedeutung zu gewinnen, sich die bereits bestehende Kunstform des tragischen Chores aneignete. Den besten Beweis hierfür liefert der weitere Verlauf der Entwicklung. Als mit der politischen Freiheit auch die Ungebundenheit des Wortes aufhörte, hatte der Chor in der Komödie überhaupt nichts mehr zu sagen und siel ganz weg; aber es war die Erkenntnis gewonnen worden, daß die dramatische Form nicht nur dem hohen Ernste dienen, nicht nur göttliche und heroische Erscheinungen als Hauptpersonen benutzen könne, sondern daß auch das Alltagsleben einen dankbaren Stoss für die dramatische Form biete. So treten nun die Verwicklungen des kleinen Lebens mit ihren erheiternden Folgen an die Stelle der das ganze Dasein erschütternden Geschicke. Soll hier schließlich eine Befriedigung gewonnen werden, so muß diese im Stoffe selbst liegen, sodaß hierdurch ein guter, erfreulicher Ausgang notwendig wurde; das Geschick der Menschen, für die man Teilnahme gewonnen hatte, mußte die Befriedigung schaffen, jedem ein willkommenes Spiegelbild des eignen Treibens werden und ihn mit der Hoffnung entlassen, daß, wenn sich dort alles so gut gestalte, dies wohl auch im wirklichen Leben der Fall sein werde. , Wenn sich die innere Notwendigkeit eines Entwicklungsganges in solcher Weise mit der geschichtlichen Überlieferung deckt, daß diese durch jenen über¬ haupt erst verständlich wird, so liegt darin für diesen Entwicklungsgang eine wertvolle Bestätigung. Er findet aber eine weitere und nicht minder be¬ deutende darin, daß er sich auf andern Gebieten der Kunst ganz ebenso wiederholt und sich dadurch als einen nicht zufälligen, sondern der Sache selbst entsprechenden Fortgang darstellt. Und in der That begegnet er uns in ähn¬ licher Weise auf allen Kunstgebieten, sodaß die wesentlichen Stufen der Ent¬ wicklung dieselben sind. Überall gewinnt die Kunstthütigkeit ihre tiefere, künst¬ lerische Bedeutung durch den Anschluß an den Kultus, überall wird die ästhetische Freude an den Kunstschöpfungen zuerst als etwas außerhalb des Hauptzweckes liegendes unbeachtet gelassen, allmählich entdeckt, dann teils ab¬ sichtlich beiseite gesetzt, teils absichtlich in das Nebensächliche eingeführt, bis es das formell beherrschende Element wird und sich allmählich auch die Herr¬ schaft über den Inhalt erkämpft. Damit findet der endgiltige Bruch mit dem Heiligen statt; der rein irdische, menschliche Inhalt trügt den Sieg davon und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/131
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/131>, abgerufen am 25.08.2024.