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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

Menschen tief begründet, sie tritt schon früh beim Kinde hervor und verfolgt
manchen sein Leben lang. Auf ihr beruht die Möglichkeit des Dramas über¬
haupt. Ganz verschieden davon ist jedoch die Verwendung dieser Anlage zu
einem Kunstwerke; dazu bedarf es eines ganz besondern Anlasses. So sind
sicherlich nicht nur geschichtlich, sondern der innern Wahrheit nach die Berichte
wohlbegründet, wonach bei den Weinlesefesten Verkleidungen, Umgestaltungen
des Gesichts durch Schminke und durch Masken, nachahmende Darstellung
andrer mit Hilfe dieser Mittel und damit verbundene verspottende Nach¬
äffungen stattgefunden haben. Allein diese Dinge sind noch weit von einem
Drama, einer Kunstschöpfung entfernt. Die Vermittlung scheint der Vorsänger
der Chorlieder gebildet zu haben, dessen Ausfülle freilich, da sie teils persön¬
licher, teils politischer Natur waren, zu einem Anschluß an den Kultus selbst
nicht Hütten führen können. Ein solcher, und damit die Entstehung der
Komödie als Dichtungsgattung, kann erst stattgefunden haben, nachdem die
tragische Kultushaudlung bereits Drama geworden war und den ersten Schritt
eines Überganges zum Kunstwerk gemacht hatte. So nahm das Scherztreiben
beim Weiulesefest die dnrch die Tragödie aus dem Kultus heraus geschaffenen
Formen an und verband mit ihnen die ihr eigentümlich zukommenden Bestand¬
teile, sogut es eben gehen mochte. Wenn Chionides in der That der erste wirk¬
liche Komödiendichter war und 488 angefangen but Komödien aufzuführen, so
darf man wohl annehmen, daß es der imponirende Einfluß der durch Äfchhlvs
mit Einführung des zweiten Schauspielers umgeschaffenen tragischen Dichtung
war, der die kölnische Darstellung zur Nachahmung und zur Verwendung der¬
selben Mittel antrieb. So versteht man die Nachricht des Aristoteles, daß
die Komödie anfangs unbeachtet geblieben sei, weil sie nicht als etwas Ernst¬
liches behandelt wurde; dies trat erst durch Herübernahme der von der Tra¬
gödie gefundenen Form ein. Dazu stimmt die weitere Nachricht, daß der Chor
ursprünglich aus Freiwilligen bestanden habe, daß die Behörde erst spät einen
Chor für die Komödie bewilligt habe, also längere Zeit, nachdem sie die Tra¬
gödie mit dem Chor ausgestattet hatte. Diese, als Kultushaudlung, hatte
darauf einen Anspruch; die Komödie erlangte ihn erst, nachdem sie sich der
aus der Kultushandlung entsprungenen Form der Tragödie angeschlossen hatte.
Daher erklärt sichs, wie uach Aristoteles bei ihr die bekannten Dichternamen
erst überliefert werden, als die Komödie schon gewisse Formen besaß. Diese
braucht sie eben nicht durch ihre eignen Dichter herauszuarbeiten; der Dichter
taucht vielmehr erst auf, als die Komödie es gewagt hatte, die dramatische
Form der Tragödie anzunehmen.

Dieses Zusammenwachsen zweier innerlich einander fremden Bestandteile
zeigt sich noch deutlicher in der der alten Komödie eigentümlichen Parabase.
Mit ihr wird die dramatische Handlung unterbrochen, und der Chor wendet
sich außerhalb des Zusammenhanges der dramatischen Dichtung irgend einem


Tempel und Theater

Menschen tief begründet, sie tritt schon früh beim Kinde hervor und verfolgt
manchen sein Leben lang. Auf ihr beruht die Möglichkeit des Dramas über¬
haupt. Ganz verschieden davon ist jedoch die Verwendung dieser Anlage zu
einem Kunstwerke; dazu bedarf es eines ganz besondern Anlasses. So sind
sicherlich nicht nur geschichtlich, sondern der innern Wahrheit nach die Berichte
wohlbegründet, wonach bei den Weinlesefesten Verkleidungen, Umgestaltungen
des Gesichts durch Schminke und durch Masken, nachahmende Darstellung
andrer mit Hilfe dieser Mittel und damit verbundene verspottende Nach¬
äffungen stattgefunden haben. Allein diese Dinge sind noch weit von einem
Drama, einer Kunstschöpfung entfernt. Die Vermittlung scheint der Vorsänger
der Chorlieder gebildet zu haben, dessen Ausfülle freilich, da sie teils persön¬
licher, teils politischer Natur waren, zu einem Anschluß an den Kultus selbst
nicht Hütten führen können. Ein solcher, und damit die Entstehung der
Komödie als Dichtungsgattung, kann erst stattgefunden haben, nachdem die
tragische Kultushaudlung bereits Drama geworden war und den ersten Schritt
eines Überganges zum Kunstwerk gemacht hatte. So nahm das Scherztreiben
beim Weiulesefest die dnrch die Tragödie aus dem Kultus heraus geschaffenen
Formen an und verband mit ihnen die ihr eigentümlich zukommenden Bestand¬
teile, sogut es eben gehen mochte. Wenn Chionides in der That der erste wirk¬
liche Komödiendichter war und 488 angefangen but Komödien aufzuführen, so
darf man wohl annehmen, daß es der imponirende Einfluß der durch Äfchhlvs
mit Einführung des zweiten Schauspielers umgeschaffenen tragischen Dichtung
war, der die kölnische Darstellung zur Nachahmung und zur Verwendung der¬
selben Mittel antrieb. So versteht man die Nachricht des Aristoteles, daß
die Komödie anfangs unbeachtet geblieben sei, weil sie nicht als etwas Ernst¬
liches behandelt wurde; dies trat erst durch Herübernahme der von der Tra¬
gödie gefundenen Form ein. Dazu stimmt die weitere Nachricht, daß der Chor
ursprünglich aus Freiwilligen bestanden habe, daß die Behörde erst spät einen
Chor für die Komödie bewilligt habe, also längere Zeit, nachdem sie die Tra¬
gödie mit dem Chor ausgestattet hatte. Diese, als Kultushaudlung, hatte
darauf einen Anspruch; die Komödie erlangte ihn erst, nachdem sie sich der
aus der Kultushandlung entsprungenen Form der Tragödie angeschlossen hatte.
Daher erklärt sichs, wie uach Aristoteles bei ihr die bekannten Dichternamen
erst überliefert werden, als die Komödie schon gewisse Formen besaß. Diese
braucht sie eben nicht durch ihre eignen Dichter herauszuarbeiten; der Dichter
taucht vielmehr erst auf, als die Komödie es gewagt hatte, die dramatische
Form der Tragödie anzunehmen.

Dieses Zusammenwachsen zweier innerlich einander fremden Bestandteile
zeigt sich noch deutlicher in der der alten Komödie eigentümlichen Parabase.
Mit ihr wird die dramatische Handlung unterbrochen, und der Chor wendet
sich außerhalb des Zusammenhanges der dramatischen Dichtung irgend einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/130>, abgerufen am 23.07.2024.