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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

durchläuft nun alle Richtungen des menschlichen Geschickes, von seinen höchsten
Höhen bis zu den tiefsten Tiefen, sodaß allmählich von ästhetischer Wirkung
nur noch so viel verwendet wird, daß das rein stoffliche Interesse auf die Ein¬
bildungskraft zit wirken vermag. Da bleibt nnr noch eines übrig: es muß
wieder zum Ausgangspunkte zurückgekehrt werdeu. Dieser Vorgang aber voll¬
zieht sich auf dem Gebiete des Theaters im Augenblicke vor unsern Augen.
Auf der einen Seite entblödet sich eine Richtung, die die dichterische Wahrheit
mit der Häßlichkeit der rohen Wirklichkeit verwechselt, nicht, das Widerwärtigste
und Abstoßendste des menschlichen Lebens auf der Bühne als den Höhepunkt
der künstlerischen Thätigkeit hinzustellen; anderseits wird wieder zu der kirch¬
lichen Überlieferung zurückgegriffen. Noch freilich wagt man es nicht, den ent¬
scheidenden Schritt zu thun und die der kirchlichen Auffassung zu Grunde
liegenden heiligen Thatsachen vorzuführen; das bleibt noch den Bauern in
Oberammergau überlassen, und der Gebildete begnügt sich mit Lutherfestspielen.
Diese keimten in der Kirche auf, verlangten aber bald eine eigne Stätte, und
in Worms entsteht ein nach neuen, d. h. nach alten Grundsätzen gebautes
Theater: die Form der Bühne wird mit oder ohne Bewußtsein der Kirche,
und zwar dem Chor entlehnt, dem gegenüber auf hoher Empore die Orgel
ihre Aufstellung findet. Sie selbst und der vor ihr versammelte Süngerchvr
greifen in die Handlung ein wie in der Kirche in den Kultusvorgang. Auch
der äußere Aufbau trägt den Charakter des Kirchenbaues, wozu der glücklich
gewählte Anschluß an den romanischen Stil das Seinige beiträgt. Daneben
treten Bewegungen, die auf Volksbühnen versuchen, der großen Masse edlere
Kost vorzuführen, wie es jetzt in Wien geplant wird. Ja selbst das Berufs¬
theater macht den Versuch der Rückkehr zum Alten. Hierbei kaun es sich
natürlich nnr auf die Bühneneinrichtung und die Ausstattung beschränken,
die durch das übertriebene Bestreben, daß alles auf der Bühne wirklich sein
sollte, nun wieder dahin kommen, den Schein möglichst gering zu machen,
sodaß die Einbildungskraft des Zuschauers so gut wie alles hinzuthun muß,
nachdem bisher ihre Thätigkeit und damit die ästhetische Freude darauf
beschränkt worden war, alles auf der Bühne so zu finden, wie es im Leben
wirklich ist.

So wächst aus dem Kultus das Drama, aus dem Tempel das Theater;
so strebt das Theater zum Tempel, das Drama zum Kultus zurück. Den
Weg, auf dem das wirklich geschehen kann, hat die Musik gezeigt, indem sie
im Anschluß an die Evangelien die Oratorien schuf; wie diese ergreifen, wie
diese mächtig das Gemüt erregen, zeigen ihre Aufführungen an den hohen
Feiertagen. Aber gerade das, was das Drama zu bieten vermag, die noch so
viel ergreifender wirkende Anschauung fehlt. Da möchte wohl Oberammergau
den Weg zeigen; wenn an die Stelle mehr oder weniger gehaltvoller Festspiele
die lebendige Darstellung der ergreifendsten Thatsachen, der Erde und Himmel


Tempel und Theater

durchläuft nun alle Richtungen des menschlichen Geschickes, von seinen höchsten
Höhen bis zu den tiefsten Tiefen, sodaß allmählich von ästhetischer Wirkung
nur noch so viel verwendet wird, daß das rein stoffliche Interesse auf die Ein¬
bildungskraft zit wirken vermag. Da bleibt nnr noch eines übrig: es muß
wieder zum Ausgangspunkte zurückgekehrt werdeu. Dieser Vorgang aber voll¬
zieht sich auf dem Gebiete des Theaters im Augenblicke vor unsern Augen.
Auf der einen Seite entblödet sich eine Richtung, die die dichterische Wahrheit
mit der Häßlichkeit der rohen Wirklichkeit verwechselt, nicht, das Widerwärtigste
und Abstoßendste des menschlichen Lebens auf der Bühne als den Höhepunkt
der künstlerischen Thätigkeit hinzustellen; anderseits wird wieder zu der kirch¬
lichen Überlieferung zurückgegriffen. Noch freilich wagt man es nicht, den ent¬
scheidenden Schritt zu thun und die der kirchlichen Auffassung zu Grunde
liegenden heiligen Thatsachen vorzuführen; das bleibt noch den Bauern in
Oberammergau überlassen, und der Gebildete begnügt sich mit Lutherfestspielen.
Diese keimten in der Kirche auf, verlangten aber bald eine eigne Stätte, und
in Worms entsteht ein nach neuen, d. h. nach alten Grundsätzen gebautes
Theater: die Form der Bühne wird mit oder ohne Bewußtsein der Kirche,
und zwar dem Chor entlehnt, dem gegenüber auf hoher Empore die Orgel
ihre Aufstellung findet. Sie selbst und der vor ihr versammelte Süngerchvr
greifen in die Handlung ein wie in der Kirche in den Kultusvorgang. Auch
der äußere Aufbau trägt den Charakter des Kirchenbaues, wozu der glücklich
gewählte Anschluß an den romanischen Stil das Seinige beiträgt. Daneben
treten Bewegungen, die auf Volksbühnen versuchen, der großen Masse edlere
Kost vorzuführen, wie es jetzt in Wien geplant wird. Ja selbst das Berufs¬
theater macht den Versuch der Rückkehr zum Alten. Hierbei kaun es sich
natürlich nnr auf die Bühneneinrichtung und die Ausstattung beschränken,
die durch das übertriebene Bestreben, daß alles auf der Bühne wirklich sein
sollte, nun wieder dahin kommen, den Schein möglichst gering zu machen,
sodaß die Einbildungskraft des Zuschauers so gut wie alles hinzuthun muß,
nachdem bisher ihre Thätigkeit und damit die ästhetische Freude darauf
beschränkt worden war, alles auf der Bühne so zu finden, wie es im Leben
wirklich ist.

So wächst aus dem Kultus das Drama, aus dem Tempel das Theater;
so strebt das Theater zum Tempel, das Drama zum Kultus zurück. Den
Weg, auf dem das wirklich geschehen kann, hat die Musik gezeigt, indem sie
im Anschluß an die Evangelien die Oratorien schuf; wie diese ergreifen, wie
diese mächtig das Gemüt erregen, zeigen ihre Aufführungen an den hohen
Feiertagen. Aber gerade das, was das Drama zu bieten vermag, die noch so
viel ergreifender wirkende Anschauung fehlt. Da möchte wohl Oberammergau
den Weg zeigen; wenn an die Stelle mehr oder weniger gehaltvoller Festspiele
die lebendige Darstellung der ergreifendsten Thatsachen, der Erde und Himmel


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[0132] Tempel und Theater durchläuft nun alle Richtungen des menschlichen Geschickes, von seinen höchsten Höhen bis zu den tiefsten Tiefen, sodaß allmählich von ästhetischer Wirkung nur noch so viel verwendet wird, daß das rein stoffliche Interesse auf die Ein¬ bildungskraft zit wirken vermag. Da bleibt nnr noch eines übrig: es muß wieder zum Ausgangspunkte zurückgekehrt werdeu. Dieser Vorgang aber voll¬ zieht sich auf dem Gebiete des Theaters im Augenblicke vor unsern Augen. Auf der einen Seite entblödet sich eine Richtung, die die dichterische Wahrheit mit der Häßlichkeit der rohen Wirklichkeit verwechselt, nicht, das Widerwärtigste und Abstoßendste des menschlichen Lebens auf der Bühne als den Höhepunkt der künstlerischen Thätigkeit hinzustellen; anderseits wird wieder zu der kirch¬ lichen Überlieferung zurückgegriffen. Noch freilich wagt man es nicht, den ent¬ scheidenden Schritt zu thun und die der kirchlichen Auffassung zu Grunde liegenden heiligen Thatsachen vorzuführen; das bleibt noch den Bauern in Oberammergau überlassen, und der Gebildete begnügt sich mit Lutherfestspielen. Diese keimten in der Kirche auf, verlangten aber bald eine eigne Stätte, und in Worms entsteht ein nach neuen, d. h. nach alten Grundsätzen gebautes Theater: die Form der Bühne wird mit oder ohne Bewußtsein der Kirche, und zwar dem Chor entlehnt, dem gegenüber auf hoher Empore die Orgel ihre Aufstellung findet. Sie selbst und der vor ihr versammelte Süngerchvr greifen in die Handlung ein wie in der Kirche in den Kultusvorgang. Auch der äußere Aufbau trägt den Charakter des Kirchenbaues, wozu der glücklich gewählte Anschluß an den romanischen Stil das Seinige beiträgt. Daneben treten Bewegungen, die auf Volksbühnen versuchen, der großen Masse edlere Kost vorzuführen, wie es jetzt in Wien geplant wird. Ja selbst das Berufs¬ theater macht den Versuch der Rückkehr zum Alten. Hierbei kaun es sich natürlich nnr auf die Bühneneinrichtung und die Ausstattung beschränken, die durch das übertriebene Bestreben, daß alles auf der Bühne wirklich sein sollte, nun wieder dahin kommen, den Schein möglichst gering zu machen, sodaß die Einbildungskraft des Zuschauers so gut wie alles hinzuthun muß, nachdem bisher ihre Thätigkeit und damit die ästhetische Freude darauf beschränkt worden war, alles auf der Bühne so zu finden, wie es im Leben wirklich ist. So wächst aus dem Kultus das Drama, aus dem Tempel das Theater; so strebt das Theater zum Tempel, das Drama zum Kultus zurück. Den Weg, auf dem das wirklich geschehen kann, hat die Musik gezeigt, indem sie im Anschluß an die Evangelien die Oratorien schuf; wie diese ergreifen, wie diese mächtig das Gemüt erregen, zeigen ihre Aufführungen an den hohen Feiertagen. Aber gerade das, was das Drama zu bieten vermag, die noch so viel ergreifender wirkende Anschauung fehlt. Da möchte wohl Oberammergau den Weg zeigen; wenn an die Stelle mehr oder weniger gehaltvoller Festspiele die lebendige Darstellung der ergreifendsten Thatsachen, der Erde und Himmel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/132>, abgerufen am 23.07.2024.