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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

Fußwaschung Christi, das Gastmahl bei Simeon malt, so verwendet er zwar
die biblischen Thatsachen, da ihre Darstellung gerade seine Aufgabe war; er
verwendet sie aber so, daß er seine und seiner Zeit Freude an der Pracht der
Erscheinung, an dem Farbenzauber reicher Gewänder, an der Schönheit der
Architektur, an genrehaften Szenen aufs reichste zum Ausdruck bringt. Ehe
die Kunst es wagt, das Mutterglück an irgendwelcher namenlosen Frau zur
Erscheinung zu bringen, muß ihr die Madonna mit dem Christuskinde dazu
dienen, die ohne äußerliches Merkmal, wie der Heiligenschein es ist, oft genug
als irgendwelche namenlose irdische Mutter gelten würde. Auch im griechischen
Drama liegt diese gänzliche Trennung von der religiösen Überlieferung, sodaß
sie auch uicht zum Vorwande mehr zu dienen braucht, in der natürlichen, durch
den Fortgang in der Kunstübung geforderten Entwicklung wohl begründet.
Sie wurde zwar nicht von Euripides, Wohl aber von einem Zeitgenossen gewagt,
nämlich als Agathon seine ,,Blume" dichtete.

Aus dieser Darlegung ergiebt sich, daß die griechische Tragödie
ursprünglich keine Tragödie in unserm Sinne des Wortes war, daß in ihr
zwar tragische Konflikte und tragisches Geschick vorhanden sind, daß aber der
Nusgang nicht mit Notwendigkeit "tragisch" zu sein brauchte, daß er es viel¬
mehr häusig nicht und ursprünglich wohl überhaupt nicht war. Der Grund
davon lag in der Absicht, mit der Schlußstimmung eine Befriedigung zu er¬
reichen, wie dies einer Tempelhandlnng, einer Kultusübuug allein entsprach.
Die vorgeführte Handlung mußte gleich dem Gottesdienst eine Läuterung bei
dem Zuhörer hervorbringen. Bei dein einfachen Gottesdienste geschieht dies
durch die fromme Erhebung der Seele des Gläubigen zu der Allmacht der
Gottheit und durch die Erweckung des Vertrauens zu ihr. Bei der Be¬
reicherung und Ergänzung des Gottesdienstes durch die dramatische Vorführung
von Ereignissen, bei denen die Gottheit als die waltende und schließlich zur
Ordnung führende Macht erscheint, wird die praktische Bewährung für diese
Empfindung gegeben; das, was den Menschen beängstigt, tritt ihm in erhöhtem
Maßstabe im Bild entgegen, er sieht, wie es Unheil schafft, er empfindet mit¬
leidig mit ihm, wenn es leidet, er erkennt, wie die Willkür, die Maßlosigkeit
zum Untergange führt, er hört den Preis der Maßhaltung, und durch den
Anblick der in ihm Beängstigung und Mitgefühl, Furcht und Mitleid erregenden
Handlungen wird er selbst von deu Leidenschaften geläutert, die zu solchen
Handlungen führen. Diesen religiösen Sinn hat das von Aristoteles auf¬
gestellte letzte Merkmal der Tragödie, das er "Katharsis" nannte. Die
Katharsis ist in erster Linie die religiöse Sühne und Läuterung. Die medi¬
zinische Bedeutung des Wortes, die Heilung durch Einführung von Lüuterungs-
mitteln, die, indem sie aus dem Körper wieder ausscheiden, zugleich den
Krankheitsstoff entfernen, ist erst eine abgeleitete Anwendung des Begriffes,
dem Gange der Heilmethode entsprechend, die stets zuerst durch übernatürliche,


Tempel und Theater

Fußwaschung Christi, das Gastmahl bei Simeon malt, so verwendet er zwar
die biblischen Thatsachen, da ihre Darstellung gerade seine Aufgabe war; er
verwendet sie aber so, daß er seine und seiner Zeit Freude an der Pracht der
Erscheinung, an dem Farbenzauber reicher Gewänder, an der Schönheit der
Architektur, an genrehaften Szenen aufs reichste zum Ausdruck bringt. Ehe
die Kunst es wagt, das Mutterglück an irgendwelcher namenlosen Frau zur
Erscheinung zu bringen, muß ihr die Madonna mit dem Christuskinde dazu
dienen, die ohne äußerliches Merkmal, wie der Heiligenschein es ist, oft genug
als irgendwelche namenlose irdische Mutter gelten würde. Auch im griechischen
Drama liegt diese gänzliche Trennung von der religiösen Überlieferung, sodaß
sie auch uicht zum Vorwande mehr zu dienen braucht, in der natürlichen, durch
den Fortgang in der Kunstübung geforderten Entwicklung wohl begründet.
Sie wurde zwar nicht von Euripides, Wohl aber von einem Zeitgenossen gewagt,
nämlich als Agathon seine ,,Blume" dichtete.

Aus dieser Darlegung ergiebt sich, daß die griechische Tragödie
ursprünglich keine Tragödie in unserm Sinne des Wortes war, daß in ihr
zwar tragische Konflikte und tragisches Geschick vorhanden sind, daß aber der
Nusgang nicht mit Notwendigkeit „tragisch" zu sein brauchte, daß er es viel¬
mehr häusig nicht und ursprünglich wohl überhaupt nicht war. Der Grund
davon lag in der Absicht, mit der Schlußstimmung eine Befriedigung zu er¬
reichen, wie dies einer Tempelhandlnng, einer Kultusübuug allein entsprach.
Die vorgeführte Handlung mußte gleich dem Gottesdienst eine Läuterung bei
dem Zuhörer hervorbringen. Bei dein einfachen Gottesdienste geschieht dies
durch die fromme Erhebung der Seele des Gläubigen zu der Allmacht der
Gottheit und durch die Erweckung des Vertrauens zu ihr. Bei der Be¬
reicherung und Ergänzung des Gottesdienstes durch die dramatische Vorführung
von Ereignissen, bei denen die Gottheit als die waltende und schließlich zur
Ordnung führende Macht erscheint, wird die praktische Bewährung für diese
Empfindung gegeben; das, was den Menschen beängstigt, tritt ihm in erhöhtem
Maßstabe im Bild entgegen, er sieht, wie es Unheil schafft, er empfindet mit¬
leidig mit ihm, wenn es leidet, er erkennt, wie die Willkür, die Maßlosigkeit
zum Untergange führt, er hört den Preis der Maßhaltung, und durch den
Anblick der in ihm Beängstigung und Mitgefühl, Furcht und Mitleid erregenden
Handlungen wird er selbst von deu Leidenschaften geläutert, die zu solchen
Handlungen führen. Diesen religiösen Sinn hat das von Aristoteles auf¬
gestellte letzte Merkmal der Tragödie, das er „Katharsis" nannte. Die
Katharsis ist in erster Linie die religiöse Sühne und Läuterung. Die medi¬
zinische Bedeutung des Wortes, die Heilung durch Einführung von Lüuterungs-
mitteln, die, indem sie aus dem Körper wieder ausscheiden, zugleich den
Krankheitsstoff entfernen, ist erst eine abgeleitete Anwendung des Begriffes,
dem Gange der Heilmethode entsprechend, die stets zuerst durch übernatürliche,


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[0127] Tempel und Theater Fußwaschung Christi, das Gastmahl bei Simeon malt, so verwendet er zwar die biblischen Thatsachen, da ihre Darstellung gerade seine Aufgabe war; er verwendet sie aber so, daß er seine und seiner Zeit Freude an der Pracht der Erscheinung, an dem Farbenzauber reicher Gewänder, an der Schönheit der Architektur, an genrehaften Szenen aufs reichste zum Ausdruck bringt. Ehe die Kunst es wagt, das Mutterglück an irgendwelcher namenlosen Frau zur Erscheinung zu bringen, muß ihr die Madonna mit dem Christuskinde dazu dienen, die ohne äußerliches Merkmal, wie der Heiligenschein es ist, oft genug als irgendwelche namenlose irdische Mutter gelten würde. Auch im griechischen Drama liegt diese gänzliche Trennung von der religiösen Überlieferung, sodaß sie auch uicht zum Vorwande mehr zu dienen braucht, in der natürlichen, durch den Fortgang in der Kunstübung geforderten Entwicklung wohl begründet. Sie wurde zwar nicht von Euripides, Wohl aber von einem Zeitgenossen gewagt, nämlich als Agathon seine ,,Blume" dichtete. Aus dieser Darlegung ergiebt sich, daß die griechische Tragödie ursprünglich keine Tragödie in unserm Sinne des Wortes war, daß in ihr zwar tragische Konflikte und tragisches Geschick vorhanden sind, daß aber der Nusgang nicht mit Notwendigkeit „tragisch" zu sein brauchte, daß er es viel¬ mehr häusig nicht und ursprünglich wohl überhaupt nicht war. Der Grund davon lag in der Absicht, mit der Schlußstimmung eine Befriedigung zu er¬ reichen, wie dies einer Tempelhandlnng, einer Kultusübuug allein entsprach. Die vorgeführte Handlung mußte gleich dem Gottesdienst eine Läuterung bei dem Zuhörer hervorbringen. Bei dein einfachen Gottesdienste geschieht dies durch die fromme Erhebung der Seele des Gläubigen zu der Allmacht der Gottheit und durch die Erweckung des Vertrauens zu ihr. Bei der Be¬ reicherung und Ergänzung des Gottesdienstes durch die dramatische Vorführung von Ereignissen, bei denen die Gottheit als die waltende und schließlich zur Ordnung führende Macht erscheint, wird die praktische Bewährung für diese Empfindung gegeben; das, was den Menschen beängstigt, tritt ihm in erhöhtem Maßstabe im Bild entgegen, er sieht, wie es Unheil schafft, er empfindet mit¬ leidig mit ihm, wenn es leidet, er erkennt, wie die Willkür, die Maßlosigkeit zum Untergange führt, er hört den Preis der Maßhaltung, und durch den Anblick der in ihm Beängstigung und Mitgefühl, Furcht und Mitleid erregenden Handlungen wird er selbst von deu Leidenschaften geläutert, die zu solchen Handlungen führen. Diesen religiösen Sinn hat das von Aristoteles auf¬ gestellte letzte Merkmal der Tragödie, das er „Katharsis" nannte. Die Katharsis ist in erster Linie die religiöse Sühne und Läuterung. Die medi¬ zinische Bedeutung des Wortes, die Heilung durch Einführung von Lüuterungs- mitteln, die, indem sie aus dem Körper wieder ausscheiden, zugleich den Krankheitsstoff entfernen, ist erst eine abgeleitete Anwendung des Begriffes, dem Gange der Heilmethode entsprechend, die stets zuerst durch übernatürliche,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/127>, abgerufen am 23.07.2024.