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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

religiöse Mittel wirkt und erst allmählich zu natürlichen Mitteln übergeht.
Bei Anwendung dieses Begriffes mag Aristoteles zugleich an die ärztliche
Läuterung gedacht haben, aber nur so, daß er den inzwischen für den medi¬
zinischen Vorgang üblich gewordenen Ausdruck, der Läuterung ,,durch" Furcht
und Mitleid von diesen nud ähnlichen Leidensznständen selbst, in erklärender,
das Verständnis für den religiösen Vorgang fördernder Weise anwandte; wie
durch ärztliche Mittel, soll auch die religiöse Läuterung von Leidensznständen
der Seele durch Vorführung von Handlungen erreicht werden, die eben diese
Leidenszustände mit unmittelbar wirkender Kraft ausweisen. Es geht hieraus
hervor, daß die aristotelische Begriffsbestimmung der Tragödie keine absolute
Giltigkeit für die Tragödie überhaupt hat, sondern nur für eine auf religiösem
Boden erwachsene, die die Wirkung der religiösen Handlung, des Kultus, mit
verstärkten Mitteln unterstützen will. Und nur von dieser Tragödie spricht
Aristoteles. Die griechische Tragödie erscheint eben noch in den Zwitter¬
zuständen, daß sie, vom Kultus stammend, ihre ursprüngliche Aufgabe noch
erfüllen soll, daß sie sich aber doch schon zu einer selbständigen Kunstgattuug
entwickelt, die ihren eignen Gesetzen und Zielen folgt, unbekümmert um die
ursprüngliche Aufgabe, die ihr innerhalb eines Nahmens zugefallen war, aus
dem herauszutreten sie im Begriffe steht. Die rein ästhetisch gestaltete Tragödie,
die vom Kultus ganz frei geworden ist, hat auch nur noch eine ästhetische
Aufgabe zu erfüllen; dies kann und wird gerade dann geschehen, wenn die
erschütternde tragische Wirkung nicht mehr das Mittel, sondern das Ziel der
Darstellung wird. Damit Hort aber jene durch göttliche Erscheinung hervor¬
gerufene Beruhigung auf; es genügt, wenn der Dichter leise zu der Alltags-
stimmuug hinüberführt. Die gewaltige Erschütterung durch das Miterleben
eines tragischen Geschickes wird gerade hierdurch gemildert dennoch in der
Seele fortzittern. So wird bei der rein ästhetisch gestalteten Tragödie nicht
nur der Konflikt, nicht nur ein einzelnes Geschick, sondern der Schlußverlauf
der Handlung selbst tragisch sein, und die dadurch hervorgerufene Stimmung
wird eben das Ziel des Dichters werden. In der antiken Tragödie bricht
dieses Bestreben schon vielfach durch; in dem Maße, wie sie mehr und mehr
eine reine Kunstschöpfung wird, muß sie diese Richtung annehmen. Sie er¬
scheint schon bei Sophokles, z. B. in der Antigone, sie drängt sich immer cnt-
schiedner bei Euripides hervor, der eben deshalb von Aristoteles als der
tragischste der Dichter bezeichnet wird, der aber auch eben deshalb mit der
heiligen Überlieferung am meisten in Streit kommt, sodaß die Vereinigung der
nach ästhetischen Zielen ringenden Tragödie mit den Kultusüberlieferungen
gerade bei ihm als besonders gewaltsam und willkürlich erscheint. So zeigt
uns die griechische Tragödie in sehr merkwürdiger Weise den Prozeß der Los-
reißung des ästhetisch sich gestaltenden Kunstwerkes von seiner Mutter, der
Knltnshandluug; diese kann noch nicht vergessen werden, jene sich noch nicht


Tempel und Theater

religiöse Mittel wirkt und erst allmählich zu natürlichen Mitteln übergeht.
Bei Anwendung dieses Begriffes mag Aristoteles zugleich an die ärztliche
Läuterung gedacht haben, aber nur so, daß er den inzwischen für den medi¬
zinischen Vorgang üblich gewordenen Ausdruck, der Läuterung ,,durch" Furcht
und Mitleid von diesen nud ähnlichen Leidensznständen selbst, in erklärender,
das Verständnis für den religiösen Vorgang fördernder Weise anwandte; wie
durch ärztliche Mittel, soll auch die religiöse Läuterung von Leidensznständen
der Seele durch Vorführung von Handlungen erreicht werden, die eben diese
Leidenszustände mit unmittelbar wirkender Kraft ausweisen. Es geht hieraus
hervor, daß die aristotelische Begriffsbestimmung der Tragödie keine absolute
Giltigkeit für die Tragödie überhaupt hat, sondern nur für eine auf religiösem
Boden erwachsene, die die Wirkung der religiösen Handlung, des Kultus, mit
verstärkten Mitteln unterstützen will. Und nur von dieser Tragödie spricht
Aristoteles. Die griechische Tragödie erscheint eben noch in den Zwitter¬
zuständen, daß sie, vom Kultus stammend, ihre ursprüngliche Aufgabe noch
erfüllen soll, daß sie sich aber doch schon zu einer selbständigen Kunstgattuug
entwickelt, die ihren eignen Gesetzen und Zielen folgt, unbekümmert um die
ursprüngliche Aufgabe, die ihr innerhalb eines Nahmens zugefallen war, aus
dem herauszutreten sie im Begriffe steht. Die rein ästhetisch gestaltete Tragödie,
die vom Kultus ganz frei geworden ist, hat auch nur noch eine ästhetische
Aufgabe zu erfüllen; dies kann und wird gerade dann geschehen, wenn die
erschütternde tragische Wirkung nicht mehr das Mittel, sondern das Ziel der
Darstellung wird. Damit Hort aber jene durch göttliche Erscheinung hervor¬
gerufene Beruhigung auf; es genügt, wenn der Dichter leise zu der Alltags-
stimmuug hinüberführt. Die gewaltige Erschütterung durch das Miterleben
eines tragischen Geschickes wird gerade hierdurch gemildert dennoch in der
Seele fortzittern. So wird bei der rein ästhetisch gestalteten Tragödie nicht
nur der Konflikt, nicht nur ein einzelnes Geschick, sondern der Schlußverlauf
der Handlung selbst tragisch sein, und die dadurch hervorgerufene Stimmung
wird eben das Ziel des Dichters werden. In der antiken Tragödie bricht
dieses Bestreben schon vielfach durch; in dem Maße, wie sie mehr und mehr
eine reine Kunstschöpfung wird, muß sie diese Richtung annehmen. Sie er¬
scheint schon bei Sophokles, z. B. in der Antigone, sie drängt sich immer cnt-
schiedner bei Euripides hervor, der eben deshalb von Aristoteles als der
tragischste der Dichter bezeichnet wird, der aber auch eben deshalb mit der
heiligen Überlieferung am meisten in Streit kommt, sodaß die Vereinigung der
nach ästhetischen Zielen ringenden Tragödie mit den Kultusüberlieferungen
gerade bei ihm als besonders gewaltsam und willkürlich erscheint. So zeigt
uns die griechische Tragödie in sehr merkwürdiger Weise den Prozeß der Los-
reißung des ästhetisch sich gestaltenden Kunstwerkes von seiner Mutter, der
Knltnshandluug; diese kann noch nicht vergessen werden, jene sich noch nicht


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[0128] Tempel und Theater religiöse Mittel wirkt und erst allmählich zu natürlichen Mitteln übergeht. Bei Anwendung dieses Begriffes mag Aristoteles zugleich an die ärztliche Läuterung gedacht haben, aber nur so, daß er den inzwischen für den medi¬ zinischen Vorgang üblich gewordenen Ausdruck, der Läuterung ,,durch" Furcht und Mitleid von diesen nud ähnlichen Leidensznständen selbst, in erklärender, das Verständnis für den religiösen Vorgang fördernder Weise anwandte; wie durch ärztliche Mittel, soll auch die religiöse Läuterung von Leidensznständen der Seele durch Vorführung von Handlungen erreicht werden, die eben diese Leidenszustände mit unmittelbar wirkender Kraft ausweisen. Es geht hieraus hervor, daß die aristotelische Begriffsbestimmung der Tragödie keine absolute Giltigkeit für die Tragödie überhaupt hat, sondern nur für eine auf religiösem Boden erwachsene, die die Wirkung der religiösen Handlung, des Kultus, mit verstärkten Mitteln unterstützen will. Und nur von dieser Tragödie spricht Aristoteles. Die griechische Tragödie erscheint eben noch in den Zwitter¬ zuständen, daß sie, vom Kultus stammend, ihre ursprüngliche Aufgabe noch erfüllen soll, daß sie sich aber doch schon zu einer selbständigen Kunstgattuug entwickelt, die ihren eignen Gesetzen und Zielen folgt, unbekümmert um die ursprüngliche Aufgabe, die ihr innerhalb eines Nahmens zugefallen war, aus dem herauszutreten sie im Begriffe steht. Die rein ästhetisch gestaltete Tragödie, die vom Kultus ganz frei geworden ist, hat auch nur noch eine ästhetische Aufgabe zu erfüllen; dies kann und wird gerade dann geschehen, wenn die erschütternde tragische Wirkung nicht mehr das Mittel, sondern das Ziel der Darstellung wird. Damit Hort aber jene durch göttliche Erscheinung hervor¬ gerufene Beruhigung auf; es genügt, wenn der Dichter leise zu der Alltags- stimmuug hinüberführt. Die gewaltige Erschütterung durch das Miterleben eines tragischen Geschickes wird gerade hierdurch gemildert dennoch in der Seele fortzittern. So wird bei der rein ästhetisch gestalteten Tragödie nicht nur der Konflikt, nicht nur ein einzelnes Geschick, sondern der Schlußverlauf der Handlung selbst tragisch sein, und die dadurch hervorgerufene Stimmung wird eben das Ziel des Dichters werden. In der antiken Tragödie bricht dieses Bestreben schon vielfach durch; in dem Maße, wie sie mehr und mehr eine reine Kunstschöpfung wird, muß sie diese Richtung annehmen. Sie er¬ scheint schon bei Sophokles, z. B. in der Antigone, sie drängt sich immer cnt- schiedner bei Euripides hervor, der eben deshalb von Aristoteles als der tragischste der Dichter bezeichnet wird, der aber auch eben deshalb mit der heiligen Überlieferung am meisten in Streit kommt, sodaß die Vereinigung der nach ästhetischen Zielen ringenden Tragödie mit den Kultusüberlieferungen gerade bei ihm als besonders gewaltsam und willkürlich erscheint. So zeigt uns die griechische Tragödie in sehr merkwürdiger Weise den Prozeß der Los- reißung des ästhetisch sich gestaltenden Kunstwerkes von seiner Mutter, der Knltnshandluug; diese kann noch nicht vergessen werden, jene sich noch nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/128>, abgerufen am 25.08.2024.