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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Mithandelnden geringeren Ranges, Menschen gewöhnlicheren Schlages, die nicht
die Kraft haben, durch Verfolgung ihres eignen Willens die Welt aus ihren
Angeln zu heben, und die eben darum befähigt sind, den thatsächlich herrschenden
Weltlauf im Gegensatze zu dem Schicksal außergewöhnlicher Menschen darzu¬
stellen; die, die das Maß überschreiten, dürfen nicht der Maßstab für die Welt-
beurteiluug werden. Dieser Gebrauch findet sich in den Tragödien Shakespeares;
gerade dadurch, daß er die Beruhigung durch die Dichtung selbst noch eintreten
läßt, bewährt er sich als echten tragischen Dichter.

Für den griechischen Tragödiendichter ergeben sich somit zwei Möglich¬
keiten des Schlusses: er läßt entweder nach alter frommer Überlieferung die
Gottheit erscheinen und die von ihr gewollte Ordnung wieder herstellen, oder
die Dichtung wird ihrem Charakter und ihrer Anlage gemäß bis zum Schlüsse
folgerichtig durchgeführt, und der Chor stellt das allgemein giltige Empfinden
und Denken wieder her. Es darf daher das Erscheinen des avr8 ex umoliiim
nicht schlechthin als ein dichterisch und künstlerisch verwerfliches Mittel beurteilt
werden. Es ist vielmehr ein aus dem Zusammenhange der Bühne mit dem
Tempel herrührendes, durch die religiöse Ausgabe des Dramas als Kultus¬
festspieles wahlberechtigtes Glied des antiken Theaters. Damit soll natürlich
nicht geleugnet werden, daß er bei der wachsenden Entfernung des Dramas
von seinem religiösen Ursprünge, bei der sich immer steigernden Verselbständigung
der Dichtungsgattung und der demgemäß immer einseitiger und entschiedener
werdenden Verfolgung ästhetischer Ziele vonseiten des Dichters in immer
stärkern Widerspruch zu dem so entstandenen ästhetischen Charakter des Dramas
trat. So erscheint uus der aeus "zx in^olliim bei Euripides nicht mehr so
selbstverständlich wie bei Sophokles oder gar bei Äschylos. Er dient vielmehr
dem Dichter als ein bequemes, durch deu Gang des Dramas keineswegs vor¬
bereitetes und notwendig gewordenes Hilfsmittel, einen nicht anzuzweifelnden
Schluß der Handlung zu gewinnen, was ihm sonst nicht in gleicher Weise
gelänge. Er benutzt ihn willkürlich wie die Götter- und Mythenwelt über¬
haupt; ihm liegen andre Probleme am Herzen, als sich gläubigen Sinnes in
seine Vorwelt zu vertiefen und das in ihrem Schachte geborgene Gold heraus-
zngraben. Um des engen Zusammenhanges mit Tempel und Kultus willen
kann er sich zwar inhaltlich nicht von den überlieferten Gestalten lossagen;
er benutzt sie aber oft mit willkürlicher Umgestaltung ihres ursprünglichen
Charakters zu Trägern seiner persönlichen Anschauungen, denen er unter dieser
Flagge sichern Eingang zu verschaffen hofft. Er vertritt damit auf seinem
Gebiete den Abschnitt in der Kunstentwicklung, wo die alten Überlieferungen
sachlich zwar nicht umgangen werden, aber doch von Künstler und Publikum
in durchaus subjektiver Auffassung sür die gerade vorwaltenden Interessen
benutzt werden können, wie sie auf anderm Gebiete und nach andrer Richtung
hin etwa Piloto Veronese darstellt; wenn Veronese die Hochzeit zu Kana, die


Mithandelnden geringeren Ranges, Menschen gewöhnlicheren Schlages, die nicht
die Kraft haben, durch Verfolgung ihres eignen Willens die Welt aus ihren
Angeln zu heben, und die eben darum befähigt sind, den thatsächlich herrschenden
Weltlauf im Gegensatze zu dem Schicksal außergewöhnlicher Menschen darzu¬
stellen; die, die das Maß überschreiten, dürfen nicht der Maßstab für die Welt-
beurteiluug werden. Dieser Gebrauch findet sich in den Tragödien Shakespeares;
gerade dadurch, daß er die Beruhigung durch die Dichtung selbst noch eintreten
läßt, bewährt er sich als echten tragischen Dichter.

Für den griechischen Tragödiendichter ergeben sich somit zwei Möglich¬
keiten des Schlusses: er läßt entweder nach alter frommer Überlieferung die
Gottheit erscheinen und die von ihr gewollte Ordnung wieder herstellen, oder
die Dichtung wird ihrem Charakter und ihrer Anlage gemäß bis zum Schlüsse
folgerichtig durchgeführt, und der Chor stellt das allgemein giltige Empfinden
und Denken wieder her. Es darf daher das Erscheinen des avr8 ex umoliiim
nicht schlechthin als ein dichterisch und künstlerisch verwerfliches Mittel beurteilt
werden. Es ist vielmehr ein aus dem Zusammenhange der Bühne mit dem
Tempel herrührendes, durch die religiöse Ausgabe des Dramas als Kultus¬
festspieles wahlberechtigtes Glied des antiken Theaters. Damit soll natürlich
nicht geleugnet werden, daß er bei der wachsenden Entfernung des Dramas
von seinem religiösen Ursprünge, bei der sich immer steigernden Verselbständigung
der Dichtungsgattung und der demgemäß immer einseitiger und entschiedener
werdenden Verfolgung ästhetischer Ziele vonseiten des Dichters in immer
stärkern Widerspruch zu dem so entstandenen ästhetischen Charakter des Dramas
trat. So erscheint uus der aeus «zx in^olliim bei Euripides nicht mehr so
selbstverständlich wie bei Sophokles oder gar bei Äschylos. Er dient vielmehr
dem Dichter als ein bequemes, durch deu Gang des Dramas keineswegs vor¬
bereitetes und notwendig gewordenes Hilfsmittel, einen nicht anzuzweifelnden
Schluß der Handlung zu gewinnen, was ihm sonst nicht in gleicher Weise
gelänge. Er benutzt ihn willkürlich wie die Götter- und Mythenwelt über¬
haupt; ihm liegen andre Probleme am Herzen, als sich gläubigen Sinnes in
seine Vorwelt zu vertiefen und das in ihrem Schachte geborgene Gold heraus-
zngraben. Um des engen Zusammenhanges mit Tempel und Kultus willen
kann er sich zwar inhaltlich nicht von den überlieferten Gestalten lossagen;
er benutzt sie aber oft mit willkürlicher Umgestaltung ihres ursprünglichen
Charakters zu Trägern seiner persönlichen Anschauungen, denen er unter dieser
Flagge sichern Eingang zu verschaffen hofft. Er vertritt damit auf seinem
Gebiete den Abschnitt in der Kunstentwicklung, wo die alten Überlieferungen
sachlich zwar nicht umgangen werden, aber doch von Künstler und Publikum
in durchaus subjektiver Auffassung sür die gerade vorwaltenden Interessen
benutzt werden können, wie sie auf anderm Gebiete und nach andrer Richtung
hin etwa Piloto Veronese darstellt; wenn Veronese die Hochzeit zu Kana, die


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[0126] Mithandelnden geringeren Ranges, Menschen gewöhnlicheren Schlages, die nicht die Kraft haben, durch Verfolgung ihres eignen Willens die Welt aus ihren Angeln zu heben, und die eben darum befähigt sind, den thatsächlich herrschenden Weltlauf im Gegensatze zu dem Schicksal außergewöhnlicher Menschen darzu¬ stellen; die, die das Maß überschreiten, dürfen nicht der Maßstab für die Welt- beurteiluug werden. Dieser Gebrauch findet sich in den Tragödien Shakespeares; gerade dadurch, daß er die Beruhigung durch die Dichtung selbst noch eintreten läßt, bewährt er sich als echten tragischen Dichter. Für den griechischen Tragödiendichter ergeben sich somit zwei Möglich¬ keiten des Schlusses: er läßt entweder nach alter frommer Überlieferung die Gottheit erscheinen und die von ihr gewollte Ordnung wieder herstellen, oder die Dichtung wird ihrem Charakter und ihrer Anlage gemäß bis zum Schlüsse folgerichtig durchgeführt, und der Chor stellt das allgemein giltige Empfinden und Denken wieder her. Es darf daher das Erscheinen des avr8 ex umoliiim nicht schlechthin als ein dichterisch und künstlerisch verwerfliches Mittel beurteilt werden. Es ist vielmehr ein aus dem Zusammenhange der Bühne mit dem Tempel herrührendes, durch die religiöse Ausgabe des Dramas als Kultus¬ festspieles wahlberechtigtes Glied des antiken Theaters. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß er bei der wachsenden Entfernung des Dramas von seinem religiösen Ursprünge, bei der sich immer steigernden Verselbständigung der Dichtungsgattung und der demgemäß immer einseitiger und entschiedener werdenden Verfolgung ästhetischer Ziele vonseiten des Dichters in immer stärkern Widerspruch zu dem so entstandenen ästhetischen Charakter des Dramas trat. So erscheint uus der aeus «zx in^olliim bei Euripides nicht mehr so selbstverständlich wie bei Sophokles oder gar bei Äschylos. Er dient vielmehr dem Dichter als ein bequemes, durch deu Gang des Dramas keineswegs vor¬ bereitetes und notwendig gewordenes Hilfsmittel, einen nicht anzuzweifelnden Schluß der Handlung zu gewinnen, was ihm sonst nicht in gleicher Weise gelänge. Er benutzt ihn willkürlich wie die Götter- und Mythenwelt über¬ haupt; ihm liegen andre Probleme am Herzen, als sich gläubigen Sinnes in seine Vorwelt zu vertiefen und das in ihrem Schachte geborgene Gold heraus- zngraben. Um des engen Zusammenhanges mit Tempel und Kultus willen kann er sich zwar inhaltlich nicht von den überlieferten Gestalten lossagen; er benutzt sie aber oft mit willkürlicher Umgestaltung ihres ursprünglichen Charakters zu Trägern seiner persönlichen Anschauungen, denen er unter dieser Flagge sichern Eingang zu verschaffen hofft. Er vertritt damit auf seinem Gebiete den Abschnitt in der Kunstentwicklung, wo die alten Überlieferungen sachlich zwar nicht umgangen werden, aber doch von Künstler und Publikum in durchaus subjektiver Auffassung sür die gerade vorwaltenden Interessen benutzt werden können, wie sie auf anderm Gebiete und nach andrer Richtung hin etwa Piloto Veronese darstellt; wenn Veronese die Hochzeit zu Kana, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/126>, abgerufen am 23.07.2024.