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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Alumneumsorinnerimgen

munter, munter! immer munter, munter, munter!" Dann brannte er, Wenns
nötig war, die Öllampe des Schlafsaals an und trollte sich wieder. Uns fiel
es nicht ein, aufzustehen. Ein oder zwei Minuten vor ein Viertel sprang alles
ans den Betten, strich sich die Haare aus dein Gesicht, schlüpfte in den Schlaf¬
rock und in die Schuhe, und Punkt ein Viertel saß jeder auf seinen: Arbeits¬
platz im "großen Auditorium," wo nun der Präfekt das Morgenlied im
Gesangbuche bezeichnete: 843, Vers 1--3 nud gleich darauf auch anstimmte;
wenn die Verse gesungen warm, stand alles auf, und der Präfekt las noch
ein paar weitere Verse vor. Eigentlich sollte Wohl beim Morgengebet immer
der Kollaborator zugegen sein, für den zu diesem Zweck ein kleines Katheder
dastand und der sei" Wohnzimmer unmittelbar neben dem Arbcitssanl hatte.
Er kam aber ganz unregelmäßig, einmal eine Woche lang jeden Tag, dann
ließ er sich vier Wochen lang gar nicht sehen, wahrscheinlich um uns sicher zu
machen. Plötzlich erschien er dann wieder einmal, und da schlüpften richtig
drei oder vier, deren Ohr der erste Ton des Morgenliedes uoch auf dem .Kissen
getroffen hatte, beim dritten Liedervers verlegen und beschämt in die Bank.

Daß wir uns im Schlafrock -- neun- bis achtzehnjährige Jungen! --,
ungewaschen und ungekämmt zu Gebet und Arbeit einstellten, war eine Lotter¬
wirtschaft, deren Duldung ich heute auch nicht begreifen kaun. Aber sie war
hergebracht und schleppte sich fort, so oft auch der Kollaborator wechselte.
Der wattirte Schlafrock gehörte zur häuslichen Ausstattung jedes Alumuus.
Nicht etwa daß er gefordert gewesen wäre, bewahre; gefordert war nur, wenn
man das Alumneunl bezog, ein Bett -- die Bettstelle mit dem Strohsack fand
man vor --, zwei zinnerne Teller, ein flacher und ein tiefer, und Messer,
Gabel und Löffel. Aber da sie alle den Schlafrock hatten, so quälte jeder
Neue seine Mutter so lange darum, bis er auch einen hatte. Bei den Kleinen
richtete übrigens das ungewohnte Kleidungsstück auf eine eigentümliche Weise
manches Unheil an. Die Schlafrocke waren zu lang, man trat darauf, wenn
mau die Treppe hinaufging und in beiden Händen etwas zu tragen hatte.
Mir ist es mehr als einmal begegnet, daß ich mit zwei vollen Wasserkrügen,
mit denen ich vom Brunnen kam, auf der Treppe stürzte, weil ich auf den
dummen Schlafrock getreten hatte; da lagen beide Krüge in Scherben da, und
das Wasser strömte die Treppe hinunter.

Im großen Auditorium standen vier Tafeln mit je zwei Bänken; an jeder
Tafel saßen acht, so verteilt, daß an der ersten der erste, der fünfte, der nennte,
der dreizehnte u. s. w. saß. Über der Mitte jeder Tafel hing an der niedrigen
Decke eine Öllampe. Könnt' ich einen Begriff von dieser Beleuchtung geben!
Man glaubt es nicht, was für Zustände noch vor einem Menschenalter möglich
gewesen sind! Diese Lampen mochten, wohl fünfzig Jahre alt sein. Sie be¬
standen aus einem ringförmigen Ölbehälter, ans dem ein Schirm lag, alles
grün nugestricheu, der Schirm inwendig weiß (gewesen!), alles von schmierigen


Alumneumsorinnerimgen

munter, munter! immer munter, munter, munter!" Dann brannte er, Wenns
nötig war, die Öllampe des Schlafsaals an und trollte sich wieder. Uns fiel
es nicht ein, aufzustehen. Ein oder zwei Minuten vor ein Viertel sprang alles
ans den Betten, strich sich die Haare aus dein Gesicht, schlüpfte in den Schlaf¬
rock und in die Schuhe, und Punkt ein Viertel saß jeder auf seinen: Arbeits¬
platz im „großen Auditorium," wo nun der Präfekt das Morgenlied im
Gesangbuche bezeichnete: 843, Vers 1—3 nud gleich darauf auch anstimmte;
wenn die Verse gesungen warm, stand alles auf, und der Präfekt las noch
ein paar weitere Verse vor. Eigentlich sollte Wohl beim Morgengebet immer
der Kollaborator zugegen sein, für den zu diesem Zweck ein kleines Katheder
dastand und der sei» Wohnzimmer unmittelbar neben dem Arbcitssanl hatte.
Er kam aber ganz unregelmäßig, einmal eine Woche lang jeden Tag, dann
ließ er sich vier Wochen lang gar nicht sehen, wahrscheinlich um uns sicher zu
machen. Plötzlich erschien er dann wieder einmal, und da schlüpften richtig
drei oder vier, deren Ohr der erste Ton des Morgenliedes uoch auf dem .Kissen
getroffen hatte, beim dritten Liedervers verlegen und beschämt in die Bank.

Daß wir uns im Schlafrock — neun- bis achtzehnjährige Jungen! —,
ungewaschen und ungekämmt zu Gebet und Arbeit einstellten, war eine Lotter¬
wirtschaft, deren Duldung ich heute auch nicht begreifen kaun. Aber sie war
hergebracht und schleppte sich fort, so oft auch der Kollaborator wechselte.
Der wattirte Schlafrock gehörte zur häuslichen Ausstattung jedes Alumuus.
Nicht etwa daß er gefordert gewesen wäre, bewahre; gefordert war nur, wenn
man das Alumneunl bezog, ein Bett — die Bettstelle mit dem Strohsack fand
man vor —, zwei zinnerne Teller, ein flacher und ein tiefer, und Messer,
Gabel und Löffel. Aber da sie alle den Schlafrock hatten, so quälte jeder
Neue seine Mutter so lange darum, bis er auch einen hatte. Bei den Kleinen
richtete übrigens das ungewohnte Kleidungsstück auf eine eigentümliche Weise
manches Unheil an. Die Schlafrocke waren zu lang, man trat darauf, wenn
mau die Treppe hinaufging und in beiden Händen etwas zu tragen hatte.
Mir ist es mehr als einmal begegnet, daß ich mit zwei vollen Wasserkrügen,
mit denen ich vom Brunnen kam, auf der Treppe stürzte, weil ich auf den
dummen Schlafrock getreten hatte; da lagen beide Krüge in Scherben da, und
das Wasser strömte die Treppe hinunter.

Im großen Auditorium standen vier Tafeln mit je zwei Bänken; an jeder
Tafel saßen acht, so verteilt, daß an der ersten der erste, der fünfte, der nennte,
der dreizehnte u. s. w. saß. Über der Mitte jeder Tafel hing an der niedrigen
Decke eine Öllampe. Könnt' ich einen Begriff von dieser Beleuchtung geben!
Man glaubt es nicht, was für Zustände noch vor einem Menschenalter möglich
gewesen sind! Diese Lampen mochten, wohl fünfzig Jahre alt sein. Sie be¬
standen aus einem ringförmigen Ölbehälter, ans dem ein Schirm lag, alles
grün nugestricheu, der Schirm inwendig weiß (gewesen!), alles von schmierigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/99>, abgerufen am 28.09.2024.