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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Natur zu vermenschlichen bestrebt ist. Das ist der Gegensatz zwischen dem
Naturalismus und der Poesie: er haßt, sie kaun nur lieben.

Mit dem Mangel an weltfreudiger Grundstimmung der Dichter unsers
Jahrhunderts bringt Berger auch die geringe Produktion selbst der besten
Dramatiker in Zusammenhang, wenn man sie mit der üppigen Fruchtbarkeit
der alte" Dichter vergleicht. Der moderne Dichter muß sich erst künstlich in
die Stimmung des Dramas hineinarbeiten, während sie dem alten Dichter
Lebenselement war. Dazu kommt noch die Verinnerlichung des modernen
Lebens, die Ausgleichung der Gegensätze, die Zähmung der Leidenschaften,
während das Drama nur in Epochen zu gedeihen Pflegt, die am Wendepunkte
zweier Zeitalter stehen.

Nach alledem wird man nicht überrascht sein, daß Verger sich öfter gegen die
naturwissenschaftliche Methode im Gebiete der Ästhetik ausspricht, auch gegen
die Poetik Scherers Stellung nimmt. Scherer leugnete den Wert und die
Möglichkeit einer gesetzgeberischen Ästhetik, selbst Aristoteles ist ihm zu wenig
Empiriker und zu viel Gesetzgeber. Dein gegenüber weist Berger darauf hin,
daß in der Praxis die gesetzgeberische Ästhetik gar nicht zu entbehren oder zu
vermeiden sei. Jeder Theaterdirektor, der die Wahl zwischen neuen Werken
zu treffen hat, ist ein nichtempirischer, ein idealistischer Ästhetiker; jeder
Dichter ist es mehr oder weniger bewußt, insofern er an seinem Werke herum¬
bessert, bevor er es aus der Hand giebt, und überhaupt fügen nur hinzu, ist
eine Poetik, die die dichterischen Erscheinungen nur aufzählen will, ohne sie
zu beurteilen, ohne sie ihrem verschiednen Werte nach abzuschätzen, eine Un¬
möglichkeit. Es war ein Irrtum Scherers, als er eine Poetik auf rein in¬
duktiven Wege schaffen zu können glaubte. Man muß wissen und nicht bloß
fühlen, was poetisch mehr- oder minderwertig ist, wenn man die Poesie in
allen ihren Gestalten in naturwissenschaftlichem Geiste ordnen will. Scherer
hat in seinem reichgebildeten Sinne dieses Wissen auch schon mitgebracht, aber
der Methode zuliebe eine philosophische Naivität geheuchelt, die mit Recht an¬
gegriffen und verurteilt wurde. Bergers Standpunkt ist der der innern Er¬
fahrung nicht weniger als der der äußern Beobachtung; sei" Wissen gelangt
durch dus, was er aus dem Schatz der eignen philosophischen Begabung da¬
zuthut, erst zur richtigen Bedeutung. Gegenüber dem vorwiegend ans das
biographische und geschichtliche Material gerichteten Interesse der modernen
Litterarhistvriker erscheint der Wert der "Dramaturgischen Vorträge" Bergers
umso größer, weil sie von den äußerlichen Dingen zu dem Wesen der Kunst
führen, der Verflachung entgegentreten und die Dichter tiefer verstehen lehre",
weil sie sich vornehmlich um die Erkenntnis ihrer künstlerischen Absichten be¬
mühen. Die Vortrüge, die sich nicht mit den allgemeinen ästhetischen Fragen
des dramatischen Stils und der Technik, sondern mit der Erklärung einzelner
vielnmstrittenen Stücke von Shakespeare (Hamlet), Grillparzer (Jüdin von


Gvmzbolen 111 1890 ^

Natur zu vermenschlichen bestrebt ist. Das ist der Gegensatz zwischen dem
Naturalismus und der Poesie: er haßt, sie kaun nur lieben.

Mit dem Mangel an weltfreudiger Grundstimmung der Dichter unsers
Jahrhunderts bringt Berger auch die geringe Produktion selbst der besten
Dramatiker in Zusammenhang, wenn man sie mit der üppigen Fruchtbarkeit
der alte» Dichter vergleicht. Der moderne Dichter muß sich erst künstlich in
die Stimmung des Dramas hineinarbeiten, während sie dem alten Dichter
Lebenselement war. Dazu kommt noch die Verinnerlichung des modernen
Lebens, die Ausgleichung der Gegensätze, die Zähmung der Leidenschaften,
während das Drama nur in Epochen zu gedeihen Pflegt, die am Wendepunkte
zweier Zeitalter stehen.

Nach alledem wird man nicht überrascht sein, daß Verger sich öfter gegen die
naturwissenschaftliche Methode im Gebiete der Ästhetik ausspricht, auch gegen
die Poetik Scherers Stellung nimmt. Scherer leugnete den Wert und die
Möglichkeit einer gesetzgeberischen Ästhetik, selbst Aristoteles ist ihm zu wenig
Empiriker und zu viel Gesetzgeber. Dein gegenüber weist Berger darauf hin,
daß in der Praxis die gesetzgeberische Ästhetik gar nicht zu entbehren oder zu
vermeiden sei. Jeder Theaterdirektor, der die Wahl zwischen neuen Werken
zu treffen hat, ist ein nichtempirischer, ein idealistischer Ästhetiker; jeder
Dichter ist es mehr oder weniger bewußt, insofern er an seinem Werke herum¬
bessert, bevor er es aus der Hand giebt, und überhaupt fügen nur hinzu, ist
eine Poetik, die die dichterischen Erscheinungen nur aufzählen will, ohne sie
zu beurteilen, ohne sie ihrem verschiednen Werte nach abzuschätzen, eine Un¬
möglichkeit. Es war ein Irrtum Scherers, als er eine Poetik auf rein in¬
duktiven Wege schaffen zu können glaubte. Man muß wissen und nicht bloß
fühlen, was poetisch mehr- oder minderwertig ist, wenn man die Poesie in
allen ihren Gestalten in naturwissenschaftlichem Geiste ordnen will. Scherer
hat in seinem reichgebildeten Sinne dieses Wissen auch schon mitgebracht, aber
der Methode zuliebe eine philosophische Naivität geheuchelt, die mit Recht an¬
gegriffen und verurteilt wurde. Bergers Standpunkt ist der der innern Er¬
fahrung nicht weniger als der der äußern Beobachtung; sei» Wissen gelangt
durch dus, was er aus dem Schatz der eignen philosophischen Begabung da¬
zuthut, erst zur richtigen Bedeutung. Gegenüber dem vorwiegend ans das
biographische und geschichtliche Material gerichteten Interesse der modernen
Litterarhistvriker erscheint der Wert der „Dramaturgischen Vorträge" Bergers
umso größer, weil sie von den äußerlichen Dingen zu dem Wesen der Kunst
führen, der Verflachung entgegentreten und die Dichter tiefer verstehen lehre»,
weil sie sich vornehmlich um die Erkenntnis ihrer künstlerischen Absichten be¬
mühen. Die Vortrüge, die sich nicht mit den allgemeinen ästhetischen Fragen
des dramatischen Stils und der Technik, sondern mit der Erklärung einzelner
vielnmstrittenen Stücke von Shakespeare (Hamlet), Grillparzer (Jüdin von


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[0089] Natur zu vermenschlichen bestrebt ist. Das ist der Gegensatz zwischen dem Naturalismus und der Poesie: er haßt, sie kaun nur lieben. Mit dem Mangel an weltfreudiger Grundstimmung der Dichter unsers Jahrhunderts bringt Berger auch die geringe Produktion selbst der besten Dramatiker in Zusammenhang, wenn man sie mit der üppigen Fruchtbarkeit der alte» Dichter vergleicht. Der moderne Dichter muß sich erst künstlich in die Stimmung des Dramas hineinarbeiten, während sie dem alten Dichter Lebenselement war. Dazu kommt noch die Verinnerlichung des modernen Lebens, die Ausgleichung der Gegensätze, die Zähmung der Leidenschaften, während das Drama nur in Epochen zu gedeihen Pflegt, die am Wendepunkte zweier Zeitalter stehen. Nach alledem wird man nicht überrascht sein, daß Verger sich öfter gegen die naturwissenschaftliche Methode im Gebiete der Ästhetik ausspricht, auch gegen die Poetik Scherers Stellung nimmt. Scherer leugnete den Wert und die Möglichkeit einer gesetzgeberischen Ästhetik, selbst Aristoteles ist ihm zu wenig Empiriker und zu viel Gesetzgeber. Dein gegenüber weist Berger darauf hin, daß in der Praxis die gesetzgeberische Ästhetik gar nicht zu entbehren oder zu vermeiden sei. Jeder Theaterdirektor, der die Wahl zwischen neuen Werken zu treffen hat, ist ein nichtempirischer, ein idealistischer Ästhetiker; jeder Dichter ist es mehr oder weniger bewußt, insofern er an seinem Werke herum¬ bessert, bevor er es aus der Hand giebt, und überhaupt fügen nur hinzu, ist eine Poetik, die die dichterischen Erscheinungen nur aufzählen will, ohne sie zu beurteilen, ohne sie ihrem verschiednen Werte nach abzuschätzen, eine Un¬ möglichkeit. Es war ein Irrtum Scherers, als er eine Poetik auf rein in¬ duktiven Wege schaffen zu können glaubte. Man muß wissen und nicht bloß fühlen, was poetisch mehr- oder minderwertig ist, wenn man die Poesie in allen ihren Gestalten in naturwissenschaftlichem Geiste ordnen will. Scherer hat in seinem reichgebildeten Sinne dieses Wissen auch schon mitgebracht, aber der Methode zuliebe eine philosophische Naivität geheuchelt, die mit Recht an¬ gegriffen und verurteilt wurde. Bergers Standpunkt ist der der innern Er¬ fahrung nicht weniger als der der äußern Beobachtung; sei» Wissen gelangt durch dus, was er aus dem Schatz der eignen philosophischen Begabung da¬ zuthut, erst zur richtigen Bedeutung. Gegenüber dem vorwiegend ans das biographische und geschichtliche Material gerichteten Interesse der modernen Litterarhistvriker erscheint der Wert der „Dramaturgischen Vorträge" Bergers umso größer, weil sie von den äußerlichen Dingen zu dem Wesen der Kunst führen, der Verflachung entgegentreten und die Dichter tiefer verstehen lehre», weil sie sich vornehmlich um die Erkenntnis ihrer künstlerischen Absichten be¬ mühen. Die Vortrüge, die sich nicht mit den allgemeinen ästhetischen Fragen des dramatischen Stils und der Technik, sondern mit der Erklärung einzelner vielnmstrittenen Stücke von Shakespeare (Hamlet), Grillparzer (Jüdin von Gvmzbolen 111 1890 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/89>, abgerufen am 29.06.2024.