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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Dramaturgische Vorträge

gleichgültig wird; folglich ist hier mich das Maß mit das Gesetz für die Aus¬
stattung der Dramen gegeben. Und noch eine andre wichtige Folgerung ergiebt
sich daraus, nämlich die, daß der Naturalismus unmöglich lmhuenwirkscim
werdeu kauu. Diesem Naturalismus rückt Berger von deu verschiedensten
Seiten zu Leibe, er bekämpft ihn in glänzenden Gefechten.

Der Naturalismus will sich in der Poesie zur Welt und zu den Menschen
gerade so wie die Naturwissenschaft selbst stellen, d. h. er will nicht über die
Dinge vom Standpunkt irgend eines über die Erfahrung hinausgehenden Ideals
urteile", sondern die Wirklichkeit kalt nachahulen, wiederholen: sie ist nicht böse,
sie ist nicht gut, sondern mir: so ist sie! Ganz abgesehen nun von der
Täuschung, die sich der Naturalismus mit dieser Lehre selbst bereitet -- denn
befolgt kann sie gar nicht werden, und die naturalistische Praxis lehrt das
Gegenteil: eine Tendenz haben alle naturalistischen Romane --, ist diese Lehre
auch künstlerisch deswegen wertlos, weil ganz nüchtern auf die Bühne hinge¬
stellte Figuren den Zuschauer auch nüchtern lassen, und wenn die Illusion
ausbleibt, tritt die Langeweile oder das Gelächter ein. Wir müssen für die
Menschen auf der Bühne fühlen, nur unsre Teilnahme macht sie lebendig, wie
überhaupt alles, was in der Welt da ist, nur für den da ist, der ihm ein
Gefühl weiht. Daher auch ein andrer grundsätzlicher Gegensatz zwischen der
echten Kunst und dem Naturalismus, den Berger betont: ohne eine ideale
Weltanschauung oder Grundstimmung religiöser Art ist gar kein hohes Drama
möglich; dem Naturalismus fehlt diese Wurzel, und darum kann er nicht die
Bühne gewinnen. Der moderne Naturalismus ist pessimistisch; aber ein Drama,
das nicht in dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an das Bestehen einer
Gerechtigkeit wurzelt, ist unmöglich, weil unerträglich, von Volkstümlichkeit gar
nicht zu reden. Berger ist weit davon entfernt, diesen Glauben in flacher
Weise zu fordern; er meint nicht, daß der Dichter von Wonne triefen, daß er
sich blind stellen solle gegen das viele unbegreifliche Leid, das besteht; aber
das Welträtsel gläubig zu betrachten hält er für eine notwendige Voraussetzung
des Gedeihens der dramatischen Kunst, und in der Erschütterung dieser gläu¬
bigen Grundstimmung erkennt er einen andern der Gründe, weshalb trotz aller
Anstrengungen die dramatische Kunst uicht gedeihen will. Auch die Frage und
Suche uach Begriff und Wesen der poetischen Gerechtigkeit häugt für ihn mit
dem Mangel an Religion zusammen. So lange der Glaube an ein sittliches
Prinzip bestand, haben die Dichter und Ästhetiker nicht nach der poetischen
Gerechtigkeit gefragt: sie verstand sich von selbst, sie wurde intuitio mit
Sicherheit geübt. Die Sicherheit schwand mit der Herrschaft des Zweifels;
und die Anschauung der Naturwissenschaft, die den Menschen entthront, die
alte und unverwüstliche anthropozentrische Weltbetrachtung bekämpft, den
Menschen als einen allen andern Organismen gleichwertigen Teil der Natur
betrachtet, ist nicht geeignet, die Poesie zu fördern, die ihrem Wesen nach die


Dramaturgische Vorträge

gleichgültig wird; folglich ist hier mich das Maß mit das Gesetz für die Aus¬
stattung der Dramen gegeben. Und noch eine andre wichtige Folgerung ergiebt
sich daraus, nämlich die, daß der Naturalismus unmöglich lmhuenwirkscim
werdeu kauu. Diesem Naturalismus rückt Berger von deu verschiedensten
Seiten zu Leibe, er bekämpft ihn in glänzenden Gefechten.

Der Naturalismus will sich in der Poesie zur Welt und zu den Menschen
gerade so wie die Naturwissenschaft selbst stellen, d. h. er will nicht über die
Dinge vom Standpunkt irgend eines über die Erfahrung hinausgehenden Ideals
urteile», sondern die Wirklichkeit kalt nachahulen, wiederholen: sie ist nicht böse,
sie ist nicht gut, sondern mir: so ist sie! Ganz abgesehen nun von der
Täuschung, die sich der Naturalismus mit dieser Lehre selbst bereitet — denn
befolgt kann sie gar nicht werden, und die naturalistische Praxis lehrt das
Gegenteil: eine Tendenz haben alle naturalistischen Romane —, ist diese Lehre
auch künstlerisch deswegen wertlos, weil ganz nüchtern auf die Bühne hinge¬
stellte Figuren den Zuschauer auch nüchtern lassen, und wenn die Illusion
ausbleibt, tritt die Langeweile oder das Gelächter ein. Wir müssen für die
Menschen auf der Bühne fühlen, nur unsre Teilnahme macht sie lebendig, wie
überhaupt alles, was in der Welt da ist, nur für den da ist, der ihm ein
Gefühl weiht. Daher auch ein andrer grundsätzlicher Gegensatz zwischen der
echten Kunst und dem Naturalismus, den Berger betont: ohne eine ideale
Weltanschauung oder Grundstimmung religiöser Art ist gar kein hohes Drama
möglich; dem Naturalismus fehlt diese Wurzel, und darum kann er nicht die
Bühne gewinnen. Der moderne Naturalismus ist pessimistisch; aber ein Drama,
das nicht in dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an das Bestehen einer
Gerechtigkeit wurzelt, ist unmöglich, weil unerträglich, von Volkstümlichkeit gar
nicht zu reden. Berger ist weit davon entfernt, diesen Glauben in flacher
Weise zu fordern; er meint nicht, daß der Dichter von Wonne triefen, daß er
sich blind stellen solle gegen das viele unbegreifliche Leid, das besteht; aber
das Welträtsel gläubig zu betrachten hält er für eine notwendige Voraussetzung
des Gedeihens der dramatischen Kunst, und in der Erschütterung dieser gläu¬
bigen Grundstimmung erkennt er einen andern der Gründe, weshalb trotz aller
Anstrengungen die dramatische Kunst uicht gedeihen will. Auch die Frage und
Suche uach Begriff und Wesen der poetischen Gerechtigkeit häugt für ihn mit
dem Mangel an Religion zusammen. So lange der Glaube an ein sittliches
Prinzip bestand, haben die Dichter und Ästhetiker nicht nach der poetischen
Gerechtigkeit gefragt: sie verstand sich von selbst, sie wurde intuitio mit
Sicherheit geübt. Die Sicherheit schwand mit der Herrschaft des Zweifels;
und die Anschauung der Naturwissenschaft, die den Menschen entthront, die
alte und unverwüstliche anthropozentrische Weltbetrachtung bekämpft, den
Menschen als einen allen andern Organismen gleichwertigen Teil der Natur
betrachtet, ist nicht geeignet, die Poesie zu fördern, die ihrem Wesen nach die


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[0088] Dramaturgische Vorträge gleichgültig wird; folglich ist hier mich das Maß mit das Gesetz für die Aus¬ stattung der Dramen gegeben. Und noch eine andre wichtige Folgerung ergiebt sich daraus, nämlich die, daß der Naturalismus unmöglich lmhuenwirkscim werdeu kauu. Diesem Naturalismus rückt Berger von deu verschiedensten Seiten zu Leibe, er bekämpft ihn in glänzenden Gefechten. Der Naturalismus will sich in der Poesie zur Welt und zu den Menschen gerade so wie die Naturwissenschaft selbst stellen, d. h. er will nicht über die Dinge vom Standpunkt irgend eines über die Erfahrung hinausgehenden Ideals urteile», sondern die Wirklichkeit kalt nachahulen, wiederholen: sie ist nicht böse, sie ist nicht gut, sondern mir: so ist sie! Ganz abgesehen nun von der Täuschung, die sich der Naturalismus mit dieser Lehre selbst bereitet — denn befolgt kann sie gar nicht werden, und die naturalistische Praxis lehrt das Gegenteil: eine Tendenz haben alle naturalistischen Romane —, ist diese Lehre auch künstlerisch deswegen wertlos, weil ganz nüchtern auf die Bühne hinge¬ stellte Figuren den Zuschauer auch nüchtern lassen, und wenn die Illusion ausbleibt, tritt die Langeweile oder das Gelächter ein. Wir müssen für die Menschen auf der Bühne fühlen, nur unsre Teilnahme macht sie lebendig, wie überhaupt alles, was in der Welt da ist, nur für den da ist, der ihm ein Gefühl weiht. Daher auch ein andrer grundsätzlicher Gegensatz zwischen der echten Kunst und dem Naturalismus, den Berger betont: ohne eine ideale Weltanschauung oder Grundstimmung religiöser Art ist gar kein hohes Drama möglich; dem Naturalismus fehlt diese Wurzel, und darum kann er nicht die Bühne gewinnen. Der moderne Naturalismus ist pessimistisch; aber ein Drama, das nicht in dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an das Bestehen einer Gerechtigkeit wurzelt, ist unmöglich, weil unerträglich, von Volkstümlichkeit gar nicht zu reden. Berger ist weit davon entfernt, diesen Glauben in flacher Weise zu fordern; er meint nicht, daß der Dichter von Wonne triefen, daß er sich blind stellen solle gegen das viele unbegreifliche Leid, das besteht; aber das Welträtsel gläubig zu betrachten hält er für eine notwendige Voraussetzung des Gedeihens der dramatischen Kunst, und in der Erschütterung dieser gläu¬ bigen Grundstimmung erkennt er einen andern der Gründe, weshalb trotz aller Anstrengungen die dramatische Kunst uicht gedeihen will. Auch die Frage und Suche uach Begriff und Wesen der poetischen Gerechtigkeit häugt für ihn mit dem Mangel an Religion zusammen. So lange der Glaube an ein sittliches Prinzip bestand, haben die Dichter und Ästhetiker nicht nach der poetischen Gerechtigkeit gefragt: sie verstand sich von selbst, sie wurde intuitio mit Sicherheit geübt. Die Sicherheit schwand mit der Herrschaft des Zweifels; und die Anschauung der Naturwissenschaft, die den Menschen entthront, die alte und unverwüstliche anthropozentrische Weltbetrachtung bekämpft, den Menschen als einen allen andern Organismen gleichwertigen Teil der Natur betrachtet, ist nicht geeignet, die Poesie zu fördern, die ihrem Wesen nach die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/88>, abgerufen am 29.06.2024.