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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Dramaturgische Vorträge

In dem stetigen Rückgang dieser unmittelbaren Art zu fühlen und zu
urteilen, der eine Folge der fortschreitenden Zivilisation, der Ausbildung der
Verstandesurteile ist, findet Verger eine der Ursachen des Verfalls der drama¬
tischen Litteratur: Dichter und Publikum leiden an diesem Mangel. Er wird
aber noch schlimmer dadurch, daß eine krankhafte Neigung zur Selbstbeobach¬
tung verheerend wie der Borkenkäfer im Fichtenwalde um sich greift. In der
modernen Romanlitteratur füllen sich die Druckbogen mit langen und lang¬
weiligen Zergliederungen seelischer Zustände; der Erzähler berichtet nicht mehr,
sondern er annlysirt; er stellt nicht dar, sondern er beschreibt seine Charaktere.
Da aber unsre begabtesten Dichter sehr selten oder nie in unmittelbaren Ver¬
kehr mit den Schauspielern treten, im Gegensatz zu Shakespeare, der gleichsam
am Negiepulte dichtete, fern von der Bühne in der Einsamkeit der Studirstube
schaffen, so steheu sie in demselben Bann wie die Erzähler. Dies ist für die
dramatische Produktion ein großer Schade, denn ans der Bühne ist die psycho¬
logische Analyse gänzlich wirkungslos. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob
der Dichter ein fremdes Ich aus der innern Beobachtung des sich selbst teilenden
Ich darstellt, indem er sich in eine fremde Seele innerlich versetzt und von hier
aus spricht, oder ob er das fremde Ich aus dessen sinnlich wahrnehmbaren
Äußerungen, als da sind: Melodie der Sprache, Gesichtsausdruck, Körper¬
bewegung, unbewußt das Innere verratende Rede u. tgi. in., zur Anschauung
bringt. Nur diese mittelbare Dnrstellnugsweise ist dramatisch wirksam. Ja
sie ist für das Drama fo wichtig, daß Berger von vornherein die dramatische
Kunst für zusammengesetzt ans drei Künsten erklärt, die in den Persönlichkeiten,
die sie ausüben, freilich getrennt sind. Das Buch des Dichters ist nämlich
noch lange nicht das dramatische Kunstwerk, wenn es auch sein wichtigster Teil
ist; es müssen noch die durchaus kvugeuialen Künste des Schauspielers und
des Regisseurs, der zu den bildenden Künstlern gehört, hinzutreten, um das
Drama zum Drama zu macheu. Gegen die Unterschätzung der Schauspielkunst
wendet sich Berger mit großem Nachdruck, und wie wichtig die Kunst des
Jnszenireus geworden ist gerade in unsrer Zeit, die sich den Meuschen nicht
getrennt von seiner Umgebung vorstellen kann, ja in ihrer Einseitigkeit fo weit
geht, den Menschen nnr allzu klein im Verhältnis zur Natur zu betrachten,
weist Berger einsichtig nach.

Also zum schauenden Gefühl spricht die Bühne; alle Forderungen ans
dramatische Kunstwerk lassen sich von dieser einzigen Erkenntnis ableiten.
Gefühl erzengen ist schließlich sowohl Mittel als Zweck der dramatischen Kunst.
Es ist ein Mittel insofern, als die dramatische Illusion durch gar nichts andres
so wirksam hervorgerufen wird, als dadurch, daß unser Gefühl für das, was
auf der Bühne vorgeht, erregt wird. Wir glauben erst dann an die Menschen
da oben, wenn wir mit oder für oder auch gegen sie zu fühlen begonnen haben,
und dann ist diese Täuschung so mächtig, daß die Ausstattung des Stückes


Dramaturgische Vorträge

In dem stetigen Rückgang dieser unmittelbaren Art zu fühlen und zu
urteilen, der eine Folge der fortschreitenden Zivilisation, der Ausbildung der
Verstandesurteile ist, findet Verger eine der Ursachen des Verfalls der drama¬
tischen Litteratur: Dichter und Publikum leiden an diesem Mangel. Er wird
aber noch schlimmer dadurch, daß eine krankhafte Neigung zur Selbstbeobach¬
tung verheerend wie der Borkenkäfer im Fichtenwalde um sich greift. In der
modernen Romanlitteratur füllen sich die Druckbogen mit langen und lang¬
weiligen Zergliederungen seelischer Zustände; der Erzähler berichtet nicht mehr,
sondern er annlysirt; er stellt nicht dar, sondern er beschreibt seine Charaktere.
Da aber unsre begabtesten Dichter sehr selten oder nie in unmittelbaren Ver¬
kehr mit den Schauspielern treten, im Gegensatz zu Shakespeare, der gleichsam
am Negiepulte dichtete, fern von der Bühne in der Einsamkeit der Studirstube
schaffen, so steheu sie in demselben Bann wie die Erzähler. Dies ist für die
dramatische Produktion ein großer Schade, denn ans der Bühne ist die psycho¬
logische Analyse gänzlich wirkungslos. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob
der Dichter ein fremdes Ich aus der innern Beobachtung des sich selbst teilenden
Ich darstellt, indem er sich in eine fremde Seele innerlich versetzt und von hier
aus spricht, oder ob er das fremde Ich aus dessen sinnlich wahrnehmbaren
Äußerungen, als da sind: Melodie der Sprache, Gesichtsausdruck, Körper¬
bewegung, unbewußt das Innere verratende Rede u. tgi. in., zur Anschauung
bringt. Nur diese mittelbare Dnrstellnugsweise ist dramatisch wirksam. Ja
sie ist für das Drama fo wichtig, daß Berger von vornherein die dramatische
Kunst für zusammengesetzt ans drei Künsten erklärt, die in den Persönlichkeiten,
die sie ausüben, freilich getrennt sind. Das Buch des Dichters ist nämlich
noch lange nicht das dramatische Kunstwerk, wenn es auch sein wichtigster Teil
ist; es müssen noch die durchaus kvugeuialen Künste des Schauspielers und
des Regisseurs, der zu den bildenden Künstlern gehört, hinzutreten, um das
Drama zum Drama zu macheu. Gegen die Unterschätzung der Schauspielkunst
wendet sich Berger mit großem Nachdruck, und wie wichtig die Kunst des
Jnszenireus geworden ist gerade in unsrer Zeit, die sich den Meuschen nicht
getrennt von seiner Umgebung vorstellen kann, ja in ihrer Einseitigkeit fo weit
geht, den Menschen nnr allzu klein im Verhältnis zur Natur zu betrachten,
weist Berger einsichtig nach.

Also zum schauenden Gefühl spricht die Bühne; alle Forderungen ans
dramatische Kunstwerk lassen sich von dieser einzigen Erkenntnis ableiten.
Gefühl erzengen ist schließlich sowohl Mittel als Zweck der dramatischen Kunst.
Es ist ein Mittel insofern, als die dramatische Illusion durch gar nichts andres
so wirksam hervorgerufen wird, als dadurch, daß unser Gefühl für das, was
auf der Bühne vorgeht, erregt wird. Wir glauben erst dann an die Menschen
da oben, wenn wir mit oder für oder auch gegen sie zu fühlen begonnen haben,
und dann ist diese Täuschung so mächtig, daß die Ausstattung des Stückes


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[0087] Dramaturgische Vorträge In dem stetigen Rückgang dieser unmittelbaren Art zu fühlen und zu urteilen, der eine Folge der fortschreitenden Zivilisation, der Ausbildung der Verstandesurteile ist, findet Verger eine der Ursachen des Verfalls der drama¬ tischen Litteratur: Dichter und Publikum leiden an diesem Mangel. Er wird aber noch schlimmer dadurch, daß eine krankhafte Neigung zur Selbstbeobach¬ tung verheerend wie der Borkenkäfer im Fichtenwalde um sich greift. In der modernen Romanlitteratur füllen sich die Druckbogen mit langen und lang¬ weiligen Zergliederungen seelischer Zustände; der Erzähler berichtet nicht mehr, sondern er annlysirt; er stellt nicht dar, sondern er beschreibt seine Charaktere. Da aber unsre begabtesten Dichter sehr selten oder nie in unmittelbaren Ver¬ kehr mit den Schauspielern treten, im Gegensatz zu Shakespeare, der gleichsam am Negiepulte dichtete, fern von der Bühne in der Einsamkeit der Studirstube schaffen, so steheu sie in demselben Bann wie die Erzähler. Dies ist für die dramatische Produktion ein großer Schade, denn ans der Bühne ist die psycho¬ logische Analyse gänzlich wirkungslos. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob der Dichter ein fremdes Ich aus der innern Beobachtung des sich selbst teilenden Ich darstellt, indem er sich in eine fremde Seele innerlich versetzt und von hier aus spricht, oder ob er das fremde Ich aus dessen sinnlich wahrnehmbaren Äußerungen, als da sind: Melodie der Sprache, Gesichtsausdruck, Körper¬ bewegung, unbewußt das Innere verratende Rede u. tgi. in., zur Anschauung bringt. Nur diese mittelbare Dnrstellnugsweise ist dramatisch wirksam. Ja sie ist für das Drama fo wichtig, daß Berger von vornherein die dramatische Kunst für zusammengesetzt ans drei Künsten erklärt, die in den Persönlichkeiten, die sie ausüben, freilich getrennt sind. Das Buch des Dichters ist nämlich noch lange nicht das dramatische Kunstwerk, wenn es auch sein wichtigster Teil ist; es müssen noch die durchaus kvugeuialen Künste des Schauspielers und des Regisseurs, der zu den bildenden Künstlern gehört, hinzutreten, um das Drama zum Drama zu macheu. Gegen die Unterschätzung der Schauspielkunst wendet sich Berger mit großem Nachdruck, und wie wichtig die Kunst des Jnszenireus geworden ist gerade in unsrer Zeit, die sich den Meuschen nicht getrennt von seiner Umgebung vorstellen kann, ja in ihrer Einseitigkeit fo weit geht, den Menschen nnr allzu klein im Verhältnis zur Natur zu betrachten, weist Berger einsichtig nach. Also zum schauenden Gefühl spricht die Bühne; alle Forderungen ans dramatische Kunstwerk lassen sich von dieser einzigen Erkenntnis ableiten. Gefühl erzengen ist schließlich sowohl Mittel als Zweck der dramatischen Kunst. Es ist ein Mittel insofern, als die dramatische Illusion durch gar nichts andres so wirksam hervorgerufen wird, als dadurch, daß unser Gefühl für das, was auf der Bühne vorgeht, erregt wird. Wir glauben erst dann an die Menschen da oben, wenn wir mit oder für oder auch gegen sie zu fühlen begonnen haben, und dann ist diese Täuschung so mächtig, daß die Ausstattung des Stückes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/87>, abgerufen am 29.06.2024.