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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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angewiesenen Denker leicht entgehen. Freilich kommt noch seine Kunst in der
Deutung, Erklärung und Zergliederung ästhetischer Gefühle hinzu, seine Fähig¬
keit, den Dichter" nachzuempfinden, anzudichten, ferner seine Gabe, so zarte Dinge,
wie es die dichterische Schöpfung und der ästhetische Genuß sind, in drastischer
Klarheit darzustellen, um sein Buch zu dem lebensvollen Werke zu machen,
das es geworden ist. Denn, die Wahrheit zu sagen: Nur zählen es zu den
schönsten, gedankenreichsten und anregendsten Schriften, die seit langer Zeit auf
dem Gebiete der Ästhetik erschiene" sind. Es bietet eine Fülle von tiefen Be¬
merkungen über die Kunst im allgemeinen und über bestimmte Dichter im
einzelnen.

Alfred v. Berger gehört zu den Denkern, die mich im wissenschaftlichen
Leben den Wert des Gefühls über den der Reflexion stellen. Man hat, sagt
er, die Wahrheit aller Dinge bezweifelt, die wir wahrnehmen, der Phänomena-
lismns ist die herrschende Philosophie; allein so weit mich die Zweifelsucht
ging, so hat sie doch beim Gefühl von den Dingen Halt machen müssen: das
Gefühl ist uns der letzte und allersicherste Beweis für die Existenz der Dinge.
Die wichtigste Rolle aber spielt das Fühlen in der Kunst. Was man nicht
fühlt, das besteht auch dichterisch nicht für uns. Aus dem Gefühl und nicht
aus dem Verstände muß der Dramatiker schassen. Das macht den Unterschied
z. V. zwischen Hebbel und Shakespeare. Hebbel besaß von jeder seiner Ge¬
stalten ein staunenswertes psychologisches Wissen; er hatte aber nicht jenes
fühlende Gesicht, jenes intuitive Gefühl für sie, das Shakespeare eigen war,
der gewiß nicht so tiefsinnig wie Hebbel seine eignen Geschöpfe hätte zergliedern
können. In der dramatischen Kunst ist aber dieses intuitive Gefühl einzig
maßgebend. Der Dichter bedarf seiner, um seine Handlung wahrhaft bühnen¬
fähig zu gestalte", der Schauspieler bedarf seiner, um die Charaktere des Dichters
darstellen zu können, und nur das naive Publikum, das die Vorgänge aus der
Bühne nicht blasirt zergliedert, sondern mit unmittelbarer Teilnahme verfolgen
kann, ist das richtige; zum Schaden der Kunst ist es leider jetzt selten ge¬
worden. Mit einem einfachen Gleichnis erklärt Berger diesen Begriff. "Ich
erinnere Sie, um Ihnen ganz klar zu machen, was ich meine, an das Ver¬
hältnis, in dein Sie zu den Charakteren Ihrer Freunde und Verwandten stehen.
Sie wissen oft voraus, was z. V. Ihr Onkel oder Ihre Tante in einem bestimmten
Falle thun oder sagen wird. Folgern Sie Ihr prophetisches Wissen etwa aus
einer von Ihnen gewußten Psychologie Ihres Herrn Onkels oder Ihrer Fran
Tante? Sie haben etwas wie eine intuitive Anschauung des innern Wesens
dieser Respektspersonen, und aus dieser Intuition heraus sagen Sie: das wird
er sagen und das wird er thun . . . Dieses Gefühl Ihnen in Bezug auf die
in ein Drama verflochtenen Personen so zu geben, wie Sie es hinsichtlich
Ihrer Freunde und Verwandten besitzen, ist eines der Ziele des dramatischen
Darstellers."


angewiesenen Denker leicht entgehen. Freilich kommt noch seine Kunst in der
Deutung, Erklärung und Zergliederung ästhetischer Gefühle hinzu, seine Fähig¬
keit, den Dichter» nachzuempfinden, anzudichten, ferner seine Gabe, so zarte Dinge,
wie es die dichterische Schöpfung und der ästhetische Genuß sind, in drastischer
Klarheit darzustellen, um sein Buch zu dem lebensvollen Werke zu machen,
das es geworden ist. Denn, die Wahrheit zu sagen: Nur zählen es zu den
schönsten, gedankenreichsten und anregendsten Schriften, die seit langer Zeit auf
dem Gebiete der Ästhetik erschiene» sind. Es bietet eine Fülle von tiefen Be¬
merkungen über die Kunst im allgemeinen und über bestimmte Dichter im
einzelnen.

Alfred v. Berger gehört zu den Denkern, die mich im wissenschaftlichen
Leben den Wert des Gefühls über den der Reflexion stellen. Man hat, sagt
er, die Wahrheit aller Dinge bezweifelt, die wir wahrnehmen, der Phänomena-
lismns ist die herrschende Philosophie; allein so weit mich die Zweifelsucht
ging, so hat sie doch beim Gefühl von den Dingen Halt machen müssen: das
Gefühl ist uns der letzte und allersicherste Beweis für die Existenz der Dinge.
Die wichtigste Rolle aber spielt das Fühlen in der Kunst. Was man nicht
fühlt, das besteht auch dichterisch nicht für uns. Aus dem Gefühl und nicht
aus dem Verstände muß der Dramatiker schassen. Das macht den Unterschied
z. V. zwischen Hebbel und Shakespeare. Hebbel besaß von jeder seiner Ge¬
stalten ein staunenswertes psychologisches Wissen; er hatte aber nicht jenes
fühlende Gesicht, jenes intuitive Gefühl für sie, das Shakespeare eigen war,
der gewiß nicht so tiefsinnig wie Hebbel seine eignen Geschöpfe hätte zergliedern
können. In der dramatischen Kunst ist aber dieses intuitive Gefühl einzig
maßgebend. Der Dichter bedarf seiner, um seine Handlung wahrhaft bühnen¬
fähig zu gestalte», der Schauspieler bedarf seiner, um die Charaktere des Dichters
darstellen zu können, und nur das naive Publikum, das die Vorgänge aus der
Bühne nicht blasirt zergliedert, sondern mit unmittelbarer Teilnahme verfolgen
kann, ist das richtige; zum Schaden der Kunst ist es leider jetzt selten ge¬
worden. Mit einem einfachen Gleichnis erklärt Berger diesen Begriff. „Ich
erinnere Sie, um Ihnen ganz klar zu machen, was ich meine, an das Ver¬
hältnis, in dein Sie zu den Charakteren Ihrer Freunde und Verwandten stehen.
Sie wissen oft voraus, was z. V. Ihr Onkel oder Ihre Tante in einem bestimmten
Falle thun oder sagen wird. Folgern Sie Ihr prophetisches Wissen etwa aus
einer von Ihnen gewußten Psychologie Ihres Herrn Onkels oder Ihrer Fran
Tante? Sie haben etwas wie eine intuitive Anschauung des innern Wesens
dieser Respektspersonen, und aus dieser Intuition heraus sagen Sie: das wird
er sagen und das wird er thun . . . Dieses Gefühl Ihnen in Bezug auf die
in ein Drama verflochtenen Personen so zu geben, wie Sie es hinsichtlich
Ihrer Freunde und Verwandten besitzen, ist eines der Ziele des dramatischen
Darstellers."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/86>, abgerufen am 28.09.2024.