kann, zustande kommen dürfte. Dabei ist es völlig gleichartig, daß unsre Kunstwerte ja thatsächlich gar keine vollständige Nachbildung der Wirklichkeit sind. Denn auch wenn dies der Fall wäre, würde das nicht zu beseitigende Bewußtsein, es nur mit einem Schein statt mit einem Sein zu thun zu habe", in der geschilderten Weise ändernd auf alle Gefühle einwirken.
Hiermit ist aber die von mir aufgeworfene Frage erledigt: das Kunstwerk kann ans keinen Fall genau denselben Eindruck, genau dieselbe Gesamtwirkung hervorrufen, wie die Wirklichkeit, und umgekehrt. Man mag der angestrebten ,.exakten" Nachbildung der Natur einen Wert und Zweck beilegen, welchen man will, sie kauu allenfalls dieselben Vorstellungsmassen, aber unter keinen Umständen dieselbe" Gefühlsreihe" erzengen. Erkennt ma" aber die erregte" Gefühle als das Wesentlichste bei der ästhetische" Wirkung an, so wird man sage" könne": das Ä'unstschöne und das Naturschöne beruhe" auf völlig ver- schiedne" Gesetze".
(Lin Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren 2
le nächste Poststelle, von der ans Briefe und Zeitungen wöchentlich einmal in die stillen Dörfer unsers abgelegenen Erdenwinkels gebracht wurden, lng vier Stunden entfernt. Da klopfte eines Abends ein Murr ans dem Orte um die Thüre und sagte atemlos: Herr Lehrer, es liegt ein Brief für Sie auf der Post; er ist von Darm¬ stadt,, hat ein Regiernngssiegel und kostet Geld. Gewiß ist es ein Dekret. Geben Sie Acht, Sie kommen fort! Ach, wie thut mir das leid! -- hier flössen ihm die Thränen die Wangen herunter -- wir hatten Sie so gern! Was werden wir denn jetzt für einen kriegen?
War das nur eine Aufregung! Die Schule aussetzen und den Brief persönlich holen durfte und wollte der Schulmeister nicht i er mußte warten, bis der Briefbote kam. Endlich war er da. Der Brief wurde bezahlt, das Siegel aufgerissen, der Inhalt gelesen. Da stand es schwarz ans weiß, daß der Vikar von Z. binnen vier Wochen die Lehrer- und Organistenstelle in Freisthdvne, zwei Stunden entfernt, anzutreten habe. Zugleich wurde ihm eröffnet, daß er Aussicht habe, sobald die Pension des zur Ruhe gesetzten Borgängers geregelt sei, die Stelle endgiltig zu erhalten.
Das war eine Freudenbotschaft. Freisthdvne war Pfarrdorf. Es war früher der Sitz eines freiherrlichen Justiz- und Verwaltnngsamtes gewesen; seine Schul¬ stelle war für jene Zeit "sehr gut." Sie trug noch der Besvldnngsnoie 450 Gulden ein, eine ganz respektable Summe.
Unser Schulmeister machte sich also zunächst nach der Kreisstadt auf, um sich zu bedanken und das Nähere zu hören. Der Dekan, ein gescheiter, im Schulwesen wohl bewanderter Mann, teilte ihm mit, daß man ihn nach Freischdoue schicke,
kann, zustande kommen dürfte. Dabei ist es völlig gleichartig, daß unsre Kunstwerte ja thatsächlich gar keine vollständige Nachbildung der Wirklichkeit sind. Denn auch wenn dies der Fall wäre, würde das nicht zu beseitigende Bewußtsein, es nur mit einem Schein statt mit einem Sein zu thun zu habe», in der geschilderten Weise ändernd auf alle Gefühle einwirken.
Hiermit ist aber die von mir aufgeworfene Frage erledigt: das Kunstwerk kann ans keinen Fall genau denselben Eindruck, genau dieselbe Gesamtwirkung hervorrufen, wie die Wirklichkeit, und umgekehrt. Man mag der angestrebten ,.exakten" Nachbildung der Natur einen Wert und Zweck beilegen, welchen man will, sie kauu allenfalls dieselben Vorstellungsmassen, aber unter keinen Umständen dieselbe» Gefühlsreihe» erzengen. Erkennt ma» aber die erregte» Gefühle als das Wesentlichste bei der ästhetische» Wirkung an, so wird man sage» könne»: das Ä'unstschöne und das Naturschöne beruhe» auf völlig ver- schiedne» Gesetze».
(Lin Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren 2
le nächste Poststelle, von der ans Briefe und Zeitungen wöchentlich einmal in die stillen Dörfer unsers abgelegenen Erdenwinkels gebracht wurden, lng vier Stunden entfernt. Da klopfte eines Abends ein Murr ans dem Orte um die Thüre und sagte atemlos: Herr Lehrer, es liegt ein Brief für Sie auf der Post; er ist von Darm¬ stadt,, hat ein Regiernngssiegel und kostet Geld. Gewiß ist es ein Dekret. Geben Sie Acht, Sie kommen fort! Ach, wie thut mir das leid! — hier flössen ihm die Thränen die Wangen herunter — wir hatten Sie so gern! Was werden wir denn jetzt für einen kriegen?
War das nur eine Aufregung! Die Schule aussetzen und den Brief persönlich holen durfte und wollte der Schulmeister nicht i er mußte warten, bis der Briefbote kam. Endlich war er da. Der Brief wurde bezahlt, das Siegel aufgerissen, der Inhalt gelesen. Da stand es schwarz ans weiß, daß der Vikar von Z. binnen vier Wochen die Lehrer- und Organistenstelle in Freisthdvne, zwei Stunden entfernt, anzutreten habe. Zugleich wurde ihm eröffnet, daß er Aussicht habe, sobald die Pension des zur Ruhe gesetzten Borgängers geregelt sei, die Stelle endgiltig zu erhalten.
Das war eine Freudenbotschaft. Freisthdvne war Pfarrdorf. Es war früher der Sitz eines freiherrlichen Justiz- und Verwaltnngsamtes gewesen; seine Schul¬ stelle war für jene Zeit „sehr gut." Sie trug noch der Besvldnngsnoie 450 Gulden ein, eine ganz respektable Summe.
Unser Schulmeister machte sich also zunächst nach der Kreisstadt auf, um sich zu bedanken und das Nähere zu hören. Der Dekan, ein gescheiter, im Schulwesen wohl bewanderter Mann, teilte ihm mit, daß man ihn nach Freischdoue schicke,
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Kunstwerte ja thatsächlich gar keine vollständige Nachbildung der Wirklichkeit
sind. Denn auch wenn dies der Fall wäre, würde das nicht zu beseitigende
Bewußtsein, es nur mit einem Schein statt mit einem Sein zu thun zu habe»,
in der geschilderten Weise ändernd auf alle Gefühle einwirken.
Hiermit ist aber die von mir aufgeworfene Frage erledigt: das Kunstwerk
kann ans keinen Fall genau denselben Eindruck, genau dieselbe Gesamtwirkung
hervorrufen, wie die Wirklichkeit, und umgekehrt. Man mag der angestrebten
,.exakten" Nachbildung der Natur einen Wert und Zweck beilegen, welchen
man will, sie kauu allenfalls dieselben Vorstellungsmassen, aber unter keinen
Umständen dieselbe» Gefühlsreihe» erzengen. Erkennt ma» aber die erregte»
Gefühle als das Wesentlichste bei der ästhetische» Wirkung an, so wird man
sage» könne»: das Ä'unstschöne und das Naturschöne beruhe» auf völlig ver-
schiedne» Gesetze».
(Lin Vogelsberger Schulmeister vor fünfzig Jahren
2
le nächste Poststelle, von der ans Briefe und Zeitungen wöchentlich
einmal in die stillen Dörfer unsers abgelegenen Erdenwinkels gebracht
wurden, lng vier Stunden entfernt. Da klopfte eines Abends ein
Murr ans dem Orte um die Thüre und sagte atemlos: Herr
Lehrer, es liegt ein Brief für Sie auf der Post; er ist von Darm¬
stadt,, hat ein Regiernngssiegel und kostet Geld. Gewiß ist es ein
Dekret. Geben Sie Acht, Sie kommen fort! Ach, wie thut mir das leid! — hier
flössen ihm die Thränen die Wangen herunter — wir hatten Sie so gern! Was
werden wir denn jetzt für einen kriegen?
War das nur eine Aufregung! Die Schule aussetzen und den Brief persönlich
holen durfte und wollte der Schulmeister nicht i er mußte warten, bis der Briefbote
kam. Endlich war er da. Der Brief wurde bezahlt, das Siegel aufgerissen, der Inhalt
gelesen. Da stand es schwarz ans weiß, daß der Vikar von Z. binnen vier Wochen
die Lehrer- und Organistenstelle in Freisthdvne, zwei Stunden entfernt, anzutreten
habe. Zugleich wurde ihm eröffnet, daß er Aussicht habe, sobald die Pension
des zur Ruhe gesetzten Borgängers geregelt sei, die Stelle endgiltig zu erhalten.
Das war eine Freudenbotschaft. Freisthdvne war Pfarrdorf. Es war früher
der Sitz eines freiherrlichen Justiz- und Verwaltnngsamtes gewesen; seine Schul¬
stelle war für jene Zeit „sehr gut." Sie trug noch der Besvldnngsnoie 450 Gulden
ein, eine ganz respektable Summe.
Unser Schulmeister machte sich also zunächst nach der Kreisstadt auf, um sich
zu bedanken und das Nähere zu hören. Der Dekan, ein gescheiter, im Schulwesen
wohl bewanderter Mann, teilte ihm mit, daß man ihn nach Freischdoue schicke,
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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/623>, abgerufen am 22.01.2025.
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