Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Eindruck von Runst und Wirklichkeit

nur noch die Frage, ob, abgesehen von diesem Mehr, im übrigen die Gefühle
dieselben seien? Auch diese letzte Frage stehe ich nicht an mit einem unbe¬
dingten Nein zu beantworten.

Zwar ist nicht abzusehen, warum die rein sinnlich ästhetischen Empfin¬
dungen, wie sie etwa an harmonischen Farbenzusammenstellungen haften, in
Kunst und Natur verschieden sein sollten. Vergleicht man aber die moralischen
und die intellektuellen Gefühle, wie sie beim Betrachten des Kunstwerkes auf¬
treten, mit denen, die wir in Wirklichkeit empfinden, so springt der Unterschied
sofort in die Augen: die letztern sind bei weitem stärker. Dabei betone ich
ausdrücklich, daß wir uns auch in der Wirklichkeit nur als Zuschauer und
nicht als Beteiligte oder durch persönliche Neigung und Abneigung beeinflußt
voraussetzen. Welch ein Unterschied, ob wir einem wirklichen Morde bei¬
wohnen oder ob wir auf der Bühne die Desdemona ermorden sehen! ob wir
ein wirkliches Schiff scheitern sehen oder ein Bild dieses Vorganges betrachten!
Auch wenn wir genau dieselbe,, Vorstellungen voraussetzen, wie sie uns ein
natürlicher Gegenstand oder Vorgang bietet, daß bloße Bewußtsein, es nur
mit Scheindingen und Scheinereiguisfen zu thun zu haben, wirkt abschwächend,
also ändernd auf alle erregten Gefühle ein.

Eduard von Hartmann vertritt in seiner "Philosophie des Schönen" die
Meinung, daß die durch die Kunst erzeugte,, Gefühle auch "qualitativ" gänzlich
von den durch die Wirklichkeit erzeugten verschieden seien. Er sondert von
den "realen" Gefühlen die lediglich bei dein ästhetischen Verhalten auftretende"
diesen reale" Gefühlen entsprechenden "Scheingefühle." Es ist hier nicht der
Ort, über diese Auffassungsweise zu rechten. Ich glaube, es ist richtiger, statt
von einem qualitativen Unterschiede von einem Unterschiede des Grades zu
reden, zumal da dieser Unterschied jeweilig verschieden, hier sehr beträchtlich
sein, dort ganz verschwinden kann.

Es wäre ein Irrtum, wollte um, ans der Ttatsache der geringern Starke
der durch das Kunstschöne vermittelten Gefühle einen Nachteil für dieses in,
Vergleich zum Naturschönen ableiten. Ich erinnere hier an das, was ich oben
über stark unlustvolle Sinnesempfindungen (Leichengeruch, Getöse in einem
Eisenwerk) gesagt habe. Es giebt Gefühle, die so mächtig sind, daß sie unser
ganzes Bewußtsein ausfülle,, und alle andern Geinütserregungen unterdrücken.
Treten nun diese Gefühle beim Kunstwerk in abgeschwächter Form auf, so
können dafür andre Gefühle, die in Wirklichkeit unter der Schwelle des Bewußt¬
seins bleiben würden, auftauchen, der Ablauf einer Reihe verschiedner Gefühle wird
überhaupt erst ermöglicht und damit die Bedingung für eine ästhetische Wir¬
kung geschaffen. Wer von einem Schlachtengemälde einen ästhetischen Ein¬
druck empfangen will, muß fähig sein, einen Anklang an jene Aufregung durch-
zuempfinden, die eine Schlacht mit sich bringt. Aber in Wirklichkeit ist jene
Aufregung so gewaltig, daß ein ruhiges Beobachten und ästhetisches Genießen


Der Eindruck von Runst und Wirklichkeit

nur noch die Frage, ob, abgesehen von diesem Mehr, im übrigen die Gefühle
dieselben seien? Auch diese letzte Frage stehe ich nicht an mit einem unbe¬
dingten Nein zu beantworten.

Zwar ist nicht abzusehen, warum die rein sinnlich ästhetischen Empfin¬
dungen, wie sie etwa an harmonischen Farbenzusammenstellungen haften, in
Kunst und Natur verschieden sein sollten. Vergleicht man aber die moralischen
und die intellektuellen Gefühle, wie sie beim Betrachten des Kunstwerkes auf¬
treten, mit denen, die wir in Wirklichkeit empfinden, so springt der Unterschied
sofort in die Augen: die letztern sind bei weitem stärker. Dabei betone ich
ausdrücklich, daß wir uns auch in der Wirklichkeit nur als Zuschauer und
nicht als Beteiligte oder durch persönliche Neigung und Abneigung beeinflußt
voraussetzen. Welch ein Unterschied, ob wir einem wirklichen Morde bei¬
wohnen oder ob wir auf der Bühne die Desdemona ermorden sehen! ob wir
ein wirkliches Schiff scheitern sehen oder ein Bild dieses Vorganges betrachten!
Auch wenn wir genau dieselbe,, Vorstellungen voraussetzen, wie sie uns ein
natürlicher Gegenstand oder Vorgang bietet, daß bloße Bewußtsein, es nur
mit Scheindingen und Scheinereiguisfen zu thun zu haben, wirkt abschwächend,
also ändernd auf alle erregten Gefühle ein.

Eduard von Hartmann vertritt in seiner „Philosophie des Schönen" die
Meinung, daß die durch die Kunst erzeugte,, Gefühle auch „qualitativ" gänzlich
von den durch die Wirklichkeit erzeugten verschieden seien. Er sondert von
den „realen" Gefühlen die lediglich bei dein ästhetischen Verhalten auftretende»
diesen reale» Gefühlen entsprechenden „Scheingefühle." Es ist hier nicht der
Ort, über diese Auffassungsweise zu rechten. Ich glaube, es ist richtiger, statt
von einem qualitativen Unterschiede von einem Unterschiede des Grades zu
reden, zumal da dieser Unterschied jeweilig verschieden, hier sehr beträchtlich
sein, dort ganz verschwinden kann.

Es wäre ein Irrtum, wollte um, ans der Ttatsache der geringern Starke
der durch das Kunstschöne vermittelten Gefühle einen Nachteil für dieses in,
Vergleich zum Naturschönen ableiten. Ich erinnere hier an das, was ich oben
über stark unlustvolle Sinnesempfindungen (Leichengeruch, Getöse in einem
Eisenwerk) gesagt habe. Es giebt Gefühle, die so mächtig sind, daß sie unser
ganzes Bewußtsein ausfülle,, und alle andern Geinütserregungen unterdrücken.
Treten nun diese Gefühle beim Kunstwerk in abgeschwächter Form auf, so
können dafür andre Gefühle, die in Wirklichkeit unter der Schwelle des Bewußt¬
seins bleiben würden, auftauchen, der Ablauf einer Reihe verschiedner Gefühle wird
überhaupt erst ermöglicht und damit die Bedingung für eine ästhetische Wir¬
kung geschaffen. Wer von einem Schlachtengemälde einen ästhetischen Ein¬
druck empfangen will, muß fähig sein, einen Anklang an jene Aufregung durch-
zuempfinden, die eine Schlacht mit sich bringt. Aber in Wirklichkeit ist jene
Aufregung so gewaltig, daß ein ruhiges Beobachten und ästhetisches Genießen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0622" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208559"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Eindruck von Runst und Wirklichkeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1908" prev="#ID_1907"> nur noch die Frage, ob, abgesehen von diesem Mehr, im übrigen die Gefühle<lb/>
dieselben seien? Auch diese letzte Frage stehe ich nicht an mit einem unbe¬<lb/>
dingten Nein zu beantworten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1909"> Zwar ist nicht abzusehen, warum die rein sinnlich ästhetischen Empfin¬<lb/>
dungen, wie sie etwa an harmonischen Farbenzusammenstellungen haften, in<lb/>
Kunst und Natur verschieden sein sollten. Vergleicht man aber die moralischen<lb/>
und die intellektuellen Gefühle, wie sie beim Betrachten des Kunstwerkes auf¬<lb/>
treten, mit denen, die wir in Wirklichkeit empfinden, so springt der Unterschied<lb/>
sofort in die Augen: die letztern sind bei weitem stärker. Dabei betone ich<lb/>
ausdrücklich, daß wir uns auch in der Wirklichkeit nur als Zuschauer und<lb/>
nicht als Beteiligte oder durch persönliche Neigung und Abneigung beeinflußt<lb/>
voraussetzen. Welch ein Unterschied, ob wir einem wirklichen Morde bei¬<lb/>
wohnen oder ob wir auf der Bühne die Desdemona ermorden sehen! ob wir<lb/>
ein wirkliches Schiff scheitern sehen oder ein Bild dieses Vorganges betrachten!<lb/>
Auch wenn wir genau dieselbe,, Vorstellungen voraussetzen, wie sie uns ein<lb/>
natürlicher Gegenstand oder Vorgang bietet, daß bloße Bewußtsein, es nur<lb/>
mit Scheindingen und Scheinereiguisfen zu thun zu haben, wirkt abschwächend,<lb/>
also ändernd auf alle erregten Gefühle ein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1910"> Eduard von Hartmann vertritt in seiner &#x201E;Philosophie des Schönen" die<lb/>
Meinung, daß die durch die Kunst erzeugte,, Gefühle auch &#x201E;qualitativ" gänzlich<lb/>
von den durch die Wirklichkeit erzeugten verschieden seien. Er sondert von<lb/>
den &#x201E;realen" Gefühlen die lediglich bei dein ästhetischen Verhalten auftretende»<lb/>
diesen reale» Gefühlen entsprechenden &#x201E;Scheingefühle." Es ist hier nicht der<lb/>
Ort, über diese Auffassungsweise zu rechten. Ich glaube, es ist richtiger, statt<lb/>
von einem qualitativen Unterschiede von einem Unterschiede des Grades zu<lb/>
reden, zumal da dieser Unterschied jeweilig verschieden, hier sehr beträchtlich<lb/>
sein, dort ganz verschwinden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1911" next="#ID_1912"> Es wäre ein Irrtum, wollte um, ans der Ttatsache der geringern Starke<lb/>
der durch das Kunstschöne vermittelten Gefühle einen Nachteil für dieses in,<lb/>
Vergleich zum Naturschönen ableiten. Ich erinnere hier an das, was ich oben<lb/>
über stark unlustvolle Sinnesempfindungen (Leichengeruch, Getöse in einem<lb/>
Eisenwerk) gesagt habe. Es giebt Gefühle, die so mächtig sind, daß sie unser<lb/>
ganzes Bewußtsein ausfülle,, und alle andern Geinütserregungen unterdrücken.<lb/>
Treten nun diese Gefühle beim Kunstwerk in abgeschwächter Form auf, so<lb/>
können dafür andre Gefühle, die in Wirklichkeit unter der Schwelle des Bewußt¬<lb/>
seins bleiben würden, auftauchen, der Ablauf einer Reihe verschiedner Gefühle wird<lb/>
überhaupt erst ermöglicht und damit die Bedingung für eine ästhetische Wir¬<lb/>
kung geschaffen. Wer von einem Schlachtengemälde einen ästhetischen Ein¬<lb/>
druck empfangen will, muß fähig sein, einen Anklang an jene Aufregung durch-<lb/>
zuempfinden, die eine Schlacht mit sich bringt. Aber in Wirklichkeit ist jene<lb/>
Aufregung so gewaltig, daß ein ruhiges Beobachten und ästhetisches Genießen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0622] Der Eindruck von Runst und Wirklichkeit nur noch die Frage, ob, abgesehen von diesem Mehr, im übrigen die Gefühle dieselben seien? Auch diese letzte Frage stehe ich nicht an mit einem unbe¬ dingten Nein zu beantworten. Zwar ist nicht abzusehen, warum die rein sinnlich ästhetischen Empfin¬ dungen, wie sie etwa an harmonischen Farbenzusammenstellungen haften, in Kunst und Natur verschieden sein sollten. Vergleicht man aber die moralischen und die intellektuellen Gefühle, wie sie beim Betrachten des Kunstwerkes auf¬ treten, mit denen, die wir in Wirklichkeit empfinden, so springt der Unterschied sofort in die Augen: die letztern sind bei weitem stärker. Dabei betone ich ausdrücklich, daß wir uns auch in der Wirklichkeit nur als Zuschauer und nicht als Beteiligte oder durch persönliche Neigung und Abneigung beeinflußt voraussetzen. Welch ein Unterschied, ob wir einem wirklichen Morde bei¬ wohnen oder ob wir auf der Bühne die Desdemona ermorden sehen! ob wir ein wirkliches Schiff scheitern sehen oder ein Bild dieses Vorganges betrachten! Auch wenn wir genau dieselbe,, Vorstellungen voraussetzen, wie sie uns ein natürlicher Gegenstand oder Vorgang bietet, daß bloße Bewußtsein, es nur mit Scheindingen und Scheinereiguisfen zu thun zu haben, wirkt abschwächend, also ändernd auf alle erregten Gefühle ein. Eduard von Hartmann vertritt in seiner „Philosophie des Schönen" die Meinung, daß die durch die Kunst erzeugte,, Gefühle auch „qualitativ" gänzlich von den durch die Wirklichkeit erzeugten verschieden seien. Er sondert von den „realen" Gefühlen die lediglich bei dein ästhetischen Verhalten auftretende» diesen reale» Gefühlen entsprechenden „Scheingefühle." Es ist hier nicht der Ort, über diese Auffassungsweise zu rechten. Ich glaube, es ist richtiger, statt von einem qualitativen Unterschiede von einem Unterschiede des Grades zu reden, zumal da dieser Unterschied jeweilig verschieden, hier sehr beträchtlich sein, dort ganz verschwinden kann. Es wäre ein Irrtum, wollte um, ans der Ttatsache der geringern Starke der durch das Kunstschöne vermittelten Gefühle einen Nachteil für dieses in, Vergleich zum Naturschönen ableiten. Ich erinnere hier an das, was ich oben über stark unlustvolle Sinnesempfindungen (Leichengeruch, Getöse in einem Eisenwerk) gesagt habe. Es giebt Gefühle, die so mächtig sind, daß sie unser ganzes Bewußtsein ausfülle,, und alle andern Geinütserregungen unterdrücken. Treten nun diese Gefühle beim Kunstwerk in abgeschwächter Form auf, so können dafür andre Gefühle, die in Wirklichkeit unter der Schwelle des Bewußt¬ seins bleiben würden, auftauchen, der Ablauf einer Reihe verschiedner Gefühle wird überhaupt erst ermöglicht und damit die Bedingung für eine ästhetische Wir¬ kung geschaffen. Wer von einem Schlachtengemälde einen ästhetischen Ein¬ druck empfangen will, muß fähig sein, einen Anklang an jene Aufregung durch- zuempfinden, die eine Schlacht mit sich bringt. Aber in Wirklichkeit ist jene Aufregung so gewaltig, daß ein ruhiges Beobachten und ästhetisches Genießen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/622
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/622>, abgerufen am 29.06.2024.