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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Eindruck von Aunst und Wirklichkeit

Häupten, die Kunst könne niemals nu die Natur hinnnreichen, ist meines Tr¬
achtens ganz unberechtigt. Mir wurde unlängst von einigen theoretisirender
Fanatikern des Naturalismus alles Ernstes versichert, auch das Fehlen des
^eichengeruches bei einem. Gemälde sei ein dem betreffenden Kunstwerke freilich
notgedrungen anhängender Nachteil, weil das Ersparen einiger Unlustgefühle
uur die moralische Gesamtwirkung beeinträchtige. Ich will hier die Frage ganz
unerörtert lassen, wie weit die Kunst ans ästhetischen Gründen "berechtigt"
sei, uulnstvollc, ja Abscheu erregende Vorstellungen zu erzeugen oder sie auf
Kosten der Wahrheit zu unterdrücken. Rein vom psychologischen Standpunkt
und auch abgesehen von dem, was ich über die Beschränkung des Kunst¬
werkes ans das Wesentliche und Wertvolle gesagt habe, ist leicht einzusehen,
warum ein Unterdrücken gewisser Teile der Wirklichkeit den Gesamteindruck
durchaus nicht abzuschwächen braucht. Denn die Elemente, aus denen sich
die seelische Wirkung eines Naturschönen zusammensetzt, können sich gegen¬
seitig hemmen, statt sich zu fördern, und so kann es geschehen, daß bei
einem entsprechende" Kunstwerke, das nur einen Teil davon verwertet, eine
Erhöhung der Wirkungskraft erzielt, ja überhaupt erst ein ästhetischer Genuß
ermöglicht wird. Wer zum erstenmale ein Eisenwalzwerk besucht, wird durch
die rastlose Bewegung der Arbeitenden, das entsetzliche Getöse der Maschine",
den starken Öl- und Kvhlenduust so betäubt, das; er unter Umständen überhaupt
nichts, keinesfalls alles das sieht, was er auf dem bekannten, in der Berliner
Nativnalgnlerie befindlichen Gemälde Wenzels erblickt. Und dieses Bild ist
doch gewiß ein treffliches Werk realistischer Malerei, obschon es weder unsre
Ohren noch unsre Nasen in Anspruch nimmt. Gerade dadurch, daß es weniger
bietet als die Wirklichkeit, bietet es anch mehr, lind dies läßt sich im allge¬
meinen von den meisten Kunstwerken sagen.

Hiermit ist nun freilich meine Frage selbst noch nicht erledigt, sondern
nnr bewiesen, daß sie, wörtlich genommen, auf unsre realistischen Kunstwerke
im allgemeinen keine Anwendung finden kann. Denn es liegt im Wesen dieser
Künste, wie sie nnn einmal sind, daß sie nicht dieselbe Zahl gleicher Sinnes¬
eindrücke darbieten können, wie die Wirklichkeit. Nun läßt sich aber denken,
daß Kunstwerke der Zukunft diese Bedingungen erfüllten, ja ich habe schon
zugestanden, daß in einzelnen Fällen bei der Aufführung dramatischer
Szenen und bei gewissen Werken der bildenden Kunst - diese Bedingungen
thatsächlich schon heute erfüllt seien. Jedenfalls dürfen wir rein theoretisch
zur klaren Erledigung des Sachverhaltes diese Voraussetzungen aufstellen und
demgemäß unsre Frage dahin zuspitzen: Werden ein Kunstwerk und das ent¬
sprechende Naturschöne, wenn sie genau dieselbe Summe gleicher Vorstellungen
darbieten, much genau dieselben Gefühle in uns hervorrufen?

Nehmen wir an, wir näherten uns unter besonders günstigen zufälligen
Umständen einem Kunstwerke so, daß wir es für etwas Natürliches hielten,


Der Eindruck von Aunst und Wirklichkeit

Häupten, die Kunst könne niemals nu die Natur hinnnreichen, ist meines Tr¬
achtens ganz unberechtigt. Mir wurde unlängst von einigen theoretisirender
Fanatikern des Naturalismus alles Ernstes versichert, auch das Fehlen des
^eichengeruches bei einem. Gemälde sei ein dem betreffenden Kunstwerke freilich
notgedrungen anhängender Nachteil, weil das Ersparen einiger Unlustgefühle
uur die moralische Gesamtwirkung beeinträchtige. Ich will hier die Frage ganz
unerörtert lassen, wie weit die Kunst ans ästhetischen Gründen „berechtigt"
sei, uulnstvollc, ja Abscheu erregende Vorstellungen zu erzeugen oder sie auf
Kosten der Wahrheit zu unterdrücken. Rein vom psychologischen Standpunkt
und auch abgesehen von dem, was ich über die Beschränkung des Kunst¬
werkes ans das Wesentliche und Wertvolle gesagt habe, ist leicht einzusehen,
warum ein Unterdrücken gewisser Teile der Wirklichkeit den Gesamteindruck
durchaus nicht abzuschwächen braucht. Denn die Elemente, aus denen sich
die seelische Wirkung eines Naturschönen zusammensetzt, können sich gegen¬
seitig hemmen, statt sich zu fördern, und so kann es geschehen, daß bei
einem entsprechende» Kunstwerke, das nur einen Teil davon verwertet, eine
Erhöhung der Wirkungskraft erzielt, ja überhaupt erst ein ästhetischer Genuß
ermöglicht wird. Wer zum erstenmale ein Eisenwalzwerk besucht, wird durch
die rastlose Bewegung der Arbeitenden, das entsetzliche Getöse der Maschine»,
den starken Öl- und Kvhlenduust so betäubt, das; er unter Umständen überhaupt
nichts, keinesfalls alles das sieht, was er auf dem bekannten, in der Berliner
Nativnalgnlerie befindlichen Gemälde Wenzels erblickt. Und dieses Bild ist
doch gewiß ein treffliches Werk realistischer Malerei, obschon es weder unsre
Ohren noch unsre Nasen in Anspruch nimmt. Gerade dadurch, daß es weniger
bietet als die Wirklichkeit, bietet es anch mehr, lind dies läßt sich im allge¬
meinen von den meisten Kunstwerken sagen.

Hiermit ist nun freilich meine Frage selbst noch nicht erledigt, sondern
nnr bewiesen, daß sie, wörtlich genommen, auf unsre realistischen Kunstwerke
im allgemeinen keine Anwendung finden kann. Denn es liegt im Wesen dieser
Künste, wie sie nnn einmal sind, daß sie nicht dieselbe Zahl gleicher Sinnes¬
eindrücke darbieten können, wie die Wirklichkeit. Nun läßt sich aber denken,
daß Kunstwerke der Zukunft diese Bedingungen erfüllten, ja ich habe schon
zugestanden, daß in einzelnen Fällen bei der Aufführung dramatischer
Szenen und bei gewissen Werken der bildenden Kunst - diese Bedingungen
thatsächlich schon heute erfüllt seien. Jedenfalls dürfen wir rein theoretisch
zur klaren Erledigung des Sachverhaltes diese Voraussetzungen aufstellen und
demgemäß unsre Frage dahin zuspitzen: Werden ein Kunstwerk und das ent¬
sprechende Naturschöne, wenn sie genau dieselbe Summe gleicher Vorstellungen
darbieten, much genau dieselben Gefühle in uns hervorrufen?

Nehmen wir an, wir näherten uns unter besonders günstigen zufälligen
Umständen einem Kunstwerke so, daß wir es für etwas Natürliches hielten,


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[0621] Der Eindruck von Aunst und Wirklichkeit Häupten, die Kunst könne niemals nu die Natur hinnnreichen, ist meines Tr¬ achtens ganz unberechtigt. Mir wurde unlängst von einigen theoretisirender Fanatikern des Naturalismus alles Ernstes versichert, auch das Fehlen des ^eichengeruches bei einem. Gemälde sei ein dem betreffenden Kunstwerke freilich notgedrungen anhängender Nachteil, weil das Ersparen einiger Unlustgefühle uur die moralische Gesamtwirkung beeinträchtige. Ich will hier die Frage ganz unerörtert lassen, wie weit die Kunst ans ästhetischen Gründen „berechtigt" sei, uulnstvollc, ja Abscheu erregende Vorstellungen zu erzeugen oder sie auf Kosten der Wahrheit zu unterdrücken. Rein vom psychologischen Standpunkt und auch abgesehen von dem, was ich über die Beschränkung des Kunst¬ werkes ans das Wesentliche und Wertvolle gesagt habe, ist leicht einzusehen, warum ein Unterdrücken gewisser Teile der Wirklichkeit den Gesamteindruck durchaus nicht abzuschwächen braucht. Denn die Elemente, aus denen sich die seelische Wirkung eines Naturschönen zusammensetzt, können sich gegen¬ seitig hemmen, statt sich zu fördern, und so kann es geschehen, daß bei einem entsprechende» Kunstwerke, das nur einen Teil davon verwertet, eine Erhöhung der Wirkungskraft erzielt, ja überhaupt erst ein ästhetischer Genuß ermöglicht wird. Wer zum erstenmale ein Eisenwalzwerk besucht, wird durch die rastlose Bewegung der Arbeitenden, das entsetzliche Getöse der Maschine», den starken Öl- und Kvhlenduust so betäubt, das; er unter Umständen überhaupt nichts, keinesfalls alles das sieht, was er auf dem bekannten, in der Berliner Nativnalgnlerie befindlichen Gemälde Wenzels erblickt. Und dieses Bild ist doch gewiß ein treffliches Werk realistischer Malerei, obschon es weder unsre Ohren noch unsre Nasen in Anspruch nimmt. Gerade dadurch, daß es weniger bietet als die Wirklichkeit, bietet es anch mehr, lind dies läßt sich im allge¬ meinen von den meisten Kunstwerken sagen. Hiermit ist nun freilich meine Frage selbst noch nicht erledigt, sondern nnr bewiesen, daß sie, wörtlich genommen, auf unsre realistischen Kunstwerke im allgemeinen keine Anwendung finden kann. Denn es liegt im Wesen dieser Künste, wie sie nnn einmal sind, daß sie nicht dieselbe Zahl gleicher Sinnes¬ eindrücke darbieten können, wie die Wirklichkeit. Nun läßt sich aber denken, daß Kunstwerke der Zukunft diese Bedingungen erfüllten, ja ich habe schon zugestanden, daß in einzelnen Fällen bei der Aufführung dramatischer Szenen und bei gewissen Werken der bildenden Kunst - diese Bedingungen thatsächlich schon heute erfüllt seien. Jedenfalls dürfen wir rein theoretisch zur klaren Erledigung des Sachverhaltes diese Voraussetzungen aufstellen und demgemäß unsre Frage dahin zuspitzen: Werden ein Kunstwerk und das ent¬ sprechende Naturschöne, wenn sie genau dieselbe Summe gleicher Vorstellungen darbieten, much genau dieselben Gefühle in uns hervorrufen? Nehmen wir an, wir näherten uns unter besonders günstigen zufälligen Umständen einem Kunstwerke so, daß wir es für etwas Natürliches hielten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/621>, abgerufen am 29.06.2024.