Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

werden. Insofern muß die von mir aufgestellte Frage nach dein Verhältnis
von dem Eindruck des Kunstwerks und der ihm entsprechenden Wirkungen im
allgemeinen durchaus hypothetisch sein.

Wenn ich ferner bei dieser Frage die Voraussetzung machte, ein Kunstwert
solle genau dieselben Vorstellungen erzeugen, wie die Wirklichkeit, so ist dies,
wörtlich genommen, nur in seltenen Fällen denkbar und enthält für gewisse
Kunstarten eine sinnlose Forderung. Ein Werk der epischen Dichtkunst, ein
Roman giebt unmittelbar nur Worte, und erst die dadurch angeregten Vor¬
stellungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anschauungen der geschilderten
Wirklichkeit. Die bildenden Künste bieten zwar selbst Anschauungen dar, aber
erstens halten sie nur einen einzigen Augenblick fest und sodann beschränken sie
sich aus die Wiedergabe der Eindrücke eines einzigen Sinnes: des Auges.
Wenn ein Panorama auch noch so naturgetreu ist, es fehlt doch manches, was
wir in Wirklichkeit wahrnehmein Bewegungen, Geräusche, volle Stärke des
Sonnenlichts, Gefühl der frischen Luft u. s. f. Nur bei einer realistischen Dar¬
stellung realistischer Rühnenwerke und allenfalls bei der bildlichen Nachbildung
unbewegter, nur auf das Auge wirkender Dinge könnte man davon reden, daß
genau dieselbe" Vorstellungen wie von der Wirklichkeit erzeugt würden. Im übrigen
geben die realistischen Kunstwerke, wenn sie auch nur die Wirklichkeit geben,
jedenfalls nicht die ganze Wirklichkeit. Auch hier ergiebt sich, daß die Kunst
sich auswählend und abstrahirend verhalten muß.

Im allgemeinen und ohne Rücksicht ans die besonders namhaft gemachten
Fälle ist also die Beantwortung der von mir gestellten Frage selbstverständlich.
Bietet ein Kunstwerk nicht geuau dieselbe Summe gleicher Sinneseindrücke, so
wird auch der gefühlsmäßige Eindruck anders sein als in Wirklichkeit. Hieraus
beruht auch die verschiedene Wirkungsart der einzelnen Kunstgattungen. Jede
von thuen kann aus der unendlich reichen Fülle des Wirklichen nnr das, was
ihr gleichartig ist, wiedergeben, genau dasselbe zu gestalten bleibt einer andern
Kunstart versagt. Eine rein "malerische" Idee, d. h. das, was von einem
guten Gemälde ausgedrückt wird, kann nur durch ein Gemälde, also nicht etwa
durch ein Gedicht oder eine andre Kunstgattung in gleich vollendeter Weise
zum Ausdruck kommen. Und einundderselbe Vorgang wird, wenn er ver¬
schiedenartigen Kunstwerken zum Vorwurf dient, auch eine verschiedne Wirkung
auf uns ausüben und verschiedenartige Gefühle in uns erregen. Die Schilderung
eines toten menschlichen Körpers in einem Roman wirkt anders als ein Werk
der Plastik oder ein Gemälde, alle drei Eindrücke werden sich aber wiederum
ganz wesentlich von den Gefühlen unterscheiden, die der Anblick einer wirklichen
Leiche in uns hervorruft, auch dann, wenn der Künstler gänzlich darauf ver¬
zichtet, besondre, etwa am Material haftende sinnlich ästhetische Wirkungen
zu verwerten. Hieraus unter allen Umständen eine Minderwertigkeit des
Kunstwerkes im Vergleiche zur Natur abzuleiten, als ein Dogma zu be-


werden. Insofern muß die von mir aufgestellte Frage nach dein Verhältnis
von dem Eindruck des Kunstwerks und der ihm entsprechenden Wirkungen im
allgemeinen durchaus hypothetisch sein.

Wenn ich ferner bei dieser Frage die Voraussetzung machte, ein Kunstwert
solle genau dieselben Vorstellungen erzeugen, wie die Wirklichkeit, so ist dies,
wörtlich genommen, nur in seltenen Fällen denkbar und enthält für gewisse
Kunstarten eine sinnlose Forderung. Ein Werk der epischen Dichtkunst, ein
Roman giebt unmittelbar nur Worte, und erst die dadurch angeregten Vor¬
stellungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anschauungen der geschilderten
Wirklichkeit. Die bildenden Künste bieten zwar selbst Anschauungen dar, aber
erstens halten sie nur einen einzigen Augenblick fest und sodann beschränken sie
sich aus die Wiedergabe der Eindrücke eines einzigen Sinnes: des Auges.
Wenn ein Panorama auch noch so naturgetreu ist, es fehlt doch manches, was
wir in Wirklichkeit wahrnehmein Bewegungen, Geräusche, volle Stärke des
Sonnenlichts, Gefühl der frischen Luft u. s. f. Nur bei einer realistischen Dar¬
stellung realistischer Rühnenwerke und allenfalls bei der bildlichen Nachbildung
unbewegter, nur auf das Auge wirkender Dinge könnte man davon reden, daß
genau dieselbe« Vorstellungen wie von der Wirklichkeit erzeugt würden. Im übrigen
geben die realistischen Kunstwerke, wenn sie auch nur die Wirklichkeit geben,
jedenfalls nicht die ganze Wirklichkeit. Auch hier ergiebt sich, daß die Kunst
sich auswählend und abstrahirend verhalten muß.

Im allgemeinen und ohne Rücksicht ans die besonders namhaft gemachten
Fälle ist also die Beantwortung der von mir gestellten Frage selbstverständlich.
Bietet ein Kunstwerk nicht geuau dieselbe Summe gleicher Sinneseindrücke, so
wird auch der gefühlsmäßige Eindruck anders sein als in Wirklichkeit. Hieraus
beruht auch die verschiedene Wirkungsart der einzelnen Kunstgattungen. Jede
von thuen kann aus der unendlich reichen Fülle des Wirklichen nnr das, was
ihr gleichartig ist, wiedergeben, genau dasselbe zu gestalten bleibt einer andern
Kunstart versagt. Eine rein „malerische" Idee, d. h. das, was von einem
guten Gemälde ausgedrückt wird, kann nur durch ein Gemälde, also nicht etwa
durch ein Gedicht oder eine andre Kunstgattung in gleich vollendeter Weise
zum Ausdruck kommen. Und einundderselbe Vorgang wird, wenn er ver¬
schiedenartigen Kunstwerken zum Vorwurf dient, auch eine verschiedne Wirkung
auf uns ausüben und verschiedenartige Gefühle in uns erregen. Die Schilderung
eines toten menschlichen Körpers in einem Roman wirkt anders als ein Werk
der Plastik oder ein Gemälde, alle drei Eindrücke werden sich aber wiederum
ganz wesentlich von den Gefühlen unterscheiden, die der Anblick einer wirklichen
Leiche in uns hervorruft, auch dann, wenn der Künstler gänzlich darauf ver¬
zichtet, besondre, etwa am Material haftende sinnlich ästhetische Wirkungen
zu verwerten. Hieraus unter allen Umständen eine Minderwertigkeit des
Kunstwerkes im Vergleiche zur Natur abzuleiten, als ein Dogma zu be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0620" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208555"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1902" prev="#ID_1901"> werden. Insofern muß die von mir aufgestellte Frage nach dein Verhältnis<lb/>
von dem Eindruck des Kunstwerks und der ihm entsprechenden Wirkungen im<lb/>
allgemeinen durchaus hypothetisch sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1903"> Wenn ich ferner bei dieser Frage die Voraussetzung machte, ein Kunstwert<lb/>
solle genau dieselben Vorstellungen erzeugen, wie die Wirklichkeit, so ist dies,<lb/>
wörtlich genommen, nur in seltenen Fällen denkbar und enthält für gewisse<lb/>
Kunstarten eine sinnlose Forderung. Ein Werk der epischen Dichtkunst, ein<lb/>
Roman giebt unmittelbar nur Worte, und erst die dadurch angeregten Vor¬<lb/>
stellungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anschauungen der geschilderten<lb/>
Wirklichkeit. Die bildenden Künste bieten zwar selbst Anschauungen dar, aber<lb/>
erstens halten sie nur einen einzigen Augenblick fest und sodann beschränken sie<lb/>
sich aus die Wiedergabe der Eindrücke eines einzigen Sinnes: des Auges.<lb/>
Wenn ein Panorama auch noch so naturgetreu ist, es fehlt doch manches, was<lb/>
wir in Wirklichkeit wahrnehmein Bewegungen, Geräusche, volle Stärke des<lb/>
Sonnenlichts, Gefühl der frischen Luft u. s. f. Nur bei einer realistischen Dar¬<lb/>
stellung realistischer Rühnenwerke und allenfalls bei der bildlichen Nachbildung<lb/>
unbewegter, nur auf das Auge wirkender Dinge könnte man davon reden, daß<lb/>
genau dieselbe« Vorstellungen wie von der Wirklichkeit erzeugt würden. Im übrigen<lb/>
geben die realistischen Kunstwerke, wenn sie auch nur die Wirklichkeit geben,<lb/>
jedenfalls nicht die ganze Wirklichkeit. Auch hier ergiebt sich, daß die Kunst<lb/>
sich auswählend und abstrahirend verhalten muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1904" next="#ID_1905"> Im allgemeinen und ohne Rücksicht ans die besonders namhaft gemachten<lb/>
Fälle ist also die Beantwortung der von mir gestellten Frage selbstverständlich.<lb/>
Bietet ein Kunstwerk nicht geuau dieselbe Summe gleicher Sinneseindrücke, so<lb/>
wird auch der gefühlsmäßige Eindruck anders sein als in Wirklichkeit. Hieraus<lb/>
beruht auch die verschiedene Wirkungsart der einzelnen Kunstgattungen. Jede<lb/>
von thuen kann aus der unendlich reichen Fülle des Wirklichen nnr das, was<lb/>
ihr gleichartig ist, wiedergeben, genau dasselbe zu gestalten bleibt einer andern<lb/>
Kunstart versagt. Eine rein &#x201E;malerische" Idee, d. h. das, was von einem<lb/>
guten Gemälde ausgedrückt wird, kann nur durch ein Gemälde, also nicht etwa<lb/>
durch ein Gedicht oder eine andre Kunstgattung in gleich vollendeter Weise<lb/>
zum Ausdruck kommen. Und einundderselbe Vorgang wird, wenn er ver¬<lb/>
schiedenartigen Kunstwerken zum Vorwurf dient, auch eine verschiedne Wirkung<lb/>
auf uns ausüben und verschiedenartige Gefühle in uns erregen. Die Schilderung<lb/>
eines toten menschlichen Körpers in einem Roman wirkt anders als ein Werk<lb/>
der Plastik oder ein Gemälde, alle drei Eindrücke werden sich aber wiederum<lb/>
ganz wesentlich von den Gefühlen unterscheiden, die der Anblick einer wirklichen<lb/>
Leiche in uns hervorruft, auch dann, wenn der Künstler gänzlich darauf ver¬<lb/>
zichtet, besondre, etwa am Material haftende sinnlich ästhetische Wirkungen<lb/>
zu verwerten. Hieraus unter allen Umständen eine Minderwertigkeit des<lb/>
Kunstwerkes im Vergleiche zur Natur abzuleiten, als ein Dogma zu be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0620] werden. Insofern muß die von mir aufgestellte Frage nach dein Verhältnis von dem Eindruck des Kunstwerks und der ihm entsprechenden Wirkungen im allgemeinen durchaus hypothetisch sein. Wenn ich ferner bei dieser Frage die Voraussetzung machte, ein Kunstwert solle genau dieselben Vorstellungen erzeugen, wie die Wirklichkeit, so ist dies, wörtlich genommen, nur in seltenen Fällen denkbar und enthält für gewisse Kunstarten eine sinnlose Forderung. Ein Werk der epischen Dichtkunst, ein Roman giebt unmittelbar nur Worte, und erst die dadurch angeregten Vor¬ stellungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anschauungen der geschilderten Wirklichkeit. Die bildenden Künste bieten zwar selbst Anschauungen dar, aber erstens halten sie nur einen einzigen Augenblick fest und sodann beschränken sie sich aus die Wiedergabe der Eindrücke eines einzigen Sinnes: des Auges. Wenn ein Panorama auch noch so naturgetreu ist, es fehlt doch manches, was wir in Wirklichkeit wahrnehmein Bewegungen, Geräusche, volle Stärke des Sonnenlichts, Gefühl der frischen Luft u. s. f. Nur bei einer realistischen Dar¬ stellung realistischer Rühnenwerke und allenfalls bei der bildlichen Nachbildung unbewegter, nur auf das Auge wirkender Dinge könnte man davon reden, daß genau dieselbe« Vorstellungen wie von der Wirklichkeit erzeugt würden. Im übrigen geben die realistischen Kunstwerke, wenn sie auch nur die Wirklichkeit geben, jedenfalls nicht die ganze Wirklichkeit. Auch hier ergiebt sich, daß die Kunst sich auswählend und abstrahirend verhalten muß. Im allgemeinen und ohne Rücksicht ans die besonders namhaft gemachten Fälle ist also die Beantwortung der von mir gestellten Frage selbstverständlich. Bietet ein Kunstwerk nicht geuau dieselbe Summe gleicher Sinneseindrücke, so wird auch der gefühlsmäßige Eindruck anders sein als in Wirklichkeit. Hieraus beruht auch die verschiedene Wirkungsart der einzelnen Kunstgattungen. Jede von thuen kann aus der unendlich reichen Fülle des Wirklichen nnr das, was ihr gleichartig ist, wiedergeben, genau dasselbe zu gestalten bleibt einer andern Kunstart versagt. Eine rein „malerische" Idee, d. h. das, was von einem guten Gemälde ausgedrückt wird, kann nur durch ein Gemälde, also nicht etwa durch ein Gedicht oder eine andre Kunstgattung in gleich vollendeter Weise zum Ausdruck kommen. Und einundderselbe Vorgang wird, wenn er ver¬ schiedenartigen Kunstwerken zum Vorwurf dient, auch eine verschiedne Wirkung auf uns ausüben und verschiedenartige Gefühle in uns erregen. Die Schilderung eines toten menschlichen Körpers in einem Roman wirkt anders als ein Werk der Plastik oder ein Gemälde, alle drei Eindrücke werden sich aber wiederum ganz wesentlich von den Gefühlen unterscheiden, die der Anblick einer wirklichen Leiche in uns hervorruft, auch dann, wenn der Künstler gänzlich darauf ver¬ zichtet, besondre, etwa am Material haftende sinnlich ästhetische Wirkungen zu verwerten. Hieraus unter allen Umständen eine Minderwertigkeit des Kunstwerkes im Vergleiche zur Natur abzuleiten, als ein Dogma zu be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/620
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/620>, abgerufen am 29.06.2024.