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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Eindruck von Umist und Wirklichkeit

Forderungen und Dogmen, nicht um Wert oder Unwert gewisser Kunst-
richtungen soll sichs hier handeln, sondern lediglich um die Frage: Kann
ein Kunstwerk genau denselben Gesamteindruck hervorrufen, kaun es genau
dieselbe Wirkungskraft entfalten wie die entsprechende Wirklichkeit? Diese Vor¬
frage ausschließlich soll, nicht nach ästhetischen Grundsätzen, sondern auf Grund
einfacher Psychologischer Thatsachen erörtert werden.

Jedes Kunstwerk bietet uns direkt Vorstellungen, indirekt Gefühle, die an
diesen Vorstellungen haften. Es dürfte wohl kaum Widerspruch hervorrufen,
wenn ich als den nächsten Zweck aller Kunst und als die Voraussetzung jedes
ästhetischen Genusses überhaupt die Erregung einer bedeutenden Gefühls¬
reihe bezeichne. Die Vorstellungen sind das Mittel, um ein reiches Spiel unter
einander zusammenhängender, auf- und abwogeuder Gefühle zu erzeugen. Die
hieran sich knüpfenden Fragen, ob diese Gefühlsreihe einen näher zu bestim¬
menden gesetzmäßigen Verlauf nehmen müsse, ob sie stets harmonisch und lust-
vvll oder doch versöhnend auszukliugeu habe, welchen weitern Zweck sie selbst
verfolge u. f. f., lasse ich völlig unerörtert. Ausdrücklich betonen möchte ich
nur, daß unter "Gefühlen" im Folgenden alle erregten Gefühle, nicht etwa
nur die sogenannten "ästhetischen" Gefühle zu verstehen seien, worunter man
gewöhnlich lediglich die Lust an Sinnesempfindungen, harmonischen Tonfolgen,
zusammenstimmenden Farben, schwungvollen Linien, gefälligen Teilverhältnissen
u. s. f. begreift. Ich leugne nicht, daß schöne Linien und fein gestimmte
Farben nicht nur bei persischen Teppichen, sondern auch bei Gemälden eine
Rolle spielen, daß ein klangvolles Organ und edle Bewegungen auch bei den
Darstellungen von Bühuenwerkeu in Betracht kommen können; aber viel wich¬
tiger für den höhern ästhetische" Genuß sind die sogenannten "moralischen"
und "intellektuellen" Gefühle, also etwa Mitfreude und Mitleid, Furcht, Span¬
nung, Haß, sittliche Billigung und Mißbilligung, geschlechtliche Erregung,
religiöse Erbauung; oder jene Gefühle, die selbst erst aus einer Reihe der ge¬
nannten Gefühle als Endergebnis hervorgehen, wie der Befreiung, Versöhnung,
Erhebung. Spreche ich also bei der Erwägung der seelischen Wirkung eines
Kunstwerkes von Gefühlen, so meine ich die Gesamtheit aller erregten Gefühle,
mögen sie nach landläufiger Auffassung einen ästhetischen Wert haben oder nicht.

Nach diesen Vorbemerkungen kann ich nun die zu behandelnde Frage so
stellen: Wird ein Kunstwerk, wenn es genau dieselben Vorstellungen erzeugt, auch
genau dieselben Gefühle in uns erregen wie die der entsprechenden Wirklichkeit?

Es liegt ans der Hand, daß die Beantwortung dieser Frage nur dann
einer anschauliche" Kontrolle unterzogen werden kann, wenn es sich um eine
Kopie wirklich seiender und zugänglicher Dinge oder wirklich geschehener sicht¬
barer Ereignisse handelt. Bei frei erfundenen Kunstwerken muß die Frage
bedingt gestellt werden: Würden wir denselben Eindruck davontragen, wenn
wir die dem Kuiistwerk entsprechende Wirklichkeit anch thatsächlich erlebten?


Der Eindruck von Umist und Wirklichkeit

Forderungen und Dogmen, nicht um Wert oder Unwert gewisser Kunst-
richtungen soll sichs hier handeln, sondern lediglich um die Frage: Kann
ein Kunstwerk genau denselben Gesamteindruck hervorrufen, kaun es genau
dieselbe Wirkungskraft entfalten wie die entsprechende Wirklichkeit? Diese Vor¬
frage ausschließlich soll, nicht nach ästhetischen Grundsätzen, sondern auf Grund
einfacher Psychologischer Thatsachen erörtert werden.

Jedes Kunstwerk bietet uns direkt Vorstellungen, indirekt Gefühle, die an
diesen Vorstellungen haften. Es dürfte wohl kaum Widerspruch hervorrufen,
wenn ich als den nächsten Zweck aller Kunst und als die Voraussetzung jedes
ästhetischen Genusses überhaupt die Erregung einer bedeutenden Gefühls¬
reihe bezeichne. Die Vorstellungen sind das Mittel, um ein reiches Spiel unter
einander zusammenhängender, auf- und abwogeuder Gefühle zu erzeugen. Die
hieran sich knüpfenden Fragen, ob diese Gefühlsreihe einen näher zu bestim¬
menden gesetzmäßigen Verlauf nehmen müsse, ob sie stets harmonisch und lust-
vvll oder doch versöhnend auszukliugeu habe, welchen weitern Zweck sie selbst
verfolge u. f. f., lasse ich völlig unerörtert. Ausdrücklich betonen möchte ich
nur, daß unter „Gefühlen" im Folgenden alle erregten Gefühle, nicht etwa
nur die sogenannten „ästhetischen" Gefühle zu verstehen seien, worunter man
gewöhnlich lediglich die Lust an Sinnesempfindungen, harmonischen Tonfolgen,
zusammenstimmenden Farben, schwungvollen Linien, gefälligen Teilverhältnissen
u. s. f. begreift. Ich leugne nicht, daß schöne Linien und fein gestimmte
Farben nicht nur bei persischen Teppichen, sondern auch bei Gemälden eine
Rolle spielen, daß ein klangvolles Organ und edle Bewegungen auch bei den
Darstellungen von Bühuenwerkeu in Betracht kommen können; aber viel wich¬
tiger für den höhern ästhetische» Genuß sind die sogenannten „moralischen"
und „intellektuellen" Gefühle, also etwa Mitfreude und Mitleid, Furcht, Span¬
nung, Haß, sittliche Billigung und Mißbilligung, geschlechtliche Erregung,
religiöse Erbauung; oder jene Gefühle, die selbst erst aus einer Reihe der ge¬
nannten Gefühle als Endergebnis hervorgehen, wie der Befreiung, Versöhnung,
Erhebung. Spreche ich also bei der Erwägung der seelischen Wirkung eines
Kunstwerkes von Gefühlen, so meine ich die Gesamtheit aller erregten Gefühle,
mögen sie nach landläufiger Auffassung einen ästhetischen Wert haben oder nicht.

Nach diesen Vorbemerkungen kann ich nun die zu behandelnde Frage so
stellen: Wird ein Kunstwerk, wenn es genau dieselben Vorstellungen erzeugt, auch
genau dieselben Gefühle in uns erregen wie die der entsprechenden Wirklichkeit?

Es liegt ans der Hand, daß die Beantwortung dieser Frage nur dann
einer anschauliche» Kontrolle unterzogen werden kann, wenn es sich um eine
Kopie wirklich seiender und zugänglicher Dinge oder wirklich geschehener sicht¬
barer Ereignisse handelt. Bei frei erfundenen Kunstwerken muß die Frage
bedingt gestellt werden: Würden wir denselben Eindruck davontragen, wenn
wir die dem Kuiistwerk entsprechende Wirklichkeit anch thatsächlich erlebten?


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[0616] Der Eindruck von Umist und Wirklichkeit Forderungen und Dogmen, nicht um Wert oder Unwert gewisser Kunst- richtungen soll sichs hier handeln, sondern lediglich um die Frage: Kann ein Kunstwerk genau denselben Gesamteindruck hervorrufen, kaun es genau dieselbe Wirkungskraft entfalten wie die entsprechende Wirklichkeit? Diese Vor¬ frage ausschließlich soll, nicht nach ästhetischen Grundsätzen, sondern auf Grund einfacher Psychologischer Thatsachen erörtert werden. Jedes Kunstwerk bietet uns direkt Vorstellungen, indirekt Gefühle, die an diesen Vorstellungen haften. Es dürfte wohl kaum Widerspruch hervorrufen, wenn ich als den nächsten Zweck aller Kunst und als die Voraussetzung jedes ästhetischen Genusses überhaupt die Erregung einer bedeutenden Gefühls¬ reihe bezeichne. Die Vorstellungen sind das Mittel, um ein reiches Spiel unter einander zusammenhängender, auf- und abwogeuder Gefühle zu erzeugen. Die hieran sich knüpfenden Fragen, ob diese Gefühlsreihe einen näher zu bestim¬ menden gesetzmäßigen Verlauf nehmen müsse, ob sie stets harmonisch und lust- vvll oder doch versöhnend auszukliugeu habe, welchen weitern Zweck sie selbst verfolge u. f. f., lasse ich völlig unerörtert. Ausdrücklich betonen möchte ich nur, daß unter „Gefühlen" im Folgenden alle erregten Gefühle, nicht etwa nur die sogenannten „ästhetischen" Gefühle zu verstehen seien, worunter man gewöhnlich lediglich die Lust an Sinnesempfindungen, harmonischen Tonfolgen, zusammenstimmenden Farben, schwungvollen Linien, gefälligen Teilverhältnissen u. s. f. begreift. Ich leugne nicht, daß schöne Linien und fein gestimmte Farben nicht nur bei persischen Teppichen, sondern auch bei Gemälden eine Rolle spielen, daß ein klangvolles Organ und edle Bewegungen auch bei den Darstellungen von Bühuenwerkeu in Betracht kommen können; aber viel wich¬ tiger für den höhern ästhetische» Genuß sind die sogenannten „moralischen" und „intellektuellen" Gefühle, also etwa Mitfreude und Mitleid, Furcht, Span¬ nung, Haß, sittliche Billigung und Mißbilligung, geschlechtliche Erregung, religiöse Erbauung; oder jene Gefühle, die selbst erst aus einer Reihe der ge¬ nannten Gefühle als Endergebnis hervorgehen, wie der Befreiung, Versöhnung, Erhebung. Spreche ich also bei der Erwägung der seelischen Wirkung eines Kunstwerkes von Gefühlen, so meine ich die Gesamtheit aller erregten Gefühle, mögen sie nach landläufiger Auffassung einen ästhetischen Wert haben oder nicht. Nach diesen Vorbemerkungen kann ich nun die zu behandelnde Frage so stellen: Wird ein Kunstwerk, wenn es genau dieselben Vorstellungen erzeugt, auch genau dieselben Gefühle in uns erregen wie die der entsprechenden Wirklichkeit? Es liegt ans der Hand, daß die Beantwortung dieser Frage nur dann einer anschauliche» Kontrolle unterzogen werden kann, wenn es sich um eine Kopie wirklich seiender und zugänglicher Dinge oder wirklich geschehener sicht¬ barer Ereignisse handelt. Bei frei erfundenen Kunstwerken muß die Frage bedingt gestellt werden: Würden wir denselben Eindruck davontragen, wenn wir die dem Kuiistwerk entsprechende Wirklichkeit anch thatsächlich erlebten?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/616>, abgerufen am 28.09.2024.