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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der'Lindruck von Kunst und Wirklichkeit

schlechterdings notwendig, bei andern für wünschenswert, wieder bei andern für
völlig gleichgültig ansehen. Ein Gemälde, dessen Bäume schief stehen, bei dein
Perspektive und anatomischer Ban der dargestellten Menschen der Wirklichkeit
nicht entspricht, nennen Nur nicht unrealistisch, sondern falsch. Ein gleiches
gilt bei einer ungleichmäßigen Änderung der Größenverhältnisse, während Nur
uns eine gleichmäßige ohne weiteres gefallen lasseiu ein lebensgroßes Bild ist
nicht realistischer als ein verkleinertes. Bei einem Werke der Plastik ist uns
Wahrheit des geistige" Ausdrucks im allgemeinen wertvoller als die realistische
Behandlung der Haare oder der Haut, und bei einer dramatischen Aufführung
legen wir mehr Gewicht auf die Wahrheit der psychologischen Entwicklung als
auf Treue der Kostüme oder Echtheit der szenischen Einrichtung. Aber während
gewisse Uuwahrscheiulichkeiten oder Unmöglichkeiten völlig bedeutungslos er¬
scheinen, können geringfügige Naturwidrigkeiten eine ästhetische Wirkuug ver¬
nichten. Zu verlangen, jedes in Paris spielende Stück solle in französischer
Sprache und mit echt Pariser Kostümen aufgeführt werden, wäre einfach kindisch.
Aber wir erinnern uns, daß die Darstellung einer französischen Komödie einen
völlig verfehlten Eindruck hervorrief, uur weil der einen eleganten Vicomte
darstellende, im übrigen durchaus nicht talentlose Schauspieler zu kurze Bein-
kleider trug und seine geistvollen lind anmutigen Plaudereien im reinsten säch¬
sischen Dialekt zum besten gab. Und doch sind dergleichen Äußerlichkeiten im
Vergleich zu dem Werte der gesamten künstlerischen, insbesondre der dichterischen
Leistung von ganz untergeordneter Bedeutung.

Es wird wohl allgemein zugestanden werden, daß die Gegenwart empfind¬
licher gegen Abweichungen von der Natur geworden ist. Wir verlangen eine
Fülle realistischer Einzelheiten, von denen wohl jede für sich betrachtet un¬
wesentlich erscheinen mag, die aber in ihrer Gesamtheit zusammenwirken, um
das Kunstwerk zu etwas wahrhaft Organischen und Lebensvollem zu gestalten.
Man mag darin einen Aufschwung oder einen Niedergang unsrer Kunstent-
wicklung sehe", jedenfalls ist man genötigt, eine Verschiebung zu Gunsten des
Realismus als eine geschichtliche Thatsache anzuerkennen. Hat aber die Zahl
der Elemente, in denen sich das Kunstwerk der Wirklichkeit nähert, beträcht¬
lich zugenommen, so liegt die Frage auf der Hand, ob sich diese Zahl nicht
noch weiter vermehren lasse, ja warum eigentlich ein Kunstwerk nichr in allen
seinen Elementen mit der Wirklichkeit übereinstimmen solle. Und so ist denn
auch thatsächlich eine ,,exakte Reproduktion" der Wirklichkeit gefordert worden.

Ich weiß nicht, ob eine solche exakte Reproduktion der Wirklichkeit mög¬
lich ist. Gäbe es dergleichen Kunstwerke, so würde ich zwar von vornherein
keinen Anlaß finden, ihnen allein Daseinsberechtigung zuzusprechen und die
vollkommene Übereiustimniuug mit der Natur als allgemeingültiges ästhetisches
Prinzip hinzustellen. Aber ebenso wenig fällt es mir ein, die Daseiusberech-
tiguug von solchen Kunstwerken irgendwie in Frage zu stelle". Nicht um


Der'Lindruck von Kunst und Wirklichkeit

schlechterdings notwendig, bei andern für wünschenswert, wieder bei andern für
völlig gleichgültig ansehen. Ein Gemälde, dessen Bäume schief stehen, bei dein
Perspektive und anatomischer Ban der dargestellten Menschen der Wirklichkeit
nicht entspricht, nennen Nur nicht unrealistisch, sondern falsch. Ein gleiches
gilt bei einer ungleichmäßigen Änderung der Größenverhältnisse, während Nur
uns eine gleichmäßige ohne weiteres gefallen lasseiu ein lebensgroßes Bild ist
nicht realistischer als ein verkleinertes. Bei einem Werke der Plastik ist uns
Wahrheit des geistige» Ausdrucks im allgemeinen wertvoller als die realistische
Behandlung der Haare oder der Haut, und bei einer dramatischen Aufführung
legen wir mehr Gewicht auf die Wahrheit der psychologischen Entwicklung als
auf Treue der Kostüme oder Echtheit der szenischen Einrichtung. Aber während
gewisse Uuwahrscheiulichkeiten oder Unmöglichkeiten völlig bedeutungslos er¬
scheinen, können geringfügige Naturwidrigkeiten eine ästhetische Wirkuug ver¬
nichten. Zu verlangen, jedes in Paris spielende Stück solle in französischer
Sprache und mit echt Pariser Kostümen aufgeführt werden, wäre einfach kindisch.
Aber wir erinnern uns, daß die Darstellung einer französischen Komödie einen
völlig verfehlten Eindruck hervorrief, uur weil der einen eleganten Vicomte
darstellende, im übrigen durchaus nicht talentlose Schauspieler zu kurze Bein-
kleider trug und seine geistvollen lind anmutigen Plaudereien im reinsten säch¬
sischen Dialekt zum besten gab. Und doch sind dergleichen Äußerlichkeiten im
Vergleich zu dem Werte der gesamten künstlerischen, insbesondre der dichterischen
Leistung von ganz untergeordneter Bedeutung.

Es wird wohl allgemein zugestanden werden, daß die Gegenwart empfind¬
licher gegen Abweichungen von der Natur geworden ist. Wir verlangen eine
Fülle realistischer Einzelheiten, von denen wohl jede für sich betrachtet un¬
wesentlich erscheinen mag, die aber in ihrer Gesamtheit zusammenwirken, um
das Kunstwerk zu etwas wahrhaft Organischen und Lebensvollem zu gestalten.
Man mag darin einen Aufschwung oder einen Niedergang unsrer Kunstent-
wicklung sehe», jedenfalls ist man genötigt, eine Verschiebung zu Gunsten des
Realismus als eine geschichtliche Thatsache anzuerkennen. Hat aber die Zahl
der Elemente, in denen sich das Kunstwerk der Wirklichkeit nähert, beträcht¬
lich zugenommen, so liegt die Frage auf der Hand, ob sich diese Zahl nicht
noch weiter vermehren lasse, ja warum eigentlich ein Kunstwerk nichr in allen
seinen Elementen mit der Wirklichkeit übereinstimmen solle. Und so ist denn
auch thatsächlich eine ,,exakte Reproduktion" der Wirklichkeit gefordert worden.

Ich weiß nicht, ob eine solche exakte Reproduktion der Wirklichkeit mög¬
lich ist. Gäbe es dergleichen Kunstwerke, so würde ich zwar von vornherein
keinen Anlaß finden, ihnen allein Daseinsberechtigung zuzusprechen und die
vollkommene Übereiustimniuug mit der Natur als allgemeingültiges ästhetisches
Prinzip hinzustellen. Aber ebenso wenig fällt es mir ein, die Daseiusberech-
tiguug von solchen Kunstwerken irgendwie in Frage zu stelle». Nicht um


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[0615] Der'Lindruck von Kunst und Wirklichkeit schlechterdings notwendig, bei andern für wünschenswert, wieder bei andern für völlig gleichgültig ansehen. Ein Gemälde, dessen Bäume schief stehen, bei dein Perspektive und anatomischer Ban der dargestellten Menschen der Wirklichkeit nicht entspricht, nennen Nur nicht unrealistisch, sondern falsch. Ein gleiches gilt bei einer ungleichmäßigen Änderung der Größenverhältnisse, während Nur uns eine gleichmäßige ohne weiteres gefallen lasseiu ein lebensgroßes Bild ist nicht realistischer als ein verkleinertes. Bei einem Werke der Plastik ist uns Wahrheit des geistige» Ausdrucks im allgemeinen wertvoller als die realistische Behandlung der Haare oder der Haut, und bei einer dramatischen Aufführung legen wir mehr Gewicht auf die Wahrheit der psychologischen Entwicklung als auf Treue der Kostüme oder Echtheit der szenischen Einrichtung. Aber während gewisse Uuwahrscheiulichkeiten oder Unmöglichkeiten völlig bedeutungslos er¬ scheinen, können geringfügige Naturwidrigkeiten eine ästhetische Wirkuug ver¬ nichten. Zu verlangen, jedes in Paris spielende Stück solle in französischer Sprache und mit echt Pariser Kostümen aufgeführt werden, wäre einfach kindisch. Aber wir erinnern uns, daß die Darstellung einer französischen Komödie einen völlig verfehlten Eindruck hervorrief, uur weil der einen eleganten Vicomte darstellende, im übrigen durchaus nicht talentlose Schauspieler zu kurze Bein- kleider trug und seine geistvollen lind anmutigen Plaudereien im reinsten säch¬ sischen Dialekt zum besten gab. Und doch sind dergleichen Äußerlichkeiten im Vergleich zu dem Werte der gesamten künstlerischen, insbesondre der dichterischen Leistung von ganz untergeordneter Bedeutung. Es wird wohl allgemein zugestanden werden, daß die Gegenwart empfind¬ licher gegen Abweichungen von der Natur geworden ist. Wir verlangen eine Fülle realistischer Einzelheiten, von denen wohl jede für sich betrachtet un¬ wesentlich erscheinen mag, die aber in ihrer Gesamtheit zusammenwirken, um das Kunstwerk zu etwas wahrhaft Organischen und Lebensvollem zu gestalten. Man mag darin einen Aufschwung oder einen Niedergang unsrer Kunstent- wicklung sehe», jedenfalls ist man genötigt, eine Verschiebung zu Gunsten des Realismus als eine geschichtliche Thatsache anzuerkennen. Hat aber die Zahl der Elemente, in denen sich das Kunstwerk der Wirklichkeit nähert, beträcht¬ lich zugenommen, so liegt die Frage auf der Hand, ob sich diese Zahl nicht noch weiter vermehren lasse, ja warum eigentlich ein Kunstwerk nichr in allen seinen Elementen mit der Wirklichkeit übereinstimmen solle. Und so ist denn auch thatsächlich eine ,,exakte Reproduktion" der Wirklichkeit gefordert worden. Ich weiß nicht, ob eine solche exakte Reproduktion der Wirklichkeit mög¬ lich ist. Gäbe es dergleichen Kunstwerke, so würde ich zwar von vornherein keinen Anlaß finden, ihnen allein Daseinsberechtigung zuzusprechen und die vollkommene Übereiustimniuug mit der Natur als allgemeingültiges ästhetisches Prinzip hinzustellen. Aber ebenso wenig fällt es mir ein, die Daseiusberech- tiguug von solchen Kunstwerken irgendwie in Frage zu stelle». Nicht um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/615>, abgerufen am 29.06.2024.