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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zum sozialen Frieden

Es ist auch solchen Arbeitgebern, die den zur Herrschaft gelangten Rück¬
sichten der neuern Sozialethik weniger zugänglich sind, nicht übermäßig schwer
gefallen, sich in die veränderte Lage zu schicken. Sie haben eingesehen, daß
die im Vereins- und Genossenschaftsleben gereiften Arbeiter sich schlechterdings
nicht mehr "feudalisiren" lassen, daß die von den Arbeitern geschaffenen Wohl-
fnhrtseinrichtungen lebensfähiger sind, als die ihnen vom Prinzipal geschenkten,
daß das uneingeschränkte Spiel vou Angebot und Nachfrage nicht allein die
Arbeitslöhne übermäßig drückt, sondern schließlich auch den Unternehmergewinn
vernichtet, und daß endlich allzu niedrige Löhne so unwirtschaftlich sind, wie
die Verwendung schlecht gefütterter Pferde in der Landwirtschaft. Die zuletzt
angeführte Wahrheit ist zuerst von Lord Brasseh bewiesen worden, der aus
den Auszeichnungen seines Vaters, eines großen Bauunternehmers, die merk¬
würdige Thatsache ermittelte, daß der Kilometer Eisenbahn in allen Ländern
der Erde gleich viel kostet, wie hoch oder wie niedrig die Arbeitslöhne auch
sein mögen, und daß die Herstellungskosten durch Erhöhung des Arbeitslohnes
eher vermindert als vermehrt werden. Daß der Arbeiter nicht als Produk¬
tionsmittel, sondern als ein Mensch, der gewisse Bedürfnisse hat, angesehen
und behandelt werden müsse, wird von den Arbeitgebern heute allgemein
anerkannt.

Der gelernte Arbeiter anderseits ist konservativ geworden. Während
damals, wo das Verbot der Koalitionen die Arbeitermassen in Verschwörer¬
banden verwandelt hatte, die Fabriken mit Kanonen ausgerüstet werdeu mußten,
erklären die heutigen Gewerkvereinsmitglieder, daß sie bei etwaigen Umsturz¬
versuchen mit den Arbeitgebern Schulter an Schulter kämpfen würden , weil
sie nicht allein ihre Privatersparnisse, sondern auch ein bedeutendes Körper¬
schaftsvermögen zu verteidigen haben. Brentanos Buch, worin die Geschichte
der Gewerkvereine bis zu ihrer gesetzlichen Anerkennung erzählt und ihr Wesen
klar gemacht wird, wird von Dr. von Schulze als bekannt vorausgesetzt. Leider
scheint er sich damit zu täuschen; die Urteile deutscher Zeitungen über die
englischen Gewerkvereine sind meist so schief wie möglich; auch die "freisinnige"
Presse hat kein Interesse daran, über die Sache Licht zu verbreiten, weil die
Hirsch-Dnnckerschen Gewerkvereine Kinder eines ganz andern Geistes sind.
I)r. von Schulze stellt im zweiten Kapitel des dritten Buches ausführlich und
für jeden Jndustriezweig besonders dar, wie von den Gewerkvereinen die
Streitigkeiten mit den Arbeitgebern behandelt werden und ans welchen Wegen
die gütliche Einigung herbeigeführt zu werden pflegt. Wenigstens diesen un¬
mittelbar praktisch wertvollsten Teil des Buches sollte kein größerer Arbeitgeber
und kein Verwaltnngsbeamter ungelesen lassen.

Bis zum vorigen Jahre konnten die Anarchisten und Sozialdemokraten
zum Beweise für ihre Behauptung, daß auf dem Boden der bestehenden Ge¬
sellschaftsordnung den Arbeitern nicht gründlich zu helfen sei, immer noch auf


Zum sozialen Frieden

Es ist auch solchen Arbeitgebern, die den zur Herrschaft gelangten Rück¬
sichten der neuern Sozialethik weniger zugänglich sind, nicht übermäßig schwer
gefallen, sich in die veränderte Lage zu schicken. Sie haben eingesehen, daß
die im Vereins- und Genossenschaftsleben gereiften Arbeiter sich schlechterdings
nicht mehr „feudalisiren" lassen, daß die von den Arbeitern geschaffenen Wohl-
fnhrtseinrichtungen lebensfähiger sind, als die ihnen vom Prinzipal geschenkten,
daß das uneingeschränkte Spiel vou Angebot und Nachfrage nicht allein die
Arbeitslöhne übermäßig drückt, sondern schließlich auch den Unternehmergewinn
vernichtet, und daß endlich allzu niedrige Löhne so unwirtschaftlich sind, wie
die Verwendung schlecht gefütterter Pferde in der Landwirtschaft. Die zuletzt
angeführte Wahrheit ist zuerst von Lord Brasseh bewiesen worden, der aus
den Auszeichnungen seines Vaters, eines großen Bauunternehmers, die merk¬
würdige Thatsache ermittelte, daß der Kilometer Eisenbahn in allen Ländern
der Erde gleich viel kostet, wie hoch oder wie niedrig die Arbeitslöhne auch
sein mögen, und daß die Herstellungskosten durch Erhöhung des Arbeitslohnes
eher vermindert als vermehrt werden. Daß der Arbeiter nicht als Produk¬
tionsmittel, sondern als ein Mensch, der gewisse Bedürfnisse hat, angesehen
und behandelt werden müsse, wird von den Arbeitgebern heute allgemein
anerkannt.

Der gelernte Arbeiter anderseits ist konservativ geworden. Während
damals, wo das Verbot der Koalitionen die Arbeitermassen in Verschwörer¬
banden verwandelt hatte, die Fabriken mit Kanonen ausgerüstet werdeu mußten,
erklären die heutigen Gewerkvereinsmitglieder, daß sie bei etwaigen Umsturz¬
versuchen mit den Arbeitgebern Schulter an Schulter kämpfen würden , weil
sie nicht allein ihre Privatersparnisse, sondern auch ein bedeutendes Körper¬
schaftsvermögen zu verteidigen haben. Brentanos Buch, worin die Geschichte
der Gewerkvereine bis zu ihrer gesetzlichen Anerkennung erzählt und ihr Wesen
klar gemacht wird, wird von Dr. von Schulze als bekannt vorausgesetzt. Leider
scheint er sich damit zu täuschen; die Urteile deutscher Zeitungen über die
englischen Gewerkvereine sind meist so schief wie möglich; auch die „freisinnige"
Presse hat kein Interesse daran, über die Sache Licht zu verbreiten, weil die
Hirsch-Dnnckerschen Gewerkvereine Kinder eines ganz andern Geistes sind.
I)r. von Schulze stellt im zweiten Kapitel des dritten Buches ausführlich und
für jeden Jndustriezweig besonders dar, wie von den Gewerkvereinen die
Streitigkeiten mit den Arbeitgebern behandelt werden und ans welchen Wegen
die gütliche Einigung herbeigeführt zu werden pflegt. Wenigstens diesen un¬
mittelbar praktisch wertvollsten Teil des Buches sollte kein größerer Arbeitgeber
und kein Verwaltnngsbeamter ungelesen lassen.

Bis zum vorigen Jahre konnten die Anarchisten und Sozialdemokraten
zum Beweise für ihre Behauptung, daß auf dem Boden der bestehenden Ge¬
sellschaftsordnung den Arbeitern nicht gründlich zu helfen sei, immer noch auf


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[0595] Zum sozialen Frieden Es ist auch solchen Arbeitgebern, die den zur Herrschaft gelangten Rück¬ sichten der neuern Sozialethik weniger zugänglich sind, nicht übermäßig schwer gefallen, sich in die veränderte Lage zu schicken. Sie haben eingesehen, daß die im Vereins- und Genossenschaftsleben gereiften Arbeiter sich schlechterdings nicht mehr „feudalisiren" lassen, daß die von den Arbeitern geschaffenen Wohl- fnhrtseinrichtungen lebensfähiger sind, als die ihnen vom Prinzipal geschenkten, daß das uneingeschränkte Spiel vou Angebot und Nachfrage nicht allein die Arbeitslöhne übermäßig drückt, sondern schließlich auch den Unternehmergewinn vernichtet, und daß endlich allzu niedrige Löhne so unwirtschaftlich sind, wie die Verwendung schlecht gefütterter Pferde in der Landwirtschaft. Die zuletzt angeführte Wahrheit ist zuerst von Lord Brasseh bewiesen worden, der aus den Auszeichnungen seines Vaters, eines großen Bauunternehmers, die merk¬ würdige Thatsache ermittelte, daß der Kilometer Eisenbahn in allen Ländern der Erde gleich viel kostet, wie hoch oder wie niedrig die Arbeitslöhne auch sein mögen, und daß die Herstellungskosten durch Erhöhung des Arbeitslohnes eher vermindert als vermehrt werden. Daß der Arbeiter nicht als Produk¬ tionsmittel, sondern als ein Mensch, der gewisse Bedürfnisse hat, angesehen und behandelt werden müsse, wird von den Arbeitgebern heute allgemein anerkannt. Der gelernte Arbeiter anderseits ist konservativ geworden. Während damals, wo das Verbot der Koalitionen die Arbeitermassen in Verschwörer¬ banden verwandelt hatte, die Fabriken mit Kanonen ausgerüstet werdeu mußten, erklären die heutigen Gewerkvereinsmitglieder, daß sie bei etwaigen Umsturz¬ versuchen mit den Arbeitgebern Schulter an Schulter kämpfen würden , weil sie nicht allein ihre Privatersparnisse, sondern auch ein bedeutendes Körper¬ schaftsvermögen zu verteidigen haben. Brentanos Buch, worin die Geschichte der Gewerkvereine bis zu ihrer gesetzlichen Anerkennung erzählt und ihr Wesen klar gemacht wird, wird von Dr. von Schulze als bekannt vorausgesetzt. Leider scheint er sich damit zu täuschen; die Urteile deutscher Zeitungen über die englischen Gewerkvereine sind meist so schief wie möglich; auch die „freisinnige" Presse hat kein Interesse daran, über die Sache Licht zu verbreiten, weil die Hirsch-Dnnckerschen Gewerkvereine Kinder eines ganz andern Geistes sind. I)r. von Schulze stellt im zweiten Kapitel des dritten Buches ausführlich und für jeden Jndustriezweig besonders dar, wie von den Gewerkvereinen die Streitigkeiten mit den Arbeitgebern behandelt werden und ans welchen Wegen die gütliche Einigung herbeigeführt zu werden pflegt. Wenigstens diesen un¬ mittelbar praktisch wertvollsten Teil des Buches sollte kein größerer Arbeitgeber und kein Verwaltnngsbeamter ungelesen lassen. Bis zum vorigen Jahre konnten die Anarchisten und Sozialdemokraten zum Beweise für ihre Behauptung, daß auf dem Boden der bestehenden Ge¬ sellschaftsordnung den Arbeitern nicht gründlich zu helfen sei, immer noch auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/595>, abgerufen am 29.06.2024.