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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur sozialen Frieden

Lobgesang der Maria Lukas 1, besonders Vers 51 bis 53) in den Vorder¬
grund. Wäre nicht heute, sagt einer von ihnen, ein stillschweigendes Ab¬
kommen getroffen, daß diese Worte einer armen Arbeiterfrau nicht in ihrem
unzweideutigen Sinne genommen werden dürften, sondern vom Geistlichen
"wegspiritualisirt" werden müßten, so würden sie wohl in manchen Ländern
von der Polizei verboten werden. So lange es Arme im Lande gebe, sei die
Hölle der natürliche Platz des Reichen. Als die arbeiterfreundlichen Erlasse
unsers Kaisers bekannt wurden, schloß ihn einer dieser Geistlichen, der Rep.
Nvwlands, in sein Gebet ein.

Das dritte Buch stellt in drei Kapiteln die sozialpolitische Erziehung der
Großindustrie, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in der Gro߬
industrie und die erst im vorigen Jahre begonnenen Organisativnsversuche der
ungelernten Arbeiter dar. Carlyle hatte die Arbeitgeber der Chartistenzeit als
skalpjagende Indianer bezeichnet, die tief unter dem feudalen Ritter stünden,
der seinen Hörigen doch wenigstens das zum Leben notwendige gewährt habe.
Sie hätten aber die Aufgabe, uoch über das "Rittertum der Arbeit" hinauf
zur Würde von "Hauptleuten der Industrie" aufzusteigen; sie hätten den Beruf,
Leiter der organisirten nationalen Produktion zu sein. Die englischen Arbeit¬
geber haben diesen Aufstieg thatsächlich vollzogen. Aus Dividendenjügern, die
im Arbeiter nur ein Produktionsmittel sahen, wurden sie zunächst wohlwollende
Feudalherren, die einerseits durch allerlei Wohlfahrtseinrichtungen für ihre
Leute sorgten, anderseits sich den unter ihrer Mitwirkung zustande gekommenen
Arbeiterschutzgesetzen fügten. Auf die dritte Stufe erhoben sie sich durch das
Zugeständnis der Koalitionsfreiheit, die, lange Zeit heftig bekämpft, den Ar¬
beitern von 1824 an stückweise gewährt wurde, und durch die erst 1871 bis
1876 erfolgte gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine. Während sich an¬
fänglich der Fabrikant durch die Zumutung, mit einem Gewerkvereinssekretnr
zu Verkehren, in seiner Ehre gekränkt fühlte, verhandelt er heute lieber mit
einem Vereinsvorstaud oder Ausschuß, als mit einem ungegliederten Arbeiter-
Haufen. Ja es ist der Fall vorgekommen, daß sich Arbeitgeber hilfesuchend
an einen Gewerkverein gewandt haben. Bereits 1887 wurde ein Ring der
Liverpooler Baumwvlleukaufleute mit Hilfe der Arbeiter gesprengt. Ein noch
gefährlicherer Ring bildete sich im Herbst 1889 unter Führung des Holländers
Steenstrand. Die Fabrikanten suchten den übermüßig in die Hohe getriebenen
Baumwvllenpreis durch Einstellung der Arbeit hinabzudrückeu. Da aber ge¬
wöhnlich in solchen Fällen einzelne Fabrikanten der Versuchung nicht wider¬
stehen können, durch Weiterarbeiten die Gunst der Lage auszunutzen, so wandte
sich der Verein der Arbeitgeber mit dem Ersuchen an den Gewerkverein, Fabriken,
die etwa fortzuarbeiten versuchten, durch Arbeitseinstellung zum Stillstand zu
bringen. Der Gewerkverein erklärte sich hierzu bereit. (Steenstrand ist ver¬
kracht; Anfang September dieses Jahres hat er Konkurs angemeldet.)


Zur sozialen Frieden

Lobgesang der Maria Lukas 1, besonders Vers 51 bis 53) in den Vorder¬
grund. Wäre nicht heute, sagt einer von ihnen, ein stillschweigendes Ab¬
kommen getroffen, daß diese Worte einer armen Arbeiterfrau nicht in ihrem
unzweideutigen Sinne genommen werden dürften, sondern vom Geistlichen
„wegspiritualisirt" werden müßten, so würden sie wohl in manchen Ländern
von der Polizei verboten werden. So lange es Arme im Lande gebe, sei die
Hölle der natürliche Platz des Reichen. Als die arbeiterfreundlichen Erlasse
unsers Kaisers bekannt wurden, schloß ihn einer dieser Geistlichen, der Rep.
Nvwlands, in sein Gebet ein.

Das dritte Buch stellt in drei Kapiteln die sozialpolitische Erziehung der
Großindustrie, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in der Gro߬
industrie und die erst im vorigen Jahre begonnenen Organisativnsversuche der
ungelernten Arbeiter dar. Carlyle hatte die Arbeitgeber der Chartistenzeit als
skalpjagende Indianer bezeichnet, die tief unter dem feudalen Ritter stünden,
der seinen Hörigen doch wenigstens das zum Leben notwendige gewährt habe.
Sie hätten aber die Aufgabe, uoch über das „Rittertum der Arbeit" hinauf
zur Würde von „Hauptleuten der Industrie" aufzusteigen; sie hätten den Beruf,
Leiter der organisirten nationalen Produktion zu sein. Die englischen Arbeit¬
geber haben diesen Aufstieg thatsächlich vollzogen. Aus Dividendenjügern, die
im Arbeiter nur ein Produktionsmittel sahen, wurden sie zunächst wohlwollende
Feudalherren, die einerseits durch allerlei Wohlfahrtseinrichtungen für ihre
Leute sorgten, anderseits sich den unter ihrer Mitwirkung zustande gekommenen
Arbeiterschutzgesetzen fügten. Auf die dritte Stufe erhoben sie sich durch das
Zugeständnis der Koalitionsfreiheit, die, lange Zeit heftig bekämpft, den Ar¬
beitern von 1824 an stückweise gewährt wurde, und durch die erst 1871 bis
1876 erfolgte gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine. Während sich an¬
fänglich der Fabrikant durch die Zumutung, mit einem Gewerkvereinssekretnr
zu Verkehren, in seiner Ehre gekränkt fühlte, verhandelt er heute lieber mit
einem Vereinsvorstaud oder Ausschuß, als mit einem ungegliederten Arbeiter-
Haufen. Ja es ist der Fall vorgekommen, daß sich Arbeitgeber hilfesuchend
an einen Gewerkverein gewandt haben. Bereits 1887 wurde ein Ring der
Liverpooler Baumwvlleukaufleute mit Hilfe der Arbeiter gesprengt. Ein noch
gefährlicherer Ring bildete sich im Herbst 1889 unter Führung des Holländers
Steenstrand. Die Fabrikanten suchten den übermüßig in die Hohe getriebenen
Baumwvllenpreis durch Einstellung der Arbeit hinabzudrückeu. Da aber ge¬
wöhnlich in solchen Fällen einzelne Fabrikanten der Versuchung nicht wider¬
stehen können, durch Weiterarbeiten die Gunst der Lage auszunutzen, so wandte
sich der Verein der Arbeitgeber mit dem Ersuchen an den Gewerkverein, Fabriken,
die etwa fortzuarbeiten versuchten, durch Arbeitseinstellung zum Stillstand zu
bringen. Der Gewerkverein erklärte sich hierzu bereit. (Steenstrand ist ver¬
kracht; Anfang September dieses Jahres hat er Konkurs angemeldet.)


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[0594] Zur sozialen Frieden Lobgesang der Maria Lukas 1, besonders Vers 51 bis 53) in den Vorder¬ grund. Wäre nicht heute, sagt einer von ihnen, ein stillschweigendes Ab¬ kommen getroffen, daß diese Worte einer armen Arbeiterfrau nicht in ihrem unzweideutigen Sinne genommen werden dürften, sondern vom Geistlichen „wegspiritualisirt" werden müßten, so würden sie wohl in manchen Ländern von der Polizei verboten werden. So lange es Arme im Lande gebe, sei die Hölle der natürliche Platz des Reichen. Als die arbeiterfreundlichen Erlasse unsers Kaisers bekannt wurden, schloß ihn einer dieser Geistlichen, der Rep. Nvwlands, in sein Gebet ein. Das dritte Buch stellt in drei Kapiteln die sozialpolitische Erziehung der Großindustrie, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in der Gro߬ industrie und die erst im vorigen Jahre begonnenen Organisativnsversuche der ungelernten Arbeiter dar. Carlyle hatte die Arbeitgeber der Chartistenzeit als skalpjagende Indianer bezeichnet, die tief unter dem feudalen Ritter stünden, der seinen Hörigen doch wenigstens das zum Leben notwendige gewährt habe. Sie hätten aber die Aufgabe, uoch über das „Rittertum der Arbeit" hinauf zur Würde von „Hauptleuten der Industrie" aufzusteigen; sie hätten den Beruf, Leiter der organisirten nationalen Produktion zu sein. Die englischen Arbeit¬ geber haben diesen Aufstieg thatsächlich vollzogen. Aus Dividendenjügern, die im Arbeiter nur ein Produktionsmittel sahen, wurden sie zunächst wohlwollende Feudalherren, die einerseits durch allerlei Wohlfahrtseinrichtungen für ihre Leute sorgten, anderseits sich den unter ihrer Mitwirkung zustande gekommenen Arbeiterschutzgesetzen fügten. Auf die dritte Stufe erhoben sie sich durch das Zugeständnis der Koalitionsfreiheit, die, lange Zeit heftig bekämpft, den Ar¬ beitern von 1824 an stückweise gewährt wurde, und durch die erst 1871 bis 1876 erfolgte gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine. Während sich an¬ fänglich der Fabrikant durch die Zumutung, mit einem Gewerkvereinssekretnr zu Verkehren, in seiner Ehre gekränkt fühlte, verhandelt er heute lieber mit einem Vereinsvorstaud oder Ausschuß, als mit einem ungegliederten Arbeiter- Haufen. Ja es ist der Fall vorgekommen, daß sich Arbeitgeber hilfesuchend an einen Gewerkverein gewandt haben. Bereits 1887 wurde ein Ring der Liverpooler Baumwvlleukaufleute mit Hilfe der Arbeiter gesprengt. Ein noch gefährlicherer Ring bildete sich im Herbst 1889 unter Führung des Holländers Steenstrand. Die Fabrikanten suchten den übermüßig in die Hohe getriebenen Baumwvllenpreis durch Einstellung der Arbeit hinabzudrückeu. Da aber ge¬ wöhnlich in solchen Fällen einzelne Fabrikanten der Versuchung nicht wider¬ stehen können, durch Weiterarbeiten die Gunst der Lage auszunutzen, so wandte sich der Verein der Arbeitgeber mit dem Ersuchen an den Gewerkverein, Fabriken, die etwa fortzuarbeiten versuchten, durch Arbeitseinstellung zum Stillstand zu bringen. Der Gewerkverein erklärte sich hierzu bereit. (Steenstrand ist ver¬ kracht; Anfang September dieses Jahres hat er Konkurs angemeldet.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/594>, abgerufen am 29.06.2024.