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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zum sozialen Frieden

Wissenschaft zu einem bloßen Mittel für praktische Zwecke (Wvoir xonr or"z-
voir g,tin alö xourvoir) und die Nnffassung der Menschheit als eines Orga¬
nismus, sondern auch die Hochschätzung der gläubigen Zeiten (den mittelalter¬
lichen Gescllschaftsznstand bezeichnet Comte als das Meisterstück menschlicher
Weisheit) und die Überzeugung, daß Reformen nicht von oben herab ans
politischem Wege, soudern nur vo" innen heraus durch sittliche Erneuerung
bewirkt werden können, weil eben die Gesellschaft ein Organismus ist, nicht
ein Mechanismus, der willkürlich gemacht und ausgebessert werden kann. Den
oben erwähnten Umschwung zu Gunsten der Gewerkvereine haben die englischen
Positivsten ganz wesentlich gefördert, weil ihrer Auffassung die Wirksamkeit
dieser Körperschaften im großen und ganzen entspricht.

Der Sozialismus ist nach l)r. von Schulze eine unabweisbare Folge der
ältern Nationalökonomie. Nieardo hatte zu beweisen gesucht, daß die Grund¬
rente wachse "mit zunehmendem Nationalreichtum und der Schwierigkeit, die
wachsende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versehen." Das Steigen der
Lebensmittelpreise müsse notwendigerweise den thatsächlichen Arbeitslohn Herab¬
drücken, möge der nominelle auch vielleicht steigen. "Das Interesse des Grund¬
herrn ist daher jederzeit dem aller ander" Stäude in der Gesellschaft entgegen¬
gesetzt." Da aber, sagt der Verfasser, offenbar feder Kapitalist ein ganz
ähnliches Rentenmonopol besitzt wie der Grundbesitzer, so ist von Nieardo aus
nur ein kleiner Schritt zu der sozinldeiuokratischen Behauptung, daß das In¬
teresse der Besitzenden dem ganz wenig oder nichts Besitzenden entgegengesetzt sei.
Daraus folgern die Sozialdemokratin ganz richtig weiter, daß unter der Herr¬
schaft der kapitalistischen Produktionsweise eine Besserung der Lage des Arbeiter¬
standes nicht möglich und alle darauf verwendete Mühe weggeworfen sei.
Diese Folgerung wurde aber nur ans dein Festlande gezogen. In England
geschieht es nnr vereinzelt, und zwar ans dein einfachen Grunde, weil man
dort den Beweis des Gegenteils, nämlich die Besserung der Lage der
arbeitenden Klassen auf dein Boden der heutigen Gesellschaftsordnung greifbar
vor Augen sieht. Was Nur bei uns unter Sozialdemokratie verstehe,:, das
wird in England von den Anarchisten vertreten, die meist Ausländer sind.
Was sich in England Sozialisten nennt, verfolgt nicht utopische, sondern prak¬
tische Ziele auf gesetzlichem Wege. Der gelernte Arbeiter, der Gewerkvereinler,
bezeichnet allen Svzialisuuls als Zeitverschwedung. Er mag nichts Nüssen
von Eingriffen des Staates und vou Staatshilfe, nach denen die Sozialisten
verlangen, weil er der Ansicht ist, daß der Arbeiter selbst sein Interesse am
besten versteht und es nur besten wahrt. Sozialistische Gedanken sind daher,
natürlich ohne revolutionäre Absichten, mehr in den höhern Gesellschaftsklassen,
namentlich bei der Geistlichkeit wirksam als bei den Arbeitern. Die Prediger
dieser Richtung stellen die Freundlichkeit Christi gegen die Armen und seine
Härte gegen die Reichen und solche Schriftworte wie das Magnifikat (den


Grenzboten III 1890 74
Zum sozialen Frieden

Wissenschaft zu einem bloßen Mittel für praktische Zwecke (Wvoir xonr or«z-
voir g,tin alö xourvoir) und die Nnffassung der Menschheit als eines Orga¬
nismus, sondern auch die Hochschätzung der gläubigen Zeiten (den mittelalter¬
lichen Gescllschaftsznstand bezeichnet Comte als das Meisterstück menschlicher
Weisheit) und die Überzeugung, daß Reformen nicht von oben herab ans
politischem Wege, soudern nur vo» innen heraus durch sittliche Erneuerung
bewirkt werden können, weil eben die Gesellschaft ein Organismus ist, nicht
ein Mechanismus, der willkürlich gemacht und ausgebessert werden kann. Den
oben erwähnten Umschwung zu Gunsten der Gewerkvereine haben die englischen
Positivsten ganz wesentlich gefördert, weil ihrer Auffassung die Wirksamkeit
dieser Körperschaften im großen und ganzen entspricht.

Der Sozialismus ist nach l)r. von Schulze eine unabweisbare Folge der
ältern Nationalökonomie. Nieardo hatte zu beweisen gesucht, daß die Grund¬
rente wachse „mit zunehmendem Nationalreichtum und der Schwierigkeit, die
wachsende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versehen." Das Steigen der
Lebensmittelpreise müsse notwendigerweise den thatsächlichen Arbeitslohn Herab¬
drücken, möge der nominelle auch vielleicht steigen. „Das Interesse des Grund¬
herrn ist daher jederzeit dem aller ander» Stäude in der Gesellschaft entgegen¬
gesetzt." Da aber, sagt der Verfasser, offenbar feder Kapitalist ein ganz
ähnliches Rentenmonopol besitzt wie der Grundbesitzer, so ist von Nieardo aus
nur ein kleiner Schritt zu der sozinldeiuokratischen Behauptung, daß das In¬
teresse der Besitzenden dem ganz wenig oder nichts Besitzenden entgegengesetzt sei.
Daraus folgern die Sozialdemokratin ganz richtig weiter, daß unter der Herr¬
schaft der kapitalistischen Produktionsweise eine Besserung der Lage des Arbeiter¬
standes nicht möglich und alle darauf verwendete Mühe weggeworfen sei.
Diese Folgerung wurde aber nur ans dein Festlande gezogen. In England
geschieht es nnr vereinzelt, und zwar ans dein einfachen Grunde, weil man
dort den Beweis des Gegenteils, nämlich die Besserung der Lage der
arbeitenden Klassen auf dein Boden der heutigen Gesellschaftsordnung greifbar
vor Augen sieht. Was Nur bei uns unter Sozialdemokratie verstehe,:, das
wird in England von den Anarchisten vertreten, die meist Ausländer sind.
Was sich in England Sozialisten nennt, verfolgt nicht utopische, sondern prak¬
tische Ziele auf gesetzlichem Wege. Der gelernte Arbeiter, der Gewerkvereinler,
bezeichnet allen Svzialisuuls als Zeitverschwedung. Er mag nichts Nüssen
von Eingriffen des Staates und vou Staatshilfe, nach denen die Sozialisten
verlangen, weil er der Ansicht ist, daß der Arbeiter selbst sein Interesse am
besten versteht und es nur besten wahrt. Sozialistische Gedanken sind daher,
natürlich ohne revolutionäre Absichten, mehr in den höhern Gesellschaftsklassen,
namentlich bei der Geistlichkeit wirksam als bei den Arbeitern. Die Prediger
dieser Richtung stellen die Freundlichkeit Christi gegen die Armen und seine
Härte gegen die Reichen und solche Schriftworte wie das Magnifikat (den


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[0593] Zum sozialen Frieden Wissenschaft zu einem bloßen Mittel für praktische Zwecke (Wvoir xonr or«z- voir g,tin alö xourvoir) und die Nnffassung der Menschheit als eines Orga¬ nismus, sondern auch die Hochschätzung der gläubigen Zeiten (den mittelalter¬ lichen Gescllschaftsznstand bezeichnet Comte als das Meisterstück menschlicher Weisheit) und die Überzeugung, daß Reformen nicht von oben herab ans politischem Wege, soudern nur vo» innen heraus durch sittliche Erneuerung bewirkt werden können, weil eben die Gesellschaft ein Organismus ist, nicht ein Mechanismus, der willkürlich gemacht und ausgebessert werden kann. Den oben erwähnten Umschwung zu Gunsten der Gewerkvereine haben die englischen Positivsten ganz wesentlich gefördert, weil ihrer Auffassung die Wirksamkeit dieser Körperschaften im großen und ganzen entspricht. Der Sozialismus ist nach l)r. von Schulze eine unabweisbare Folge der ältern Nationalökonomie. Nieardo hatte zu beweisen gesucht, daß die Grund¬ rente wachse „mit zunehmendem Nationalreichtum und der Schwierigkeit, die wachsende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versehen." Das Steigen der Lebensmittelpreise müsse notwendigerweise den thatsächlichen Arbeitslohn Herab¬ drücken, möge der nominelle auch vielleicht steigen. „Das Interesse des Grund¬ herrn ist daher jederzeit dem aller ander» Stäude in der Gesellschaft entgegen¬ gesetzt." Da aber, sagt der Verfasser, offenbar feder Kapitalist ein ganz ähnliches Rentenmonopol besitzt wie der Grundbesitzer, so ist von Nieardo aus nur ein kleiner Schritt zu der sozinldeiuokratischen Behauptung, daß das In¬ teresse der Besitzenden dem ganz wenig oder nichts Besitzenden entgegengesetzt sei. Daraus folgern die Sozialdemokratin ganz richtig weiter, daß unter der Herr¬ schaft der kapitalistischen Produktionsweise eine Besserung der Lage des Arbeiter¬ standes nicht möglich und alle darauf verwendete Mühe weggeworfen sei. Diese Folgerung wurde aber nur ans dein Festlande gezogen. In England geschieht es nnr vereinzelt, und zwar ans dein einfachen Grunde, weil man dort den Beweis des Gegenteils, nämlich die Besserung der Lage der arbeitenden Klassen auf dein Boden der heutigen Gesellschaftsordnung greifbar vor Augen sieht. Was Nur bei uns unter Sozialdemokratie verstehe,:, das wird in England von den Anarchisten vertreten, die meist Ausländer sind. Was sich in England Sozialisten nennt, verfolgt nicht utopische, sondern prak¬ tische Ziele auf gesetzlichem Wege. Der gelernte Arbeiter, der Gewerkvereinler, bezeichnet allen Svzialisuuls als Zeitverschwedung. Er mag nichts Nüssen von Eingriffen des Staates und vou Staatshilfe, nach denen die Sozialisten verlangen, weil er der Ansicht ist, daß der Arbeiter selbst sein Interesse am besten versteht und es nur besten wahrt. Sozialistische Gedanken sind daher, natürlich ohne revolutionäre Absichten, mehr in den höhern Gesellschaftsklassen, namentlich bei der Geistlichkeit wirksam als bei den Arbeitern. Die Prediger dieser Richtung stellen die Freundlichkeit Christi gegen die Armen und seine Härte gegen die Reichen und solche Schriftworte wie das Magnifikat (den Grenzboten III 1890 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/593>, abgerufen am 29.06.2024.