Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum socialen Frieden

vereine zur Geltung, die bis zum Jahre 1867 von den Konservativen als
revolutionär, von den Liberalen wegen angeblicher Beschränkung der indivi¬
duellen Freiheit verschrieen wurde". Ihm zu Ehren wurde eine jener Anstalten
im Osten Londons, die für Volkserziehung im weitesten Sinne des Wortes
sorgen, Toynbee Hall genannt. I>r. von Schulze hat sie im Jahrgang 1887
der Grenzboten beschrieben, und es gereicht ihm zur Freude, wie er in dem
vorliegenden Buche sagt, die großartigen Fortschritte festzustellen, die die
Anstalt in der kurzen seitdem verflossenen Zeit gemacht hat; "sie ist heute
der Mittelpunkt aller der Geselligkeit und Bildung dienenden Bestrebungen
ihres Bezirkes." Durch diese Anstalten ist die Kluft überbrückt worden, die
noch vor wenigen Jahrzehnten zwischen dem Westen und dem Osten Londons
gähnte und beide Stadtteile zu zwei einander fremden Welten machte. In
diesen Anstalten verkehren Aristokraten, Minister, Parlamentsmitglieder, An¬
gehörige der Universitäten auf gleichem Fuße mit dem Arbeiter, der Arbeiter
wird nicht bloß in seinem äußern Benehmen ein Gentleman, sondern häufig
genug ein wirklich gebildeter Mann. Dank der "Uuiversitäts-Ausdehnungs-
beweguug," deren Studium unsern deutscheu Vvlksbilduugsvereinen mit ihrem
jämmerlichen Wandervortragsweseu dringend empfohlen sein mag, arbeiten sich
^ohlenhauer und Spinner zu examinirten Mitgliedern der Universität empor, die
Universität wird denen, die Oxford und Cambridge uicht beziehen können, an ihren
Wohnort gebracht. Wahrend vor fünfzig Jahren den wenigen Gebildeten und
Reichen ein "Chaos von Unwissenheit und Elend" gegenüberstand, erwächst unter
dem Einfluß dieser vielseitigen Bestrebungen ein Volk, in dein sich alle Klassen
der Gesellschaft solidarisch verbunden wissen, dessen ärmere Elemente die Kultur¬
güter der Nation als ihr Eigentum hochschätzen, und in dem eine wirkliche
öffentliche Meinung möglich ist. In zahlreichen Klubs und Vereinen, die im
Anschluß an diese Anstalten gegründet wurden, haben die vordem zügellosen
Horden der Weltstadt das Selfgovernment gelernt. In Mädcheuvereinen wird
mich die weibliche Jugend gebildet, und tu deu Abendgesellschaften, in deuen
getanzt wird, herrscht ein so anständiger Ton, daß vornehme Damen kein Be¬
denken zu tragen brauche,?, sie zu besuchen.

Aber nicht bloß die konservativen und gemäßigt liberalen, sondern auch
die radikalen Richtungen sind von der durch Carlyle eingeleiteten antiiudivi-
dualistischen Strömung ergriffen worden. An die Stelle des ältern Radika¬
lismus der Vright und Cobden, die das leüskW lÄir<z verkündigten, treten der
Positivismus und der Socialismus.

Die Grundsätze des Positivismus sind erst kürzlich von E. König in den
Grenzboten (Ur. 33) dargestellt worden. Was Comte von Carlyle unterscheidet,
ist die gänzliche Beseitigung des Jenseits; er ersetzt Gott dnrch die Menschheit,
und glaubt, daß die moderne Soziologie es möglich mache, die Selbstsucht der
Liebe nnterzuvrdne". Beiden gemeinsam ist nicht allein die Herabsetzung der


Zum socialen Frieden

vereine zur Geltung, die bis zum Jahre 1867 von den Konservativen als
revolutionär, von den Liberalen wegen angeblicher Beschränkung der indivi¬
duellen Freiheit verschrieen wurde». Ihm zu Ehren wurde eine jener Anstalten
im Osten Londons, die für Volkserziehung im weitesten Sinne des Wortes
sorgen, Toynbee Hall genannt. I>r. von Schulze hat sie im Jahrgang 1887
der Grenzboten beschrieben, und es gereicht ihm zur Freude, wie er in dem
vorliegenden Buche sagt, die großartigen Fortschritte festzustellen, die die
Anstalt in der kurzen seitdem verflossenen Zeit gemacht hat; „sie ist heute
der Mittelpunkt aller der Geselligkeit und Bildung dienenden Bestrebungen
ihres Bezirkes." Durch diese Anstalten ist die Kluft überbrückt worden, die
noch vor wenigen Jahrzehnten zwischen dem Westen und dem Osten Londons
gähnte und beide Stadtteile zu zwei einander fremden Welten machte. In
diesen Anstalten verkehren Aristokraten, Minister, Parlamentsmitglieder, An¬
gehörige der Universitäten auf gleichem Fuße mit dem Arbeiter, der Arbeiter
wird nicht bloß in seinem äußern Benehmen ein Gentleman, sondern häufig
genug ein wirklich gebildeter Mann. Dank der „Uuiversitäts-Ausdehnungs-
beweguug," deren Studium unsern deutscheu Vvlksbilduugsvereinen mit ihrem
jämmerlichen Wandervortragsweseu dringend empfohlen sein mag, arbeiten sich
^ohlenhauer und Spinner zu examinirten Mitgliedern der Universität empor, die
Universität wird denen, die Oxford und Cambridge uicht beziehen können, an ihren
Wohnort gebracht. Wahrend vor fünfzig Jahren den wenigen Gebildeten und
Reichen ein „Chaos von Unwissenheit und Elend" gegenüberstand, erwächst unter
dem Einfluß dieser vielseitigen Bestrebungen ein Volk, in dein sich alle Klassen
der Gesellschaft solidarisch verbunden wissen, dessen ärmere Elemente die Kultur¬
güter der Nation als ihr Eigentum hochschätzen, und in dem eine wirkliche
öffentliche Meinung möglich ist. In zahlreichen Klubs und Vereinen, die im
Anschluß an diese Anstalten gegründet wurden, haben die vordem zügellosen
Horden der Weltstadt das Selfgovernment gelernt. In Mädcheuvereinen wird
mich die weibliche Jugend gebildet, und tu deu Abendgesellschaften, in deuen
getanzt wird, herrscht ein so anständiger Ton, daß vornehme Damen kein Be¬
denken zu tragen brauche,?, sie zu besuchen.

Aber nicht bloß die konservativen und gemäßigt liberalen, sondern auch
die radikalen Richtungen sind von der durch Carlyle eingeleiteten antiiudivi-
dualistischen Strömung ergriffen worden. An die Stelle des ältern Radika¬
lismus der Vright und Cobden, die das leüskW lÄir<z verkündigten, treten der
Positivismus und der Socialismus.

Die Grundsätze des Positivismus sind erst kürzlich von E. König in den
Grenzboten (Ur. 33) dargestellt worden. Was Comte von Carlyle unterscheidet,
ist die gänzliche Beseitigung des Jenseits; er ersetzt Gott dnrch die Menschheit,
und glaubt, daß die moderne Soziologie es möglich mache, die Selbstsucht der
Liebe nnterzuvrdne». Beiden gemeinsam ist nicht allein die Herabsetzung der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0592" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208529"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum socialen Frieden</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1834" prev="#ID_1833"> vereine zur Geltung, die bis zum Jahre 1867 von den Konservativen als<lb/>
revolutionär, von den Liberalen wegen angeblicher Beschränkung der indivi¬<lb/>
duellen Freiheit verschrieen wurde». Ihm zu Ehren wurde eine jener Anstalten<lb/>
im Osten Londons, die für Volkserziehung im weitesten Sinne des Wortes<lb/>
sorgen, Toynbee Hall genannt. I&gt;r. von Schulze hat sie im Jahrgang 1887<lb/>
der Grenzboten beschrieben, und es gereicht ihm zur Freude, wie er in dem<lb/>
vorliegenden Buche sagt, die großartigen Fortschritte festzustellen, die die<lb/>
Anstalt in der kurzen seitdem verflossenen Zeit gemacht hat; &#x201E;sie ist heute<lb/>
der Mittelpunkt aller der Geselligkeit und Bildung dienenden Bestrebungen<lb/>
ihres Bezirkes." Durch diese Anstalten ist die Kluft überbrückt worden, die<lb/>
noch vor wenigen Jahrzehnten zwischen dem Westen und dem Osten Londons<lb/>
gähnte und beide Stadtteile zu zwei einander fremden Welten machte. In<lb/>
diesen Anstalten verkehren Aristokraten, Minister, Parlamentsmitglieder, An¬<lb/>
gehörige der Universitäten auf gleichem Fuße mit dem Arbeiter, der Arbeiter<lb/>
wird nicht bloß in seinem äußern Benehmen ein Gentleman, sondern häufig<lb/>
genug ein wirklich gebildeter Mann. Dank der &#x201E;Uuiversitäts-Ausdehnungs-<lb/>
beweguug," deren Studium unsern deutscheu Vvlksbilduugsvereinen mit ihrem<lb/>
jämmerlichen Wandervortragsweseu dringend empfohlen sein mag, arbeiten sich<lb/>
^ohlenhauer und Spinner zu examinirten Mitgliedern der Universität empor, die<lb/>
Universität wird denen, die Oxford und Cambridge uicht beziehen können, an ihren<lb/>
Wohnort gebracht. Wahrend vor fünfzig Jahren den wenigen Gebildeten und<lb/>
Reichen ein &#x201E;Chaos von Unwissenheit und Elend" gegenüberstand, erwächst unter<lb/>
dem Einfluß dieser vielseitigen Bestrebungen ein Volk, in dein sich alle Klassen<lb/>
der Gesellschaft solidarisch verbunden wissen, dessen ärmere Elemente die Kultur¬<lb/>
güter der Nation als ihr Eigentum hochschätzen, und in dem eine wirkliche<lb/>
öffentliche Meinung möglich ist. In zahlreichen Klubs und Vereinen, die im<lb/>
Anschluß an diese Anstalten gegründet wurden, haben die vordem zügellosen<lb/>
Horden der Weltstadt das Selfgovernment gelernt. In Mädcheuvereinen wird<lb/>
mich die weibliche Jugend gebildet, und tu deu Abendgesellschaften, in deuen<lb/>
getanzt wird, herrscht ein so anständiger Ton, daß vornehme Damen kein Be¬<lb/>
denken zu tragen brauche,?, sie zu besuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1835"> Aber nicht bloß die konservativen und gemäßigt liberalen, sondern auch<lb/>
die radikalen Richtungen sind von der durch Carlyle eingeleiteten antiiudivi-<lb/>
dualistischen Strömung ergriffen worden. An die Stelle des ältern Radika¬<lb/>
lismus der Vright und Cobden, die das leüskW lÄir&lt;z verkündigten, treten der<lb/>
Positivismus und der Socialismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1836" next="#ID_1837"> Die Grundsätze des Positivismus sind erst kürzlich von E. König in den<lb/>
Grenzboten (Ur. 33) dargestellt worden. Was Comte von Carlyle unterscheidet,<lb/>
ist die gänzliche Beseitigung des Jenseits; er ersetzt Gott dnrch die Menschheit,<lb/>
und glaubt, daß die moderne Soziologie es möglich mache, die Selbstsucht der<lb/>
Liebe nnterzuvrdne».  Beiden gemeinsam ist nicht allein die Herabsetzung der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0592] Zum socialen Frieden vereine zur Geltung, die bis zum Jahre 1867 von den Konservativen als revolutionär, von den Liberalen wegen angeblicher Beschränkung der indivi¬ duellen Freiheit verschrieen wurde». Ihm zu Ehren wurde eine jener Anstalten im Osten Londons, die für Volkserziehung im weitesten Sinne des Wortes sorgen, Toynbee Hall genannt. I>r. von Schulze hat sie im Jahrgang 1887 der Grenzboten beschrieben, und es gereicht ihm zur Freude, wie er in dem vorliegenden Buche sagt, die großartigen Fortschritte festzustellen, die die Anstalt in der kurzen seitdem verflossenen Zeit gemacht hat; „sie ist heute der Mittelpunkt aller der Geselligkeit und Bildung dienenden Bestrebungen ihres Bezirkes." Durch diese Anstalten ist die Kluft überbrückt worden, die noch vor wenigen Jahrzehnten zwischen dem Westen und dem Osten Londons gähnte und beide Stadtteile zu zwei einander fremden Welten machte. In diesen Anstalten verkehren Aristokraten, Minister, Parlamentsmitglieder, An¬ gehörige der Universitäten auf gleichem Fuße mit dem Arbeiter, der Arbeiter wird nicht bloß in seinem äußern Benehmen ein Gentleman, sondern häufig genug ein wirklich gebildeter Mann. Dank der „Uuiversitäts-Ausdehnungs- beweguug," deren Studium unsern deutscheu Vvlksbilduugsvereinen mit ihrem jämmerlichen Wandervortragsweseu dringend empfohlen sein mag, arbeiten sich ^ohlenhauer und Spinner zu examinirten Mitgliedern der Universität empor, die Universität wird denen, die Oxford und Cambridge uicht beziehen können, an ihren Wohnort gebracht. Wahrend vor fünfzig Jahren den wenigen Gebildeten und Reichen ein „Chaos von Unwissenheit und Elend" gegenüberstand, erwächst unter dem Einfluß dieser vielseitigen Bestrebungen ein Volk, in dein sich alle Klassen der Gesellschaft solidarisch verbunden wissen, dessen ärmere Elemente die Kultur¬ güter der Nation als ihr Eigentum hochschätzen, und in dem eine wirkliche öffentliche Meinung möglich ist. In zahlreichen Klubs und Vereinen, die im Anschluß an diese Anstalten gegründet wurden, haben die vordem zügellosen Horden der Weltstadt das Selfgovernment gelernt. In Mädcheuvereinen wird mich die weibliche Jugend gebildet, und tu deu Abendgesellschaften, in deuen getanzt wird, herrscht ein so anständiger Ton, daß vornehme Damen kein Be¬ denken zu tragen brauche,?, sie zu besuchen. Aber nicht bloß die konservativen und gemäßigt liberalen, sondern auch die radikalen Richtungen sind von der durch Carlyle eingeleiteten antiiudivi- dualistischen Strömung ergriffen worden. An die Stelle des ältern Radika¬ lismus der Vright und Cobden, die das leüskW lÄir<z verkündigten, treten der Positivismus und der Socialismus. Die Grundsätze des Positivismus sind erst kürzlich von E. König in den Grenzboten (Ur. 33) dargestellt worden. Was Comte von Carlyle unterscheidet, ist die gänzliche Beseitigung des Jenseits; er ersetzt Gott dnrch die Menschheit, und glaubt, daß die moderne Soziologie es möglich mache, die Selbstsucht der Liebe nnterzuvrdne». Beiden gemeinsam ist nicht allein die Herabsetzung der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/592
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/592>, abgerufen am 29.06.2024.