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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zum sozialen Frieden

das Christentum der Formen, der Kultusfragen, der Lehrsatze, die Theorie des
Christentums; über die Praxis des Christentums, das Wochentagschristcutum,
gebe es keinen Streit, gerade dieses aber sei die Hauptsache. Die Genossen-
schaften sind Körperschaften, t'i'crwrniwtss, in dem Sinne Carlyles. Sie be¬
weisen ihre christliche und brüderliche Gesinnung n. n. durch den Grundsatz,
es dürfe nicht zu Schleuderpreisen eingekauft werden, die nur durch über¬
mäßige!? Druck auf die Arbeiter möglich werde". Am zahlreichsten sind die
Konsumvereine. Ans ihnen erwachsen häufig Genossenschaften für Häuserbau,
indem so die gewinnbringende Anlage der erzielten Überschüsse sehr schön mit
einer weiter" höchst wichtigen Art der Selbsthilfe verbunden wird. Die Pro-
duktivgenossenschaften sind das Lieblings- aber zugleich auch das Schmerzens¬
kind der Bewegung. Es ist richtig, daß viele Versuche sowohl von Arbeit¬
geber", auf dem Wege der Gewinnbeteiligung dahin zu gelangen, wie von
Arbeitern, solche mit den anderweit erzielten Überschüssen zu gründen, ver¬
unglückt sind. Produktivgenossenschaften der letztern Art Pflegen, wenn sie
geschäftlich gedeihen, gewöhnlich an dem Umstände zu scheitern, daß die zu
Kapitalisten gewordenen Arbeiter selbst nach kapitalistischen Grundsätzen Ver¬
fahren und ihre an der Gründung nicht beteiligten Mitarbeiter von dem Ge¬
winn ausschließen wollen. Aber es geht, wie man aus den vom Verfasser
angeführten Thatsachen sieht, zu weit, wenn vor einiger Zeit viele deutsche
Zeitungen wie auf Verabredung verkündigten, alle derartigen Unternehmungen
ohne Ausnahme seien mißglückt und die Sache sei völlig hoffnungslos.

"Wenn der Kampf gegen den Individualismus -- sagt der Verfasser, indem
er zu Pusey und dessen Schule übergeht -- das Merkmal des neunzehnten Jahr¬
hunderts ist, so hat unter den sich daraus ergebenden Richtungen nirgends
die reaktionäre gefehlt. Diese erklärt sich aus der Neigung der meisten Menschen,
die relative Berechtigung des Gegners zu verkennen." Der Verfasser verwirft
also die schließlich nach Rom führende pusehitische Bewegung, wie Carlvle und
die Mehrheit des gut Protestnutischen englischen Volkes sie verworfen haben,
gesteht ihr aber, den an ihr gerügten Fehler vermeidend, eine relative Be¬
rechtigung zu. Das asketische und mönchische Element, das sie enthielt, war
kaum zu entbehren, wenn die verwahrlosten Arbeitermassen Ostlondons von
der Bewegung ergriffen werden sollten. Diesen verwahrlosten und verkom¬
menen Menschen, diesen Ärmsten der Armen gegenüber war die Lösung der
Genossenschafter und Gewerkvereinler: Help lbsm to lielp Uiömsvlvss! nicht
zu gebrauchen. Hier mußte mit materieller Hilfe in Almvsenform angefangen,
und der tief unter Lastern verschüttete Funke des Guten dnrch den erschüt¬
ternden Eindruck der Selbstaufopferung geweckt werden. Von Oxford kamen
Männer in diese bis dahin von allen gebildeten Menschen geflohene Gegend,
die ehelos blieben und als wahre Missionare ein elendes, aller irdischen Ge¬
nüsse und aller Bequemlichkeiten der zivilisirten Welt beraubtes Leben führten.


Zum sozialen Frieden

das Christentum der Formen, der Kultusfragen, der Lehrsatze, die Theorie des
Christentums; über die Praxis des Christentums, das Wochentagschristcutum,
gebe es keinen Streit, gerade dieses aber sei die Hauptsache. Die Genossen-
schaften sind Körperschaften, t'i'crwrniwtss, in dem Sinne Carlyles. Sie be¬
weisen ihre christliche und brüderliche Gesinnung n. n. durch den Grundsatz,
es dürfe nicht zu Schleuderpreisen eingekauft werden, die nur durch über¬
mäßige!? Druck auf die Arbeiter möglich werde». Am zahlreichsten sind die
Konsumvereine. Ans ihnen erwachsen häufig Genossenschaften für Häuserbau,
indem so die gewinnbringende Anlage der erzielten Überschüsse sehr schön mit
einer weiter» höchst wichtigen Art der Selbsthilfe verbunden wird. Die Pro-
duktivgenossenschaften sind das Lieblings- aber zugleich auch das Schmerzens¬
kind der Bewegung. Es ist richtig, daß viele Versuche sowohl von Arbeit¬
geber», auf dem Wege der Gewinnbeteiligung dahin zu gelangen, wie von
Arbeitern, solche mit den anderweit erzielten Überschüssen zu gründen, ver¬
unglückt sind. Produktivgenossenschaften der letztern Art Pflegen, wenn sie
geschäftlich gedeihen, gewöhnlich an dem Umstände zu scheitern, daß die zu
Kapitalisten gewordenen Arbeiter selbst nach kapitalistischen Grundsätzen Ver¬
fahren und ihre an der Gründung nicht beteiligten Mitarbeiter von dem Ge¬
winn ausschließen wollen. Aber es geht, wie man aus den vom Verfasser
angeführten Thatsachen sieht, zu weit, wenn vor einiger Zeit viele deutsche
Zeitungen wie auf Verabredung verkündigten, alle derartigen Unternehmungen
ohne Ausnahme seien mißglückt und die Sache sei völlig hoffnungslos.

„Wenn der Kampf gegen den Individualismus — sagt der Verfasser, indem
er zu Pusey und dessen Schule übergeht — das Merkmal des neunzehnten Jahr¬
hunderts ist, so hat unter den sich daraus ergebenden Richtungen nirgends
die reaktionäre gefehlt. Diese erklärt sich aus der Neigung der meisten Menschen,
die relative Berechtigung des Gegners zu verkennen." Der Verfasser verwirft
also die schließlich nach Rom führende pusehitische Bewegung, wie Carlvle und
die Mehrheit des gut Protestnutischen englischen Volkes sie verworfen haben,
gesteht ihr aber, den an ihr gerügten Fehler vermeidend, eine relative Be¬
rechtigung zu. Das asketische und mönchische Element, das sie enthielt, war
kaum zu entbehren, wenn die verwahrlosten Arbeitermassen Ostlondons von
der Bewegung ergriffen werden sollten. Diesen verwahrlosten und verkom¬
menen Menschen, diesen Ärmsten der Armen gegenüber war die Lösung der
Genossenschafter und Gewerkvereinler: Help lbsm to lielp Uiömsvlvss! nicht
zu gebrauchen. Hier mußte mit materieller Hilfe in Almvsenform angefangen,
und der tief unter Lastern verschüttete Funke des Guten dnrch den erschüt¬
ternden Eindruck der Selbstaufopferung geweckt werden. Von Oxford kamen
Männer in diese bis dahin von allen gebildeten Menschen geflohene Gegend,
die ehelos blieben und als wahre Missionare ein elendes, aller irdischen Ge¬
nüsse und aller Bequemlichkeiten der zivilisirten Welt beraubtes Leben führten.


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[0590] Zum sozialen Frieden das Christentum der Formen, der Kultusfragen, der Lehrsatze, die Theorie des Christentums; über die Praxis des Christentums, das Wochentagschristcutum, gebe es keinen Streit, gerade dieses aber sei die Hauptsache. Die Genossen- schaften sind Körperschaften, t'i'crwrniwtss, in dem Sinne Carlyles. Sie be¬ weisen ihre christliche und brüderliche Gesinnung n. n. durch den Grundsatz, es dürfe nicht zu Schleuderpreisen eingekauft werden, die nur durch über¬ mäßige!? Druck auf die Arbeiter möglich werde». Am zahlreichsten sind die Konsumvereine. Ans ihnen erwachsen häufig Genossenschaften für Häuserbau, indem so die gewinnbringende Anlage der erzielten Überschüsse sehr schön mit einer weiter» höchst wichtigen Art der Selbsthilfe verbunden wird. Die Pro- duktivgenossenschaften sind das Lieblings- aber zugleich auch das Schmerzens¬ kind der Bewegung. Es ist richtig, daß viele Versuche sowohl von Arbeit¬ geber», auf dem Wege der Gewinnbeteiligung dahin zu gelangen, wie von Arbeitern, solche mit den anderweit erzielten Überschüssen zu gründen, ver¬ unglückt sind. Produktivgenossenschaften der letztern Art Pflegen, wenn sie geschäftlich gedeihen, gewöhnlich an dem Umstände zu scheitern, daß die zu Kapitalisten gewordenen Arbeiter selbst nach kapitalistischen Grundsätzen Ver¬ fahren und ihre an der Gründung nicht beteiligten Mitarbeiter von dem Ge¬ winn ausschließen wollen. Aber es geht, wie man aus den vom Verfasser angeführten Thatsachen sieht, zu weit, wenn vor einiger Zeit viele deutsche Zeitungen wie auf Verabredung verkündigten, alle derartigen Unternehmungen ohne Ausnahme seien mißglückt und die Sache sei völlig hoffnungslos. „Wenn der Kampf gegen den Individualismus — sagt der Verfasser, indem er zu Pusey und dessen Schule übergeht — das Merkmal des neunzehnten Jahr¬ hunderts ist, so hat unter den sich daraus ergebenden Richtungen nirgends die reaktionäre gefehlt. Diese erklärt sich aus der Neigung der meisten Menschen, die relative Berechtigung des Gegners zu verkennen." Der Verfasser verwirft also die schließlich nach Rom führende pusehitische Bewegung, wie Carlvle und die Mehrheit des gut Protestnutischen englischen Volkes sie verworfen haben, gesteht ihr aber, den an ihr gerügten Fehler vermeidend, eine relative Be¬ rechtigung zu. Das asketische und mönchische Element, das sie enthielt, war kaum zu entbehren, wenn die verwahrlosten Arbeitermassen Ostlondons von der Bewegung ergriffen werden sollten. Diesen verwahrlosten und verkom¬ menen Menschen, diesen Ärmsten der Armen gegenüber war die Lösung der Genossenschafter und Gewerkvereinler: Help lbsm to lielp Uiömsvlvss! nicht zu gebrauchen. Hier mußte mit materieller Hilfe in Almvsenform angefangen, und der tief unter Lastern verschüttete Funke des Guten dnrch den erschüt¬ ternden Eindruck der Selbstaufopferung geweckt werden. Von Oxford kamen Männer in diese bis dahin von allen gebildeten Menschen geflohene Gegend, die ehelos blieben und als wahre Missionare ein elendes, aller irdischen Ge¬ nüsse und aller Bequemlichkeiten der zivilisirten Welt beraubtes Leben führten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/590>, abgerufen am 29.06.2024.